Karriere eines vielschichtigen Schlagworts

Neuevangelisierung – Ein Begriff, der polarisiert

Veröffentlicht am 04.08.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Schon seit Jahrzehnten reden Päpste und Bischöfe von der "Neuevangelisierung". Durch sie soll die manchmal etwas eingeschlafene Kirche etwa in Europa neuen Schwung im Glauben bekommen. Doch der ebenso schillernde wie umstrittene Begriff hat unterschiedliche Facetten.

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Immer, wenn der innerkirchliche Konflikt über den richtigen Kurs für die Zukunft aufbrandet, fällt mit großer Wahrscheinlichkeit dieser Begriff: "Neuevangelisierung" – in der Regel verbunden mit dem Vorwurf, dass diesem Auftrag zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ob Aktivisten oder Päpste: Benutzt haben diesen Begriff alle gern, ihn erklärt aber nur die wenigsten.

In der Bibel beschreibt Jesus einen Auftrag an die Christen zur Mission: "Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!" (Mk 16,15) Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) fasst diese Sendung erstmals unter dem Stichwort "Evangelisierung" zusammen, also der "Verkündigung der Botschaft Christi durch das Zeugnis des Lebens und das Wort", heißt es in der Dogmatischen Konstitution "Lumen gentium" aus dem Jahr 1964 (LG 35) – als Aufgabe für Kleriker wie Laien. Sie zielt vor allem auf Menschen, die vom christlichen Glauben bisher noch nicht gehört haben. Im apostolischen Schreiben "Evangelii nuntiandi" nennt Papst Paul VI. sie 1975 die "Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität" (Nr. 14).

Papst Johannes Paul II. fasst bei einer Predigt 1979 unter der Überschrift "Neuevangelisierung" dann eine andere Zielgruppe ins Auge. Die Neuevangelisierung soll sich an Menschen etwa in Mitteleuropa richten, die zwar in einer christlich geprägten Region leben, sich aber vom Glauben entfernt haben. In seiner Schrift "Christifideles laici" (1988) macht der Papst "die fortschreitende Verbreitung des Indifferentismus, Säkularismus und Atheismus" dafür verantwortlich, dass Christen in Europa mehr und mehr leben würden, "als wenn es Gott nicht gäbe" (Nr. 34). Diese Linie führt sein Nachfolger Benedikt XVI. fort, indem er etwa beim Weltjugendtag 2012 die Jugendlichen aufruft, "begeisterte Missionare der Neuevangelisierung" zu werden. 2010 richtet er mit dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Neuevangelisierung sogar eine eigene Institution ein. Der heutige Papst Franziskus unterstreicht dann unter anderem im apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" (2013), dass ihm eine "missionarische Umgestaltung der Kirche" vorschwebt.

Ausführungen oft allgemein

Wenn es um die konkrete Ausgestaltung dieser Neuevangelisierung geht, haben sich die Päpste bisher eher bedeckt gehalten, ihre Ausführungen bleiben oft allgemein. Nichtsdestoweniger bilden sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ganz unterschiedliche Bewegungen mit ebenso verschiedenen praktischen Ansätzen, die ihre Aktivitäten alle unter die Überschrift Neuevangelisierung stellen.

Dazu gehören auch neue Gottesdienstansätze, die sich an besondere Zielgruppen richten – etwa Jugendgottesdienste oder Thomasmessen für Zweifelnde. Verbände tragen den Glauben ganz niederschwellig in die Gesellschaft, karitative Netzwerke tun dies mit tatkräftiger Alltagshilfe. Zusätzlich verstehen sich Jugendzentren, Schulen und Krankenhäuser als Einrichtungen zur Glaubensweitergabe. Der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann nennt sie Kirchorte, in denen die Beziehung zur christlichen Botschaft entstehen könne. Wie genau die pastorale Ausgestaltung dieser "Kirchorte" aussehen soll, ist aber vielerorts unklar und Gegenstand von Diskussionen.

 Eucharistische Anbetung
Bild: ©Corinne Simon/CIRIC/KNA

Eucharistische Anbetung sehen manche als Ansatz für die Neuevangelisierung.

Wieder andere Gruppen verfolgen ein auf Glaubenswissen und fromme Innerlichkeit zielendes Konzept. Dazu gehören einige Neue Geistliche Gemeinschaften, die nach dem Konzil und dessen Betonung des Sendungsauftrags an die Laien entstehen. Hier spielen etwa die Eucharistische Anbetung oder Gebetskreise eine Rolle. Angebote wie "Nightfever" wollen mit nächtlich illuminierten Kirchen gezielt Fernstehende anziehen. In eine ähnliche Richtung wendet sich das Institut für Neuevangelisierung im Bistum Augsburg.

Unterschiedliche Ansätze in der Praxis

Im Bemühen um eine zeitgemäße Weitergabe der Frohen Botschaft ist also eine große Vielfalt an Angeboten und Zugängen entstanden. Doch mit der Zeit sind der Begriff und das Konzept der Neuevangelisierung in die Kritik gekommen. Das hat mit dessen Rezeption zu tun. Anfangs war "Neuevangelisierung" eine neue Fokussierung: Neben der Mission, die sich an Nichtchristen richtet und der Katechese, die das Wissen bereits Glaubender vertiefen will, wandte sich die Neuevangelisierung an von der Kirche entfernte Christen – "also eine Gruppe, die es eigentlich gar nicht geben dürfte", sagt der Bochumer Neutestamentler Thomas Söding. "Das ist als selbstkritische Problemanalyse interessant." Söding kritisiert aber: Der Begriff habe seine Fokussierung verloren und sei zu oft ideologisiert worden.

Das lässt sich symptomatisch an der Gesellschaftsanalyse und Stoßrichtung der Neuevangelisierung erkennen: Zum einen spicken deren Vertreter ihre Argumentation gerne mit kulturkämpferischen Begriffen. Vom Säkularismus ist die Rede, der die Kirche aus der Gesellschaft zurückdrängen wolle, gleiches gilt für den Modernismus und den immer wieder gern verteufelten Zeitgeist. Gegen beides müsse sich die Kirche durch die Neuevangelisierung wehren.

Deshalb wird die Neuevangelisierung oft und gern gegen Forderungen nach Strukturreformen in der Kirche vorgebracht, denn diese seien ja gerade Sinnbilder von Modernismus und Zeitgeist. Ein lebhaftes Beispiel dafür bilden die Debatten um den Synodalen Weg. Die konservative Initiative Maria 1.0 forderte: "Lasst uns dem Synodalen Weg eine Richtung geben: Bekehrung unserer selbst und neue Ausrichtung auf Gott und Neuevangelisierung sind die Ziele, die jetzt anstehen." Weniger Struktur, mehr Glaube ist hier die Devise.

"Gesellschaft ist durch die Schule der Selbstkritik gegangen"

Grundannahme wie Schlussfolgerung dieses Verständnisses von Neuevangelisierung dürfen bezweifelt werden. Denn im Gegensatz zu anderen Ländern wie beispielsweise Frankreich gibt es in Deutschland keine nennenswerten antiklerikalen Gruppen, die gezielt der Kirche schaden wollen. Vielmehr geht es um eine besondere Disposition, sagt Anton Knuth, Studienleiter der Missionsakademie Hamburg, die an die dortige Universität angeschlossen ist. "Unsere säkulare Gesellschaft ist durch die Schule der Selbstkritik gegangen." Seit René Descartes und seiner Betonung des Zweifels hat in einer durch die naturwissenschaftliche Methodik geprägten Denkweise die Allgegenwart der Ungewissheit einen festen Platz im Bewusstsein. Durch die Erfahrung des Totalitarismus werden Machtansprüche einzelner Gruppen grundsätzlich kritisiert und angefragt. Außerdem hat etwa durch den postkolonialen Diskurs die Erkenntnis an Raum gewonnen, dass es keine Hegemonie einzelner Gruppen geben sollte, sondern Gesellschaft an sich immer plural ist. Jeder Machtanspruch muss sich hinterfragen lassen – auch der der Kirche. Sie muss erklären, was sie will, etwa mit Überschriften wie der Neuevangelisierung. "Eine Unschuld der Begriffe gibt es nicht mehr", so Knuth.

Bild: ©picture-alliance/akg-images/Cameraphoto

Die Apostel Paulus (links) und Petrus (rechts) gingen ganz bewusst in den Austausch mit den Menschen ihrer Zeit.

Noch im 19. Jahrhundert reagierte die katholische Kirche auf Anfragen der Aufklärung mit einer konsequenten Abschottungspolitik. Durch Modernisteneid und das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma setzte sie sich der Welt als antimoderner Monolith entgegen. Kritiker werfen konservativen Verfechtern der Neuevangelisierung vor, zu diesem Selbstbild zurückzuwollen. Ein Erfolgskonzept sieht Söding dagegen im frühen Christentum. Dieses sei erfolgreich gewesen, weil es sich mit unterschiedlichen Denk- und Glaubenstraditionen etwa von Juden und Griechen auseinandergesetzt habe. Die Apostel setzten den Menschen keinen fertigen Glauben vor, sondern tauschten Gottesbilder und Glaubenserfahrungen aus – dadurch veränderte sich der Glauben auf beiden Seiten. 

Deshalb fordert Söding von der heutigen Kirche mehr Mut zur Freiheit. Es müsse die Möglichkeit zur kritischen Information geschaffen und dann der Dialog mit Interessierten gesucht werden – und zwar auf Augenhöhe. Ziel müsse die Ermutigung zur Freiheit des Glaubens sein – und nicht die Kirchenmitgliedschaft. "Wenn sie dann die Entscheidung ist – umso besser." Die Form des Glaubens müsse aber jede und jeder selbst wählen. Um in diesem Dialog glaubwürdig zu sein, brauche die Kirche eine Struktur der engagierten Kommunikation – die etwa beim Synodalen Weg diskutiert werde. Bisher setze die Kirche in der Glaubensvermittlung oft den falschen Fokus, sagt Knuth: "Sie kommuniziert zu wenig die bereichernden Werte des Glaubens, der seine Kraft aus der Anerkennung jeder Person mit ihrer religiösen Erfahrung gewinnt und setzt zu viel auf die Einhaltung von Reglementierungen, etwa was die persönliche Lebensweise oder die Sexualmoral betrifft. Es geht darum, aus dem gelebten Ethos von Glaube, Liebe und Hoffnung in der Gemeinde vor Ort unser Sozialwesen positiv im Zusammenspiel mit andern zu gestalten." Sie müsse besser unterscheiden, in welchen Bereichen sie sich zu Recht Gehör verschaffen will und wo es anmaßend ist.

An Themen für die Kirche mangelt es in einer Welt stetiger Veränderungen und wirtschaftlicher Unsicherheit nicht. Wie sie die Menschen am besten erreicht, bleibt aber umstritten. Die Neuevangelisierung hat mit einem neuen Fokus begonnen, doch mittlerweile scheint sie zwischen die Fronten der innerkirchlichen Auseinandersetzung gekommen zu sein. Es wird weiterhin viele Wege zur Verkündigung des Evangeliums geben.

Von Christoph Paul Hartmann