Vorwürfe gegen Kentenich: "Jetzt nicht mehr schweigen"
Archivfunde aus der Zeit von Papst Pius XII. haben einen Schatten auf das Leben des Schönstatt-Gründers Pater Josef Kentenich geworfen: Mitglieder der von ihm gegründeten Marienschwestern werfen ihm Missbrauch vor, in einem Fall auch sexualisierte Gewalt. Die Vorwürfe, die von der Kirchenhistorikerin Alexandra von Teuffenbach ans Licht gebracht wurden, stammen aus den Unterlagen der Visitation durch den Jesuiten Sebastian Tromp – nun stellt sich die Frage: Muss die Bewertung des charismatischen Gründers revidiert werden? Schwester Doria Schlickmann ist Historikerin und Verfasserin einer Kentenich-Biographie. Im Interview ordnet sie die Vorwürfe ein – und sagt, wie Schönstatt nun mit den Vorwürfen umgehen sollte.
Frage: Schwester Doria, Sie selbst gehören zu den Schönstätter Marienschwestern. Wie hat Ihre Gemeinschaft die Veröffentlichungen aufgenommen und diskutiert?
Schwester M. Doria Schlickmann: Die Reaktionen waren unterschiedlich. Viele waren sehr betroffen, vor allem die älteren Mitschwestern, die diese Zeit zum Teil noch miterlebt haben. Dass jetzt Dinge vorgebracht werden, die längst durchgekämpft waren, ist für sie unbegreiflich. Jüngere Mitschwestern fragen nach Zusammenhängen. Als Gemeinschaft sind wir, glaube ich, insgesamt zuversichtlich, dass sich vieles klären lässt, und ich persönlich bin überzeugt, dass die angestoßene Diskussion das eigentliche Anliegen Pater Kentenichs für die Kirche noch mehr ans Licht heben könnte. Was ihm an Unverständnis vor dem Konzil innerhalb der Kirche begegnet ist, könnte vielleicht gerade heute auf ein ganz neues Verständnis stoßen. Darin liegen sicher auch Chancen.
Frage: In einer ersten Stellungnahme des Generalpräsidiums der Schönstatt-Bewegung wird darauf hingewiesen, dass die nun als neu erhobenen Vorwürfe bereits bekannt und geklärt seien. In Ihrer Biographie ist die Rede davon, dass Kentenich in Visitationsberichten als "Despot" bezeichnet wurde. Von sexualisierter Gewalt ist darin keine Rede. War dieser Vorwurf auch bekannt?
Schwester Doria: In meiner Kentenich-Biographie habe ich erwähnt, dass schon 1951 Anschuldigungen über angebliche sittliche Verfehlungen vorgebracht worden waren. Die waren zum Teil Pater Kentenich selbst bekannt. Von sexueller Gewalt oder sexuellem Missbrauch war jedoch nicht die Rede, auch in den uns bekannten offiziellen Aktenstücken nirgendwo. Als Pater Kentenich das Dekret unterschrieb, das ihn von seinem Werk trennte, wurde ihm ausdrücklich gesagt, die Visitation habe nichts Strafwürdiges feststellen können.
Ein Konsultor des Heiligen Offiziums erwähnte Ende 1951 Pater Kentenich gegenüber, der Grund für seine Amtsenthebung und Verbannung sei lediglich die außergewöhnliche Anhänglichkeit der Schwestern und der ganzen Bewegung an seine Person. Sein Einfluss müsse gebrochen werden.
Frage: Und wie war Kentenichs Reaktion auf diese Vorwürfe?
Schwester Doria: Als er später von der Anschuldigung der betreffenden Schwester erfahren hat, gab er seinem Vorgesetzten schriftlich Rechenschaft über sein Verhalten. Er erklärte die Situation der Schwester und dass er ihr durch seine Worte aus einer seelischen Verkrampfung zu innerer Freiheit verhelfen wollte.
Es hat sehr lange gedauert, bis Pater Kentenich von allen Vorwürfen erfuhr, die so herumgeisterten. Dass ihm zum Beispiel unterstellt wurde, er sei Anhänger der Methoden Freuds, der alles aus sexueller Perspektive sehe. Das war damals in der Kirche eine sehr anrüchige Sache. Nachdem er davon erfahren hat, hat er konkret auf die einzelnen Vorwürfe Bezug genommen und war um eine Richtigstellung und Klärung bemüht. Man hat ihm allerdings 1960 seine diesbezügliche schriftliche Rechtfertigung, die er zur Beratung an drei Instanzen geschickt hatte, wieder ungelesen – wohlgemerkt – zurückgeschickt mit dem Rat: Wenn er meint, ihm sei Unrecht geschehen, solle er das in Geduld tragen …
Das war übrigens insgesamt seine Situation: Man setzte sich inhaltlich nicht wirklich mit dem auseinander, was er in Briefen und Studien an die Bischöfe als pastorales Anliegen schrieb.
Frage: Sie beschreiben den Visitator Tromp als sehr mächtig, mit großem Einfluss auf die Bewegung, den er auch strikt durchgesetzt hat, sowie als wichtigen Gegenspieler Kentenichs auch nach der Visitation. Hat ein Visitator tatsächlich solche Macht? Teuffenbach beschreibt seine Rolle als "Spurensicherung", er habe im Fortgang des Verfahrens keinen Einfluss mehr nehmen können.
Schwester Doria: Zunächst kann man, glaube ich, Pater Tromp nicht als "Gegenspieler" bezeichnen. Er war vom Heiligen Offizium als Visitator eingesetzt. Diese Behörde hatte generell - vor dem Konzil - eine hohe Machtbefugnis. Sie war gefürchtet. Als Historikerin kann ich dazu nur sagen, dass sich das mit heutigen Verfahrensweisen und Kompetenzen eines Visitators nicht vergleichen lässt. In meinem Buch "Josef Kentenich – Ein Leben am Rande des Vulkans" bringe ich eine Reihe von Beispielen für Tromps Verhalten, seine Art zu reagieren und wie viele der Schwestern ihn erlebten.
Der Begriff "Spurensicherung" stammt ja eigentlich aus der Kriminalistik. Das würde allerdings bedeuten, dass man Hinweise zunächst urteilsfrei sammelt, bewertet und gegeneinander abwägt. Ein Kriminalist müsste zudem die Glaubwürdigkeit von Zeugen untersuchen und sich die Sachlage aus der Sicht des Angeklagten (von ihm selbst) schildern lassen und so weiter. Das alles ist damals nicht geschehen.
Wie neutral Pater Tromp war, das wird in der nun folgenden Aufarbeitung sicher auch erneut untersucht werden. Mein Forschungsstand ist, dass seine Spurensuche ziemlich einseitig war. Personen, die anderer Meinung waren als er, mussten mit Absetzung und Kirchenstrafen rechnen. Inwieweit er nach seiner Zeit als Visitator noch Einfluss auf das Schicksal der Bewegung und der Schwesterngemeinschaft genommen hat, lässt sich sicherlich rekonstruieren.
Frage: Waren die aktuellen Archivfunde von Teuffenbachs Teil der vor Beginn der Seligsprechungsphase eingereichten Unterlagen?
Schwester Doria: Was Schönstatt an Unterlagen hatte und was für uns erreichbar war, ist in den Prozess eingegangen. Die Vatikanarchive waren für diese Zeit noch nicht zugänglich.
In Ihrer Frage geht es aber offenbar um den Wert des sogenannten "Nihil Obstat", mit dem Rom "grünes Licht" gibt für die Eröffnung eines Seligsprechungsprozesses. Dabei werden jeweils die betroffenen vatikanischen Behörden aufgefordert, in ihren Archiven zu prüfen, ob und welche Einwände es gegen die Eröffnung eines solchen Seligsprechungsprozesses und gegen den Kandidaten geben könnte. Nach Überprüfung der Archivakten gibt es eine entsprechende Rückmeldung: Einem Beginn dieser Causa "steht nichts entgegen" – oder eben doch. Es ist eigentlich nicht denkbar, dass im Fall Kentenich nach einem kirchlichen Exil von 14 Jahren die Akten vor einem solchen Urteil nicht sorgfältig überprüft worden wären.
„Es ist eigentlich nicht denkbar, dass im Fall Kentenich nach einem kirchlichen Exil von 14 Jahren die Akten vor einem solchen Urteil nicht sorgfältig überprüft worden wären.“
Frage: Teuffenbach beschreibt das "Kindesexamen", bei dem eine Schwester verschiedene Fragen gestellt werden wie "Wem gehört die Tochter?" und "Was ist die Tochter", vorgesehen sind die Antworten "Dem Vater" und "Nichts". Ist dieses Ritual authentisch? Wird es heute noch praktiziert?
Schwester Doria: Nein, das ist nicht authentisch und außerdem aus dem Kontext gerissen. Pater Kentenich wollte Menschen immer in eine lebendige und vor allem persönliche Gottesbeziehung führen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob der Begriff Ritual passt. Es geht in unserer Spiritualität zentral um das Kindsein vor Gott. Die Fragen des sogenannten Kindesexamens beziehen sich auf unser Verhältnis zu Gott: die Gotteskindschaft. Deswegen heißt es auch nicht "Tochter", sondern Kind. Wem gehören wir? Gott. Was darf er mit uns machen? Alles! Was sind wir vor ihm? Eigentlich ein kleines Nichts und deswegen, gerade mit unseren Grenzen und Schwächen, sein Alles. Dieses Grundmotiv christlicher Spiritualität findet sich in der gesamten Kirchengeschichte. Die Liebe Gottes zum Menschen ist, gerade auch als barmherzige Vaterliebe, unbegreiflich groß und persönlich, nicht einfach pauschal. Das Wort Vater macht die Hingabe an Gott persönlich, so wie Jesus selbst den Vater im Johannesevangelium anredet: Gerechter Vater, … Geliebter Vater … Er lehrt uns beten "Vater unser". Das Beten Jesu kreist immer um den Vater.
Diese Hingabe konnte in einem Frage-Antwort-Dialog mit dem Gründer zum Ausdruck gebracht werden. Das war nicht von ihm initiiert, sondern einfach vom Leben her so gewachsen. Keineswegs ist es aber ein allgemein gültiger Brauch, den jede Schwester praktizierte oder gar praktizieren musste. Das war und ist eine freie und auch sehr private Entscheidung.
Wenn eine Schwester das möchte, kann sie das gegenüber den höchsten Vorgesetzten der Gemeinschaft zum Ausdruck bringen. Aber es richtet sich immer an Gott. Das ist ja der Sinn unseres Lebens. Sonst wäre das Ganze ja unwürdig. In den Veröffentlichungen wurde das bedauerlicherweise sehr verzerrt wiedergegeben.
Frage: Manche Schwestern seien auch gefragt worden: "Wem gehören die Geschlechtsorgane?" und "Wem gehören die Brüste?", Antwort: "Dem Vater". Ist das tatsächlich passiert oder plausibel? Gibt es einen Kontext, in dem solche Fragen nicht sexuell übergriffig sind?
Schwester Doria: Der ganze Kontext ist überhaupt nicht sexuell zu verstehen. Es ging vielmehr darum, dass jemand Zwangsvorstellungen hatte, und um die Befreiung aus diesem inneren Zwang. Konkret handelte es sich um eine Schwester, die eine ausgeprägte Angststörung in Bezug auf ihre körperliche Erscheinung und ihre Geschlechtlichkeit hatte. Sie versuchte deswegen krampfhaft und unnatürlich ihre fraulichen Formen zu verbergen. Es darf dabei nicht vergessen werden: Die religiöse Mädchenerziehung in diesen früheren Zeiten führte häufig zu sexueller Verklemmtheit und Prüderie. Pater Kentenich hat diese Unfreiheit deutlich benannt und wollte die Schwester auf diese Weise von ihrem Zwang befreien. Er machte ihr deutlich, dass sie ganz so wie sie ist, von Gott bejaht und angenommen ist.
Ein Psychologe bestätigte mir, dass Pater Kentenich dieses spezielle Problem intuitiv richtig erkannt hat. Vermutlich würde man heute von einem verhaltenstherapeutischen Ansatz sprechen.
Frage: Das Bistum Trier hat eine neue Historikerkommission eingerichtet. Was erwarten Sie an Ergebnissen? Gab es in den Recherchen zu Ihrer Kentenich-Biographie Leerstellen, die sie noch gerne gefüllt hätten?
Schwester Doria: Bei einem so umfangreichen Wirken Pater Kentenichs und einem derart gefüllten Leben gibt es immer Leerstellen. Die Arbeit eines Historikers endet nie, doch ich bin vorsichtig, in Leerstellen etwas hineinzuinterpretieren oder vorschnell bei erster Einsicht einiger Dokumente endgültige und verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen. Man wird als Forscher nach dieser Richtung bei einem zweiten Hinschauen und bei weiteren Recherchen auch oft überrascht, in dem Sinne, was man alles neu entdeckt, was das Gesamtbild noch mehr abrundet.
Frage: Wie geht es nun für die Schönstatt-Bewegung weiter? Was raten Sie Ihrer Bewegung, auch mit Blick auf die von Teuffenbach geforderte Öffnung der Archive?
Schwester Doria: Jetzt nicht mehr zu schweigen, um bestimmte Vertreter der Kirche oder ehemalige Mitglieder der Gemeinschaft, die vor dem Konzil aktiv waren, zu schützen. Wahrscheinlich hilft das, was nun ans Licht kommt, nicht nur, die damaligen Vorgänge klarer zu sehen. Auch das Grundanliegen Pater Kentenichs müsste noch einmal neu deutlich werden. Was steckt eigentlich hinter all dem, was jetzt so reißerisch zur Sprache kommt? Für ihn war ein zentrales Grundanliegen: Wie findet der heutige Mensch in eine persönliche, lebendige Beziehung zu Gott? Er war der Überzeugung: Wenn Menschen Vorerfahrungen auf menschlicher Ebene haben, etwa durch positive Beziehungen und Bindungen an andere, finden sie auch leichter in eine persönliche Bindung an Gott. Pater Kentenich hat seine Aufgabe als Gründer so verstanden. Es ging ihm nicht um seine Person, und das lässt sich nachweisen, sondern um unsere Beziehung zu Gott, die durch echte und tiefe menschliche Bindung vitaler und realer wird. Die Bindung an die Person des Gründers ist einfach vom Leben her so gewachsen. Aber das schien manchen eben irgendwie gefährlich, bedenklich. Manche sahen sofort etwas Anstößiges darin. Er könnte heute weit besser verstanden werden als vor dem Konzil. Sein pastorales Anliegen könnte anders aufgenommen werden, gerade weil es die Psychologie und ihren Wert im Hinblick auf die Glaubensvermittlung nicht ausklammert. Ich würde raten, das noch viel mehr zu heben. Gerade seine Pädagogik könnte der Kirche heute meines Erachtens wertvolle Dienste leisten.
Und was die Veröffentlichung von Dokumenten angeht: Eine schnelle Herausgabe von möglichst allen Einzelteilen garantiert noch nicht die gute Aufarbeitung. Es braucht einen Sinn für diese Zusammenhänge.