Kolumne: Mein Religionsunterricht

#Andràtuttobene – Alles wird gut!?

Veröffentlicht am 19.06.2020 um 16:52 Uhr – Lesedauer: 

Dresden ‐ "Alles wird gut" – ist das in diesen Tagen nicht eine plumpe Lüge? Mit ihren Schülerinnen und Schülern hat Irmgard Alkemeier diskutiert, wie man auch in der Corona-Krise Hoffnung haben kann und warum das mit dem christlichen Glauben zu tun hat.

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#Andrà tutto bene! Dieser Hashtag verbreitete sich in Italien während der Corona-Krise millionenfach in den sozialen Netzwerken. Ein Trostzuspruch in untröstlicher Zeit, in der Tausende von Menschen sterben, LKWs gefüllt mit Leichen durch die Straßen von Bergamo, London, New York fahren und ein Schreckensszenario verbreiten. Was für ein Kontrast-Slogan zur Realität! Ein Trostwort oder ein Vertröstungsspruch? Wie gehen wir mit diesem Satz und der Corona-Krise im Religionsunterricht um?

Ich behandle das Thema "Trösten und Trost" in der Jahrgangstufe 10 und eröffne damit eine Unterrichtsreihe zum Thema "Schöpfung". In diesem Zusammenhang beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler mit einem Szenario, das Peter L. Berger in seinem Buch "Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz" entwirft:

Ein Kind erwacht aus einem Albtraum. Es ist allein, von nächtlicher Dunkelheit umgeben und fühlt in sich große Angst und Verlassenheit. Die vertrauten Umrisse der Wirklichkeit verschwimmen, Chaos bricht herein. Das Kind weint, schreit nach den Eltern.

Belügen die Eltern ihr Kind oder nicht?

Gemeinsam überlegen die Schüler wie Eltern nun reagieren, um dem Kind die Angst zu nehmen, um es zu beruhigen: Die Eltern machen das Licht an, sie nehmen das Kind in den Arm, singen ihm ein Lied vor, sprechen ihm beruhigend zu: "Alles wird gut! Alles ist in Ordnung!"

Es gibt in der Diskussion meist zwei Sichtweisen:

a) Die Eltern lügen nicht: Aktuell ist für das Kind alles wieder in Ordnung. Sicherheit und Schutz sind wiederhergestellt. Die Eltern vermitteln dem Kind ein Grundvertrauen in diese Welt, geben ihm das Gefühl, dass das Chaos beherrschbar ist und es wieder in Ruhe einschlafen kann. Diese Erfahrung ist wichtig für das weitere Leben des Kindes, schafft Grundvertrauen.

b) Die Eltern lügen: Es ist in dieser Welt nicht alles gut! Diese heile Welt gibt es nicht, denn sie ist voll mit Ungerechtigkeit, mit Krankheit, Bedrohung durch Kriege. Das muss und wird das Kind später erfahren. Da hilft der Spruch der Eltern dann nicht mehr.

Papst Franziskus spendet auf einem menschenleeren Petersplatz den Segen Urbi et Orbi.
Bild: ©picture alliance/Pressebildagentur ULMER

Auch dem Papst geht es um Hoffnung in dieser Zeit: Bei einer besonderen Feier auf den Stufen des Petersdoms rief Franziskus die Hilfe Gottes in der Notlage und seinen Trost für Kranke und Sterbende an. Abschließend erteilte er den Segen "Urbi et orbi".

Innerhalb dieser beiden Positionen verbleibt erfahrungsgemäß die Diskussion. Doch jetzt wird es im Religionsunterricht spannend, denn der Blick der Lernenden soll erweitert werden. Im Sinne einer "Plus-Eins-Intervention" werden die Lernenden mit einer dritten Position von P.L. Berger konfrontiert: Auch vor dem Hintergrund von Leid und Tod: Die Eltern lügen nicht!

Wenn die Eltern auf etwas hoffen, das größer ist als diese Welt, wenn sie eine Hoffnung auf Gott haben, der auch das Chaos letztlich wieder in eine sinnvolle Ordnung bringen kann, wenn sie eine Hoffnung haben, die größer ist als die Wirklichkeit der immanenten Welt, dann können sie ehrlich sagen: "Wir belügen unser Kind nicht, wenn wir tröstend sagen: 'Alles wird gut'." Eltern, die glauben, dass es mehr gibt als das jetzige Leben, die erfüllt sind von einer eschatologischen Hoffnung, die können sagen "Alles wird gut!", auch wenn jetzt innerweltlich noch nicht alles gut ist. Oscar Wilde wird der Spruch zugeschrieben: "Am Ende wird alles gut! Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende."

Diese Position führt oft zu einem intensiven Austausch und zur Klärung der eigenen Position in der Lerngruppe. Die einen stimmen vorsichtig zu, vielen heutigen Schülern ist diese Hoffnungsperspektive aber fremd, sie empfinden sie als billige Vertröstung.

Was der Unterricht nicht vermitteln kann, können konkrete Fälle aus dem Krisenalltag

Religionslehrer wissen und erfahren immer wieder: Trost und Glaube sind auch durch den besten Religionsunterricht nicht machbar. Aber der Unterricht zeigt den Lernenden eine Dimension auf, in die sie eventuell in ihrem Leben hineinwachsen können. Oftmals arbeitet man im Religionsunterricht auch mit dem biografischen Ansatz, um Schülern zu verdeutlichen, dass es Menschen gibt, die dieses Vertrauen in Gott mit aller Konsequenz leben. Da ist aktuell der Fall des 72-jährigen Priesters Guiseppe Bardelli. Er überließ sein Beatmungsgerät einem anderen Patienten, weil es nicht genug Sauerstoffgeräte für alle Coronakranken gab. Kurz darauf verstarb er. Andrà tutto bene?

Durch die Konfrontation mit solchen Fällen und in Auseinandersetzung mit theologischen Positionen soll der Religionsunterricht aus dem selbstverständlichen Alltagsdenken herausführen und den Schülern neue Horizonte eröffnen. Er will im wahrsten Sinne des Wortes "Den Himmel offenhalten!" und die Frage "Worauf hoffen wir?" immer wieder thematisieren. Tobias Haberl schrieb in der Beilage zur Süddeutschen Zeitung "Alles wird gut!": Reinen Gewissens "kann das eigentlich nur behaupten, wer an Erlösung und Auferstehung glaubt". An dieser These können sich die Schüler abarbeiten, viele empfinden sie sicher als Provokation. Doch von dieser Konfrontation lebt meiner Meinung nach der Religionsunterricht.

Pflegekräfte auf der Corona-Station
Bild: ©picture alliance

Pflegekräfte mit Masken und Schutzkleidung bei der Arbeit auf der Corona-Station im Athener ATTIKO Krankenhaus.

Ich verknüpfe die Trostthematik mit der Schöpfungserzählung. Die Schüler erfahren, dass sich die Verfasser der Schöpfungserzählung (Gen 1,1ff.) in einer existenzbedrohenden Situation, in einer tiefen Krise befanden: Der Tempel in Jerusalem, ihr höchstes Heiligtum, war zerstört worden, die politische, geistliche und wirtschaftliche Elite wurde deportiert und lebte nun im Exil in Babylon. Das Bild vom unbesiegbaren Gott JHWH brach zusammen. Verzweiflung sowie Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit machten sich breit. Zudem drohte die eigene religiöse Identität angesichts der übermächtigen babylonischen Götter zu zerbrechen.

Genau in dieser Situation geschieht das Erstaunliche: Es wird ein Hoffnungstext verfasst mit einem Glaubensbekenntnis zu JHWH als Schöpfer alles Seienden. Dies geschieht in kraftvollen Bildern: Ein Gott, der das Tohuwabohu, das Chaos, ordnet, der Licht in die Welt bringt. Es entsteht ein Text, der einem Gesang, einem Hymnus gleicht und in dem immer wieder, fast meditativ, wiederholt wird: Und Gott sah, dass es gut war! Andrà tutto bene!

In der Krise gibt es keine Gewissheiten – aber Hoffnung

Bedarf es da noch einer Korrelation? Covid-19 ist eine Konfrontation mit unserer eigenen Machtlosigkeit. Menschen erleben Chaos im Privatleben, in der Wirtschaft, in der Politik. Die vertrauten Ordnungen werden durcheinandergeworfen. Manche sprechen von einer langen Nacht, die die Menschen orientierungslos durchleben. Viele alte Gewissheiten, Sicherheiten brechen weg. Das erfahren auch die Schüler.

Jede Tiefenkrise hinterlässt ein Narrativ, das zurückweist, aber vor allem weit in die Zukunft vorausweist und Trost vermitteln will. Die Schöpfungserzählung ist das Narrativ, das aus der Exilserfahrung erwachsen ist und einen unerschütterlichen Glauben, ein Grundvertrauen in JHWH als den "Herrn über alles Chaos" offenbart. Der Sabbat als "Tag der Ruhe" entstand in der Zeit ebenso wie die Synagoge als Ort der Versammlung, des gemeinschaftlichen Gebets, der Glaubensfestigung und -vergewisserung.

Und was ist das Narrativ der jetzigen Krise? Es sind meines Erachtens die musizierenden Italiener auf den Balkonen, die sich "Andrà tutto bene!" zurufen, die es in den sozialen Netzwerken posten und auf regenbogenfarbene Flaggen schreiben, die sie in ihre Fenster hängen. Diese erschütternde Krise ermöglicht einen anderen Blick auf unser Dasein. Die Entschleunigung führt bei manchem zu einer verstärkten, kritischen Reflexion über unsere rastlose Gesellschaft. Die meisten Menschen erleben bewusst, dass Gemeinschaft und Begegnung ein hohes Gut und ein echter Schatz sind.

Andrà tutto bene! Eine Lüge angesichts von Hunderttausenden von Toten und Schwerkranken? Eine Vertröstung? Ein Trost? Wie sehen das unsere Schüler jetzt? Es lohnt sich mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen! Und wie schön, dass wir dafür im Religionsunterricht Zeit haben!

Von Irmgard Alkemeier

Die Autorin

Irmgard Alkemeier unterrichtet die Fächer Katholische Religionslehre, Biologie, Geographie und Mathematik am Maria-Sibylla-Merian-Gymnasium in Telgte. Sie arbeitet außerdem als Fachleiterin für Katholische Religionslehre und als Coach/Kernseminarleiterin am Zentrum für Lehrerausbildung in Münster. Seit 2016 ist sie Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes der katholischen Religionslehrerinnen und -lehrer (BKRG).

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