Primat des Papstes - seit 150 Jahren Bürde und Chance der Kirche
Schon vor dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869/70 hatten sich die innerkirchlichen Spannungen zugespitzt, als publik wurde, dass bei der Kirchenversammlung die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- und Sittenfragen als Dogma verkündet werden solle; notfalls sogar durch Akklamation, also ohne förmliche Abstimmung. Gegen dieses Ziel standen in Ländern wie den USA, England oder Frankreich angesehene Theologen auf. In Deutschland war Ignaz von Döllinger (1799-1890) aus München der Wortführer.
Man beobachtete besorgt, wie sich die ultramontane, also ganz auf Rom ausgerichtete Kirchenleitung den geistigen Strömungen der Epoche verschloss. 1864 fasste Papst Pius IX. (1846-1878), der sich nach einem vergleichsweise liberalen Beginn seiner Amtszeit zunehmend von "der Welt" abgrenzte, alle abweichenden Meinungen im sogenannten Syllabus errorum als "Irrtümer" der modernen Zeit zusammen und verurteilte sie pauschal. Döllinger und viele andere sahen den Zug der Moderne für die Kirche abfahren. Und nun noch die neuen Papstdogmen.
Ehrenhaft und papsttreu - oder feige?
Das Konzil, das im Dezember 1869 eröffnet wurde, war die bis dahin größte Kirchenversammlung aller Zeiten. 774 Kardinäle und Bischöfe der Weltkirche nahmen teil. In der Debatte über den Papstprimat - also über den Papst als höchste Rechtsgewalt (Jurisdiktionsprimat) und als höchste Lehrvollmacht, sofern er Entscheidungen zu Lehr- und Moralfragen "ex cathedra" als unfehlbar verkündet -, äußerte eine beachtliche Minderheit Bedenken gegen die neuen Dogmen, darunter 15 der 20 deutschen Bischöfe. Eine solche Definition würde dem Missbrauch des kirchlichen Lehramts Tür und Tor öffnen, so der Tenor.
In der Vorbereitungssitzung stimmten von 601 anwesenden Konzilsvätern 451 mit Ja, 88 mit Nein; 62 verlangten Änderungen. Nachdem ein letzter Vermittlungsversuch der Kritiker bei Pius IX. gescheitert war, reisten 57 von ihnen vorzeitig ab - um nicht in Anwesenheit des Papstes gegen die Dogmatisierung stimmen zu müssen. So erhielt die Konstitution "Pastor aeternus" bei der Verabschiedung am 18. Juli 1870, vor 150 Jahren, lediglich zwei Gegenstimmen. Ehrenhaft und papsttreu - oder feige?
Während der Sitzung ging ein Unwetter mit Blitz und Donner über Rom nieder. Ein Zeichen vom Himmel? In der Basilika war es mitten im Juli so dunkel, dass der Text der Konstitution nur mit Hilfe von Kerzenleuchtern verlesen werden konnte.
Und das Drama ging weiter: Tags darauf, am 19. Juli 1870, begann der Deutsch-Französische Krieg. Die meisten Bischöfe reisten ab, das Konzil wurde unterbrochen. Napoleon III. zog seine zum Schutz des Papstes in Rom gelassenen Truppen ab. Mitte September wurde die Stadt von den piemontesischen Truppen eingenommen; der Kirchenstaat hörte auf zu bestehen. Schließlich vertagte Pius IX. das Konzil auf unbestimmte Zeit.
Einer nach dem anderen akzeptierten auch die kritischen deutschen Bischöfe die Entscheidung des Konzils. Trotz des gleichzeitigen Verlusts seiner weltlichen Macht ging das Papsttum gestärkt aus dem Konzil hervor. Rom wurde mehr und mehr zum Ankerpunkt der Weltkirche.
Zerwürfnis mit der Aufklärung
Der Entscheidung zugunsten der päpstlichen Unfehlbarkeit folgte aber auch ein Exodus vieler Intellektueller. Aus dieser Protesthaltung entstand im deutschsprachigen Raum die von Rom abgelöste Altkatholische Kirche. Übrigens hat nur ein Papst seither von einer Ex-cathedra-Entscheidung Gebrauch gemacht: Pius XII., als er 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündete. Kritische Katholiken fragen gleichwohl: War es das Zerwürfnis mit der Aufklärung wert?
Der Wiener Dogmatik-Professor Jan-Heiner Tück sieht im Primat des Papstes zugleich Bürde und Chance für die Kirche. Es brauche eine Balance zwischen einer auf den Papst zugeschnittenen "hierarchischen Sicht von Kirche" und einer Kollegialität der Bischöfe, also deren Mitbeteiligung an der Leitung der Gesamtkirche, schrieb Tück 2019 in einem Essay für die "Neue Zürcher Zeitung".
Linktipp: Tück: Es braucht keine Totalidentifikation mit der Lehre der Kirche
Die Kirche befindet sich immer in einem historischen Kontext - und dennoch soll der Glaube möglichst unverfälscht weitergegeben werden. Dazu dient die Kirchenlehre. Brüche werden da nur ungern zugegeben. Aber es gibt sie doch, weiß der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück.Erst das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) habe die Primats-Aussagen des Ersten durch die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe ergänzt, es dabei aber an Klarheit fehlen lassen, so der Theologe. In der Konstitution über die Kirche stünden zwei "gegenläufige Konzeptionen" nebeneinander: eine hierarchische Sicht und eine an das altkirchliche Verständnis von "Communio" (Gemeinschaft) anschließende.
Garant für die Einheit
Unter Johannes Paul II. (1978-2005) erhielt der römische Zentralismus wieder Auftrieb - mit "fatalen" Auswirkungen, so Tück. Er verweist auf Bischofsernennungen am Votum der Ortskirchen vorbei, auf Diskussionsverbote oder das Vorgehen Roms gegen missliebige Theologen. Erst Papst Franziskus habe seit 2013 eine "heilsame Dezentralisierung" eingeleitet; diese bedürfe aber noch einer kirchenrechtlichen Absicherung. Tücks Zielvorgabe: eine Art "Communio-Primat", also eine Amtsausübung des Papstes, die die Ortskirchen bei der Leitung der Gesamtkirche berücksichtigt.
Das katholische Papstamt bleibt für Orthodoxe und Protestanten der wichtigste Stolperstein der Ökumene. Tück sieht darin aber auch eine Chance zur Einheit. Die Ostkirchen, die seit Jahrzehnten keine panorthodoxe Synode zustande brächten, zeigten, "dass Synodalität allein nicht genügt". In Moskau und anderswo in Osteuropa werde politischer Nationalismus "geistlich überhöht"; hinzu kämen anhaltende Rivalitäten zwischen den Patriarchen. Mit dem Papstprimat habe dagegen die katholische Kirche über Länder und Nationen hinweg einen Garanten der Einheit.