Kolumne: Römische Notizen

Mit dem Papst als Vermieter: Wohnen mit Blick auf den Petersdom

Veröffentlicht am 01.07.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Unsere Kolumnistin Gudrun Sailer lebt mit ihrer Familie in einem Mietshaus gegenüber dem Vatikan, das ihrem Chef gehört, dem Papst. Dieses Arrangement hat Vorteile, Nachteile und Eigenheiten: Sie alle scheinen sich im Zugang zur Dachterrasse zu überschneiden.

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Als ich zum ersten Mal oben war, es wird bald nach unserem Einzug gewesen sein, musste ich schon etwas Luft holen. Ich meine, das Wörtchen "atemberaubend" ist ja schnell hingetippt, auch hat es seine glanzvollen Auftritte gern in bezahlten Einschaltungen, weshalb unsereins im medialen Gewerbe das Adjektiv nach Kräften meidet. Hier nicht. Hier trifft "atemberaubend" zu.

Unsere Dachterrasse liegt vis à vis der Südflanke des Petersdoms. Man sieht, wenn man hier steht, die Kuppel, riesig, unverstellt und umgeben von viel Himmel. Hat das Hirn dieses Bild ein wenig verarbeitet, dann sieht man auch die Casa Santa Marta, wo mein Chef, Nachbar und Vermieter, Pontifex Maximus Franziskus, lebt. Man sieht die Solarpanels auf dem geschwungenen Dach der Audienzhalle und ein Stück Vatikanhügel mit allerlei Gebäuden, majestätischen Bäumen und einem Festungsturm, auf dem eine nur noch rudimentäre Antenne funkt - Radio Vatikan, was sonst. Aber was den Atem verschlägt, ist klar das tête-à-tête mit der Kuppel des Petersdoms. In gerader Linie darunter liegt das Grab des Apostels Petrus.

Ein "Palazzo" ist kein "Palast"

Die Dachterrasse mit Panorama ist selbst komplett kahl. Sie gehört zu dem Palazzo, in dem wir zur Miete wohnen, wobei "Palazzo" mit "Palast" falsch übersetzt wäre. "Palazzo" meint ein größeres Wohnhaus mit mehreren Stockwerken und Wohnungen. Hier fängt der Haken an: Unsere Dachterrasse ist natürlich nicht unsere, sie ist eine allen Mietern und Mieterinnen zugängliche Gemeinschaftsfläche. Dagegen würde niemand Einwände erheben, wäre da nicht ein Geflecht ungeschriebener Gesetze, das den Zugang zur Dachterrasse eigentlich verbietet - allerdings den einen mehr als den anderen.

Hausparteien wie wir hätten eigentlich gar nichts auf dem Flachdach unseres Palazzo zu suchen, außer zum Aufhängen und Abnehmen von Wäsche, woran einige Drahtseile erinnern, die sich dort sichtlich seit Baujahr 1930 spannen und den Kuppelblick zerschneiden. Um die Terrasse korrekt zu nutzen, müssten wir nach jedem Waschgang insgesamt viermal zum Portier, Signor Massimo, runter und wieder rauf, um den Schlüssel zu holen oder ihn zurückzubringen. Dumm nur, wenn man zur Siestazeit, am Abend oder gar am Wochenende wäscht, dann ist die Portiersloge nämlich verwaist, und seufzend hängt man die Sachen auf der Leine vor dem Fenster auf, wo einem garantiert immer ein Teil runterfällt, das man dann erst morgen auflesen kann, weil auch der Schlüssel zum Hof in Signor Massimos geschlossener Portierloge sicher verwahrt ist.

Ein mehrstöckiges Haus.
Bild: ©Gabriele Höfling/katholisch.de

Das Gästehaus Santa Marta im Vatikan. Hier wohnt auch Papst Franziskus.

Sie haben Verständnis dafür, dass wir den Terrassenschlüssel beim dritten Waschgang in der neuen Wohnung frech an Signor Massimo vorbei aus dem Palazzo schmuggelten und nachmachen ließen? Schön, dass Sie uns da den Rücken stärken. Ihr Gerechtigkeitssinn ist gleich geeicht wie unserer. Die anderen nämlich haben auch alle ihre privaten Terrassenschlüssel, sie haben sie bloß nicht erschlichen wie wir, sie haben sie ersessen. In Vatikan-Palazzi wohnen Familienverbände auf Jahrzehnte, da vererbt man Schlüssel, Nutzungsrechte und Privilegien, auf die Neuzugänge in den ersten paar Jahren ihres Mieterdaseins nicht mal kommen.

Was man nicht alles machen könnte aus diesem Flachdach mit erhebendem Panorama! Schon klar, niemand in einem Vatikan-Palazzo will Kinderfeste oder laute Parties bis in die Puppen aktiv oder gar passiv miterleben, wo kämen wir da hin. Aber ein paar Kübelpflanzen, zwei Lounge-Sofas unter Segeldach, ein gepflegter Tratsch unter Nachbarn bei einem Aperol und wer weiß, in der hinteren Ecke ein bisschen urban gardening, Hochbeet, zwei Bienenstöcke… Aber nein. Unsere Terrasse bleibt leer und absichtlich unbelebt. Sicherheitsgründe, heißt es.

Dachterrasse aus Sicherheitsgründen gesperrt

Sicherheitsgründe, die nicht uns gelten, sondern ihm. Es geht nicht um das etwas niedrige Geländer, das ließe sich ja durch ein höheres ersetzen. Es geht um den Papst, der gegenüber residiert. Um seine physische Unversehrtheit. Nun sind wir alle Vatikan-Angestellte oder zumindest Anempfohlene, die in diesen Palazzi 100 Meter Luftlinie von Santa Marta wohnen. Deshalb würde die Zutrittspolitik zur Dachterrase schon fast den Schluss erlauben, dass an maßgeblicher Stelle im Vatikan offenbar kein unbegrenztes Vertrauen in die Zurechnungsfähigkeit des eigenen Personals und seiner Familienangehörigen besteht. Die angeblich geringe Popularität von Papst Franziskus bei seinen Angestellten kann hier keine Rolle spielen, wie an dieser Stelle unterstrichen sei, denn unser Flachdach war auch unter früheren Päpsten nie anders als ratzekahl und tabu. Natürlich können wir uns, was bleibt auch anderes übrig, in die Nöte vatikanischer Sicherheitschefs hineindenken. Ein Terrorist und Scharfschütze, der unseren Palazzo stürmt, sechs Stockwerke hochrennt und die Terrassentür sprengt, um Richtung Santa Marta zu feuern, das mag man sich nicht ausmalen. Aber deshalb auch mit den harmlosesten Absichten gar nicht erst raufgehen? Kuppelblick einfach Kuppelblick sein lassen?

Während der Corona-Ausgangssperre in Rom flackerte auf unserer Dachterrasse ein Flämmchen des Widerstands auf. Einmal sah man einen jungen Mann, der Sport mit Hanteln trieb. Ein anderes Mal sonnte sich im Angesicht der Kuppel eine Mutter, ihr Kind hatte Spaß mit Rollschuhen. Sogar ein Federball flog hin und her. Nur Signor Massimo hat sich nicht amüsiert.

Inzwischen ist der Lockdown Geschichte und auf unserem Dach sonnen sich nur noch Möwen. Wer weiß, vielleicht ist die Gemeinschaftsterrasse, auf der man gemeinschaftlich nicht sein darf, genau deshalb so anziehend, weil sie halbverboten ist, weil man sich, wenn man keinen Alibi-Waschtrog mitführen mag, immer nur verstohlen hinaufschleicht, sich mit dem Kuppelblick vollsaugt und wieder geht.

Von Gudrun Sailer

Kolumne "Römische Notizen"

In der Kolumne "Römische Notizen" berichtet die "Vatikan News"-Redakteurin Gudrun Sailer aus ihrem Alltag in Rom und dem Vatikan.