Tück: Es braucht keine Totalidentifikation mit der Lehre der Kirche
Die Kirchenlehre hat für Gläubige höchste Verbindlichkeit. Aber was gehört überhaupt dazu? Warum ist zum Beispiel die Auferstehung Jesu nicht als Dogma festgehalten? Und was, wenn Gläubige nicht alle Inhalten der Kirchenlehre folgen kann? Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück gibt Antworten - und verrät auch, was der größte Bruch in der Geschichte der Kirchenlehre ist.
Frage: Herr Tück, was ist die Kirchenlehre?
Tück: Die Kirchenlehre ist eng verknüpft ist mit dem Begriff der Tradition, der Überlieferung. Im Kern geht es um die Frage: Wie kann man den Glauben so weitergeben, dass dabei nichts Entscheidendes verloren geht?
Frage: Was gehört zur Kirchenlehre?
Tück: Was wir glauben, speist sich — vereinfacht gesagt — vor allem aus zwei Quellen: der Heiligen Schrift und der Tradition. Und da wird es schon kompliziert: Die Bibel ist ein ganzes Corpus von Büchern, sie ist eine Bibliothek. Schon ihre Entstehung selbst ist ein Produkt von Tradition. Im zweiten Jahrhundert gab es dafür eine grundlegende Entscheidung: Der Theologe Markion wollte das Alte Testament aus der Heiligen Schrift entfernen, weil es nur einen bösen Gott zeige, der strafe. Er wollte stattdessen nur einen Teil des Neuen Testaments tradieren, das einen guten Gott, einen Erlösergott zeichnet. Die Kirche hat dann aber entschieden, dass beides dazu gehört: Die Einheit des Kanons in der Zweiheit der Testamente. Diese Entscheidung ist grundlegend für das, was wir Heilige Schrift nennen, und wendet sich gegen alle Tendenzen, das Alte Testament abzuwerten. Was den zweiten Quellenbereich angeht, die Tradition: Es gibt natürlich ganz vielfältige Traditionen, Bekenntnisse, Konzilsentscheidungen, lehramtliche Verlautbarungen. Wesentlich ist das Glaubensbekenntnis. Es umschließt die wichtigsten Glaubensgehalte und hat eine trinitarische Signatur: Wir glauben an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.
Frage: Wer ist denn verantwortlich für die "rechte" Weitergabe des Glaubens, bei der nichts verloren geht?
Tück: Es gibt mehrere Tradierungsinstanzen: Die Gemeinschaft der Gläubigen selbst, die akademische Theologie und das Lehramt, also vor allem die Bischöfe und den Papst. Diese "Richtlinienkompetenz" der Bischöfe hat sich zu Beginn der Kirchengeschichte vor allem in Form von Konzilien gezeigt. Bei diesen Bischofstreffen wurden strittige Fragen geklärt. Allerdings läuft das Zusammenspiel der Tradierungsinstanzen nicht immer harmonisch ab, sondern ist austarierungsbedürftig.
Frage: Haben denn alle Inhalte der Kirchenlehre die gleiche Verbindlichkeit?
Tück: In Bezug auf die Verbindlichkeit spricht das Zweite Vatikanische Konzil im Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio von der sogenannten "Hierarchie der Wahrheiten". Das heißt, nicht alles, was die Kirche lehrt, ist gleich wichtig. Im Zentrum steht der Glaube an den dreifaltigen Gott, der Glaube an die Menschwerdung des Wortes Gottes, die Auferstehung des gekreuzigten Jesus Christus, eher am Rande stehen etwa die Mariendogmen. Im Übrigen ist nicht alles, was zum Kern des Glaubens gehört, in einem Dogma festgehalten….
Frage: Können Sie ein Beispiel nennen für eine wichtige Tradition, eine Lehre, die aber kein Dogma ist?
Tück: Ein Beispiel ist Auferstehung Jesu Christi. Sie war immer so selbstverständlich, dass man dazu nicht eigens ein Dogma definiert hat. Aber andere Fragen, die für uns heute selbstverständlich sind, waren eben klärungsbedürftig, zum Beispiel die nach dem heiligen Geist. Auf dem Konzil von Konstantinopel 381 gab es eine Gruppe, die sogenannten Pneumatomachen. Sie sahen den Geist als Geschöpf, als atmosphärische Qualität, aber nicht als von Gott kommend oder gottgleich. Dagegen hat sich das Konzil abgegrenzt und gesagt, wir glauben an den heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht und gleich verehrungswürdig ist wie Vater und Sohn. Christen glauben demnach nicht an eine einsame Monade, sondern an einen Gott der Beziehung. Diese Beziehung äußert sich im lebendigen Zusammenspiel zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist.
Frage: Hat sich die Kirchenlehre denn auch gewandelt?
Tück: Der Versuch, den Glauben unverfälscht weiterzugeben, geschieht immer in einem geschichtlichen Kontext. Da sich Sprache und Denkformen im Verlauf der Jahrhunderte verändert haben, gab es immer neu ein Ringen um die zeitgemäße Übersetzung des Glaubens: In der Neuzeit etwa hat nicht nur das Aufkommen der historischen Kritik, sondern auch die Philosophie Kants den Glauben massiv erschüttert. In seiner "Kritik der reinen Vernunft" hat er die klassischen Gottesbeweise einer grundlegenden Kritik unterzogen. Darauf reagierte die Kirche mit Defensivstrategien und einer Stärkung des autoritativen Lehramts des Papstes. Diese Ausweitung der päpstlichen Vollmachten auf dem I. Vatikanischen Konzil hat die Kritik der akademischen Theologie auf sich gezogen und wird noch heute kontrovers diskutiert.
Frage: Können Sie konkrete Sachverhalte nennen, die heute anders bewertet werden als früher?
Tück: Grundsätzlich ist die Tradierung des christlichen Glaubens an Kontinuität interessiert. Brüche werden nur ungern zugestanden. Wie gesagt: das Anliegen ist es ja, den Glauben durch die Epochen hindurch unverfälscht weiterzutragen. Aber es gibt dennoch Beispiele für Veränderungen. Pius XII. hat zum Beispiel 1947 in seinem Schreiben "Sacramentum ordinis" Materie und Form des Weihesakraments geändert. Er hat gesagt, die Materie des Sakraments ist nicht mehr die Übergabe von Kelch und Hostienschale, sondern die Handauflegung. Auch die Spendeformel hat er abgeändert. Diese Änderung hat er sogar ausdrücklich gemacht. Es hat aber erstaunlicherweise kaum Proteste gegeben, obwohl die Sakramente durchaus zur Substanz des kirchlichen Glaubens gehören.
Frage: Was war der größte Bruch in der Kontinuität der Lehre?
Tück: Die Traditionalisten, also die Piusbrüder, sehen das Zweite Vatikanische Konzil als massiven Bruch in der Kirchenlehre – gerade in der ökumenischen Öffnung, im Dialog mit anderen Religionen, in der Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit. In der Tat hat es hier bedeutsame Reformen gegeben. Nehmen wir das Beispiel der Religionsfreiheit. Die Päpste des 19. Jahrhunderts haben sie ausdrücklich als Irrtum des Liberalismus verworfen, noch Pius XII. hat in seiner Toleranzdoktrin Vorbehalte geltend gemacht. "Dignitatis humanae", das Konzilsdokument über die Gewissensfreiheit, erkennt nun aber ausdrücklich diese Freiheit an, die mit der Würde der Person verbunden ist. Demnach ist für jede Form des Glaubens Freiheit die Grundlage, erst recht für das Evangelium. Es ist das Freundschaftsangebot Gottes, das sich an freie Adressaten richtet. Deswegen muss auch akzeptiert werden, wenn sich Menschen dem Evangelium verschließen. Wenn wir diese Freiheit nicht achten, dann konterkarieren, ja beschädigen den Inhalt des Evangeliums. In der Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit kann man eine Diskontinuität im Vergleich zur früheren Lehre sehen.
„Für jede Form des Glaubens ist Freiheit die Grundlage, erst recht für das Evangelium. Es ist das Freundschaftsangebot Gottes, das sich an freie Adressaten richtet.“
Frage: Wenn ich aber als Gläubiger Probleme mit Teilen der Kirchenlehre habe, zum Beispiel mit dem Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes – was dann? Bin ich dann kein guter Christ mehr?
Tück: Wenn ein "sentire cum ecclesia – ein Fühlen mit der Kirche" gegeben ist, braucht es keine Totalidentifikation mit der Lehre der Kirche zu geben. Die Anerkennung des Glaubensbekenntnisses reicht. Es ist ja verständlich, wenn jemand in unserer modernen bürgerlichen Gesellschaft mit dem Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes Probleme hat. Das ist zunächst einmal normal. Man muss das Dogma eben im historischen Kontext seiner Entstehung sehen, ohne es zu relativieren. Es war das Erste Vatikanische Konzil, das – verkürzt gesagt – 1870 den Papst zum Monarchen gemacht hat, der in Fragen des Glaubens und der Sitte letztinstanzlich entscheiden kann. Diese Stärkung des Papstamtes war wie gesagt eine Defensivstrategie gegen die Anfragen der Moderne. Das Zweite Vatikanum hat dann knapp 100 Jahre später die Lehre vom Primat und der Unfehlbarkeit des Papstes stärker eingebettet in die Lehre der Kirche. Der Papst ist nun der letztinstanzliche Zeuge des Evangeliums, der für die Glaubensgemeinschaft im Zweifel verbindlich sagen kann, was den Glauben ausmacht und was nicht. Überhaupt hat das Zweite Vatikanum einen neuen, freundlicheren, pastoralen Lehrstil eingeführt, der auch Fragen und Zweifel zulässt, ohne gleich mit Verurteilungen zu drohen.