Missbrauch in der Kirche Polens: Ein lange aufgeschobenes Thema
2010 sorgte das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg dafür, dass der Missbrauch in der katholischen Kirche zum großen Thema wurde. Mit Veröffentlichung der MHG-Studie 2018 konnten erstmals Zahlen genannt werden, selbst wenn es eine deutlich höhere Dunkelziffer geben dürfte. Klerikaler Missbrauch ist nicht nur in Deutschland ein Thema. Auch die Kirche unseres Nachbarlandes Polen beschäftigen viele Fälle des sexuellen Missbrauchs – so richtig ins Rollen kam der Stein aber erst vor einem Jahr. Es sollten Filme sein, die ein Umdenken in dem so katholischen Land anstießen – und sogar zu einem großen Konflikt innerhalb des Episkopats führten.
Des Problems bewusst war man sich in dem slawischen Land bereits seit Jahren. Erste Fälle brachte Anfang der 2000er Jahre die Laienpresse, also Medien außerhalb der Kirche, ans Licht, wohlgemerkt noch während des Pontifikats des polnischen Papstes Johannes Paul II. (1978-2005). Damals sorgte der berühmte Fall des Pfarrers von Tylawa, einem Dorf im Süden des Landes, für Aufsehen. Der Geistliche soll mindestens sechs Mädchen missbraucht haben, wurde jedoch nur zu seiner Bewährungsstrafe verurteilt – einer der wenigen Fälle, in denen es überhaupt zu einer Verurteilung kam. Auch um den "Solidarnosc"-Priester Henryk Jankowski wurden Missbrauchsvorwürfe publik, 2018 kamen weitere Anschuldigungen dazu. Der Geistliche ist 2010 gestorben, was eine Untersuchung nun erschwert, da er sich nicht mehr selbst zu Wort melden kann. "Der Großteil der Bischöfe hielt den Missbrauch nur für eine Randerscheinung", sagt der in Polen geborene Journalist und Theologe Tomasz Kycia. "Sie dachten, die Laienpresse wollte der Kirche etwas aufbinden, was sie eigentlich gar nicht betrifft."
Es tut sich etwas
Eine große Debatte löste Ende 2018 der Spielfilm "Kler" (Klerus) des Regisseurs Wojciech Smarzowski aus, in dem es um drei befreundete Priester geht: Der erste wird von Machtgier getrieben und tut alles dafür, um in den Vatikan aufzusteigen; der zweite verfällt dem Alkohol und fängt eine Beziehung mit seiner Haushälterin an; der dritte wird des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Wohlgemerkt handelt es sich um eine teils überspitzte und fiktive Darstellung. Dennoch: "'Kler' ist einer von vielen Mosaiksteinen", sagt Kycia.
Im März 2019 stellte die Polnische Bischofskonferenz genauere Angaben zum Ausmaß sexualisierter Gewalt von Geistlichen gegen Minderjährige vor: Demnach haben 382 Priester und Ordensmänner 625 Minderjährige sexuell missbraucht, 345 von ihnen seien unter 15 Jahren alt gewesen. Die Zahlen stammen aus kirchlichen Akten, die von 1990 bis 2018 angelegt wurden. Sie umfassten Anzeigen zu Fällen, die bis ins Jahr 1950 zurückgehen. Abgefragt hatte die Bischofskonferenz sie bei den Diözesen und Ordensgemeinschaften. Das kirchliche Statistikinstitut und das von der Krakauer Jesuitenuniversität "Ignatianum" gegründete Kinderschutzzentrum bereiteten diese Zahlen auf.
"Es wurde eine Institution untersucht mit den Mitteln derselben Institution. Eigentlich geht so etwas nicht. Das sollten schon externe Stellen übernehmen", sagt Kycia. Der Journalist glaubt, dass die Zahlen vor allem aufgrund des Drucks in der Öffentlichkeit öffentlich gemacht wurden. Dass eine Mogelpackung dahintersteckt, schließt er jedoch aus. "Diese Zahlen lügen nicht – soweit würde ich nicht gehen." Man müsse sich vor allem darüber im Klaren sein, dass unklare oder unbearbeitete Fälle nicht mit aufgenommen wurden – ebenso wie jene Fälle, die nicht gemeldet wurden. Hinzu komme, dass die Polnische Bischofskonferenz – im Gegensatz zu ihren deutschen Amtsbrüdern – insbesondere die jüngere Vergangenheit untersucht hat. "Priester oder Opfer aus den 60er Jahren leben oft nicht mehr. Da bewertet man ihre Akten anders. Hingegen könnten noch tätige Geistliche zum Beispiel von anderen Priestern gedeckt werden", so Kycia.
Missbrauchs-Dokumentationen behandeln wahre Fälle
Den wirklichen "Dammbruch" brachten die Dokumentationen der Brüder Tomasz und Marek Sekielski, die wahre Fälle behandeln. Per Crowdfunding kam das Geld dafür zusammen. Im Mai 2019 wurde der erste Teil auf YouTube veröffentlicht, "Tylko nie mow nikomu" ("Sag es nur niemandem"). Der 121-minütigen Film thematisiert konkrete Fälle sexueller Gewalt an Minderjährigen durch Priester. Teils mit versteckter Kamera werden sie konfrontiert. Auch eine mittlerweile erwachsene Frau stellt den Priester zur Rede, der sie in ihrer Kindheit missbraucht hat. Mittlerweile hat der Film nahezu 24 Millionen Aufrufe. Das Vertrauen in die Kirche sank: Etwas mehr als die Hälfte der Polen war einer Umfrage zufolge für den Rücktritt der Bischöfe. Trotzdem ebbte die Debatte nach einiger Zeit etwas ab.
Doch ein Jahr später sollte sie mit voller Wucht zurückkehren.
Denn die zweite Dokumentation der Sekielski-Brüder benennt konkret ein Mitglied des Episkopats: Edward Janiak, seit 2012 Bischof im Bistum Kalisz (Kalisch). In "Zabawa w chowanego" ("Versteckspiel") erzählen unter anderem zwei Brüder davon, wie ein Priester sie als Kinder in den 1990er Jahren in dieser Diözese sexuell missbrauchte. Janiak wusste von dem Missbrauch: Im Film ist auch ein 2016 heimlich aufgenommenes Gespräch der Eltern eines anderen Opfers desselben Priesters mit dem Bischof zu hören. Janiak behandelt sie schroff und leugnet, irgendetwas davon gewusst zu haben. Danach rief er den Priester, der weiterhin tätig war, zwar von seiner Pfarrei ab, leitete jedoch kein kanonisches Verfahren ein. Weitere Fälle, in denen Janiak ähnlich handelte, schließen sich an. Den genannten Priester meldete er schließlich bei Veröffentlichung des Films, "was natürlich zu spät war, da ihm diese Fälle mittlerweile seit 15 Jahren bekannt waren", sagt Kycia.
Ein skurriler Brief mit Verschwörungstheorien
Unmittelbar nach Veröffentlichung des Films meldete Polens Primas und Erzbischof von Gnesen Wojciech Polak, der zugleich Kinderschutzbeauftragter der Polnischen Bischofskonferenz ist, die Vorwürfe an Janiak der Glaubenskongregation des Vatikans.
Janiak ließ das nicht auf sich sitzen. Die Anschuldigungen, den Missbrauch nicht gemeldet zu haben, wies er zurück. Mehr noch: Er behauptet unter anderem, die Wahl Polaks zum Kinderschutzbeauftragten sei nicht ordnungsgemäß gewesen. Das schrieb er in einem Brief an alle Oberhirten der Polnischen Bischofskonferenz – mit Ausnahme von Polak selbst. Eine Zeitung machte den Brief öffentlich. Für Kycia war das Schreiben ein Versuch Janiaks, seine Amtsbrüder auf seine Seite zu ziehen. "Er verbreitet Verschwörungstheorien. Das ist im Zusammenhang mit dem Missbrauch besonders fatal. Damit diskreditiert er nicht nur sich selbst, sondern die ganze polnische Bischofskonferenz."
Gleichzeitig bedauert der Journalist, dass die meisten polnischen Bischöfe sich nach dem Brief nicht deutlich positionierten. Der Generalsekretär der Polnischen Bischofskonferenz, der Lubliner Weihbischof Artur Miziński, meldete sich zur Wahl Polaks zu Wort und stellte klar, diese sei ordnungsmäßig verlaufen. Selbst Bischöfe, die sonst offensiv mit dem Thema Missbrauch umgehen, schweigen. Kycia hält das für "einen großen Fehler. Das ist die falsche Taktik, weil es um die Wahrheit und um die Opfer geht. Für sie ist es wie ein höhnisches Lachen direkt ins Gesicht." Mittlerweile beurlaubte Papst Franziskus Bischof Janiak. Der Erzbischof von Lodz, Grzegorz Rys, erhielt als Apostolischer Administrator "sede plena" sämtliche Vollmachten zur Leitung des Bistums Kalisz. Die Untersuchungen laufen weiter. Währenddessen darf Janiak sich nicht in der Diözese aufhalten.
Umstrittene Medien
Zwar beobachtet der Theologe, dass sämtliche Medien von konservativ bis liberal dazu aufrufen, in Sachen Missbrauch in der katholischen Kirche zu handeln, dennoch ist das Land gespalten. Grund ist ein politischer Bruch zwischen denjenigen, die klar hinter der nationalkonservativen und rechtspopulistischen "PiS"-Partei stehen und denen, die sie ablehnen.
Das macht sich auch in der Kirche unter Anhängern und Gegnern der "PiS" bemerkbar, insbesondere im katholischen Medienpool rund um den Ordenspriester Tadeusz Rydzyk, zu dem unter anderem der Fernsehsender "TV Trwam", "Radio Maryja" und die Tageszeitung "Nasz dziennik" gehören – allesamt mit großer Anhängerschaft unter den Katholiken Polens. Unter anderem "TV Trwam" und "Radio Maryja" werfen Kritiker vor, zu Gunsten der "PiS" zu berichten. Rydzyk selbst wird vorgeworfen, Nationalismus und katholischen Traditionalismus zu verbreiten. Auch mit antisemitischen Aussagen sorgte er für Aufsehen. So behaupten "seine" Medien nach wie vor, Pädophilie sei in der katholischen Kirche nur eine Randerscheinung, müsse nicht offensiv angegangen werden und sei ein Instrument der Post-Kommunisten. "In der Zeit des Kommunismus versuchte man tatsächlich, die Kirche auszuspielen. Doch das ist 30 Jahre her; Kirche und Gesellschaft haben sich verändert", sagt Kycia. "Das Thema Pädophilie wird ja gerade angesprochen, um die Kirche gesund zu machen."
Politisch sei nicht genau definierbar, wer sich für oder gegen eine Aufarbeitung des Missbrauchs einsetzt. Die politisch erzkonservative Seite sehe dem aber eher misstrauisch entgegen, beobachtet Kycia. Zwar verkündete die amtierende Regierung der "PiS", etwas gegen Missbrauch zu tun, hält sich im Zuge des andauernden Wahlkampfes für die Präsidentschaftswahlen jedoch zurück. Amtsinhaber Andrej Duda sicherte sich Ende Juni die meisten Stimmen, muss in einer Stichwahl jedoch gegen den Liberalen Rafal Trzaskowski antreten.
Linktipp: Kirche im östlichen Mitteleuropa: Zwischen Aufbruch und Stagnation
Beim Zerfall der kommunistischen Diktaturen Ostmitteleuropas vor 30 Jahren spielte die katholische Kirche eine wichtige Rolle. Was ist aus der Euphorie von damals geworden? Katholisch.de hat die Situation der Kirche in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn genauer unter die Lupe genommen.Durch die Geschichte rund um Bischof Janiak würden Initiativen, die sich gegen den klerikalen Missbrauch einsetzen, in den Schatten gestellt, bedauert Kycia. Ein Beispiel ist die Initiative "Zranieni w Kościele" ("Verwundete in der Kirche"), vor etwa einem Jahr gegründet von einer Laienorganisation, einer Vereinigung rund um die Zeitschrift "Wiez" und einer Stiftung für psychologische Hilfe. Telefonisch können Missbrauchsbetroffene sich an die Initiative wenden und konkret Missbrauchsfälle melden. Entsprechende Plakate hängen in vielen Kirchen, auch wenn "Radio Maryja" anfangs Stimmung dagegen gemacht hatte. Der Sender befürchtete einen pauschalen Pädophilie-Vorwurf gegen Priester. Eine weitere Initiativ ist das "Centrum Ochrony Dziecka", das Kinderschutzzentrum der Krakauer Jesuitenuniversität Ignatianum. Geleitet wird das Zentrum von Pater Adam Zak, der zugleich Koordinator für Kinder- und Jugendschutz bei der Polnischen Bischofskonferenz ist. Zuletzt gibt es die ebenfalls vor etwa einem Jahr gegründete "Sankt-Josef-Stiftung", die etwa Kosten für Therapien oder Anwälte übernimmt.
Die Diskussion um die Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche ist in Polen also in vollem Gange. "Ich glaube, wir sind an einem Punkt angekommen, wo es endlich mal mehr Bewegung gibt. Wir dürfen hoffen, dass sich etwas tut", sagt Kycia. Auch die Bischofskonferenz müsse weiter handeln, denn mit der Studie sei es nicht getan. Der Journalist berichtet davon, dass es schon erste Vorbereitungen gibt. "Das ist ein lebender Organismus, der sich täglich entwickelt." Besonders die jüngere Generation der Bischöfe habe verstanden, dass gehandelt werden muss. Ungewiss ist, wie es mit dem beurlaubten Bischof Janiak weitergeht. Viele Stimmen fordern, er müsse des Amtes enthoben werden. Es bleibt abzuwarten, ob der Papst ihn sogar zum Rücktriff auffordert. Zurück in die Zeit vor den Sekielki-Filmen geht es jedenfalls nicht. "Das ist eingeschlagen wie eine Bombe 2010 in Deutschland mit dem Canisius-Kolleg in Berlin." Kycia erwartet noch einiges: "Wir sind mittendrin in diesem Orkan. Und da wird sicherlich noch einiges passieren."