Kolumne: Mein Religionsunterricht

Diese "Relevanz" hat mein Religionsunterricht

Veröffentlicht am 31.07.2020 um 16:00 Uhr – Lesedauer: 

Osnabrück/Bonn ‐ Durch die besonderen Bedingungen der Corona-Pandemie steht auch der Religionsunterricht vor besonderen Herausforderungen – und der Frage nach der Relevanz. Für Jens Kuthe sollte der Unterricht nicht nur system-, sondern auch lebensrelevant sein.

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Wow, nur wenige Wörter erleben eine solch explosive Konjunktur wie das kleine Wörtchen "Relevanz". In den Zeiten des Lockdowns und der ersten Schritte zurück ins öffentliche Leben wurde vielerorts über Relevanz diskutiert: vor allem über "Systemrelevanz". Gehören Kraftwagenfahrer genauso dazu wie Verkäuferinnen oder Pfleger? Wer ist wie relevant und für wen?

Mein Religionsunterricht schien in der Krise von der Relevanzfrage zuerst genauso betroffen, wie jedes andere Fach auch. Wie Schule insgesamt. Doch bereits mit dem Beginn des "Homeschooling" und den ersten Schritten aus dem Lockdown traten grundsätzliche Fragen auf: Müssen die Schüler allen Fächern (Haus-)Aufgaben machen oder nur in den Hauptfächern? Braucht es digitalen In- und Output für den Religionsunterricht oder haben die Schülerinnen nicht schon genug zu tun?

Dann begann der Schulbetrieb in vorsichtigen Schritten und es wurden die gleichen Fragen wieder gestellt: Braucht es jetzt gerade Religionsunterricht? Wie ist das, wenn die konfessionellen Lerngruppen aus verschiedenen Klassen nicht zusammenkommen können? Gibt es spontane konfessionelle Kooperation für alle? Ist das überhaupt konfessionelle Kooperation oder nur ein organisatorisches Hilfskonzept?

Austausch und Gespräch

In meiner Schule, die in kirchlicher Trägerschaft ist, wurden diese Fragen zügig, konstruktiv und letztendlich auch zum Wohle des Religionsunterrichts entschieden. Mit konfessionell gemischten Lerngruppen haben wir uns in den wenigen Wochen bis zu den Ferien auf den Weg gemacht, um  miteinander ins Gespräch und in den Austausch zu kommen.

Und so wird auch wieder in der Öffentlichkeit diskutiert: Religionsunterricht als Ort, an dem die Sorgen und Nöten der Schüler einen Raum finden. Zur Klärung: Ich trage dieses Argument voll und ganz mit. Ein guter Religionsunterricht nimmt die Fragen, Sorgen, Ängste und Freuden der Schülerinnen ernst. Er schafft Optionen für einen Erkenntnisgewinn, der über das Material und die Inhalte hinausgeht. Er lebt und atmet Begegnung und Auseinandersetzung. Und es ist ein Gewinn und ein Geschenk, solche Momente erleben und bestenfalls sogar gestalten zu dürfen. Nicht nur, aber auch deswegen ist Religionsunterricht in der Schule "systemrelevant"! Daher finde ich es enorm wichtig, dass sich verschiedene kirchliche Institutionen und Verbände, wie z.B. der Deutsche Katechetenverein jetzt dafür stark machen und daran erinnern, dass der Religionsunterricht in den Fächerkanon gehört und nicht Corona-bedingt erst wegfallen und dann verloren bleiben darf. Gerade weil er für junge Menschen diesen Raum und diese Zeit bietet.

Ein Mädchen sitzt vor einem Laptop und verfolgt den Online-Unterricht.
Bild: ©stock.adobe.com/Aleksandra Suzi (Symbolbild)

Die Corona-Pandemie ist eine Herausforderung für die Schulen,

Wenn der Religionsunterricht diese Perspektive auf die Schüler hat, dann hat er auch die Chance nicht nur "systemrelevant", sondern auch "lebensrelevant" zu sein und sich mit den Fragen und Herausforderungen der Gegenwart der jungen Menschen zu befassen. Aber auch dabei überraschen die Schülerinnen immer wieder. Mit einem meines Erachtens spannenden Material, das auch noch die neuen konfessionellen Dimensionen innerhalb der Lerngruppen wahrnahm, und verschiedenen Gesprächsanlässen gewappnet, betrat ich mit viel Zeit für die Erfahrungen und die Perspektiven der Schüler die erste Religionsstunde nach dem Lockdown. Doch die Schülerinnen wollten gar nicht so sehr über ihre Erfahrungen mit dem Lockdown sprechen oder Projekte entwerfen, wie in der neuen Situation des Miteinanders die Menschen füreinander da sein könnten. (Ich muss dazu sagen, dass ein wunderbarer Kollege, sich mit hohem Engagement um diese Klasse als Klassenlehrer bemüht hatte und auch als Ansprechpartner durch die anspannende Zeit zur Verfügung stand.)

Sie freuten sich viel zu sehr über den gemeinsamen Religionsunterricht mit ihren Klassenkameraden und begannen direkt mit einem Bombardement an Fragen an mich und aneinander zu "katholisch" und "evangelisch". Dabei war das Erstaunen über die "eigenen" konfessionellen Besonderheiten bisweilen genauso groß wie das Erstaunen über die Eigenheiten der "anderen" Konfession. Daraus wurde ein spannendes Gespräch über das, was uns nun gemeinsam in diesen Unterricht zusammenführt – inhaltlich und organisatorisch. Vielleicht sind die fachlichen Inhalte manchmal für unser Schülerinnen gar nicht so irrelevant, wie wir immer mal wieder befürchten.

Was heißt Relevanz?

Was heißt denn jetzt eigentlich Relevanz für meinen Religionsunterricht? Die Frage nach der Relevanz des Religionsunterrichts ist in weiten Teilen eine Frage nach der Relevanz der Religionslehrerin bzw. des Religionslehrers. Es ist ja nicht so, dass religionskundliche Inhalte nicht auch von jemand anderem präsentiert werden könnten, der bzw. die sich gut darin eingearbeitet hätte.

In der letzten Stunde vor den Ferien fragte mich ein Schüler aus der 7. Klasse interessanterweise genau danach: "Herr Kuthe, warum haben wir eigentlich bei Ihnen Religion?" (Ich finde direkte Fragen einfach wunderbar!) Nach einem lauten Lachen durch den Klassenraum, dass ihn leider in Verlegenheit brachte, obwohl er einen sehr wichtigen Gedanken gefasst hatte, fragte er nochmal nach "Ich meine, warum erzählen SIE uns jetzt etwas über den Islam. Und warum gibt es da überhaupt unterschiedliche Formen von Religionsunterricht?" Da war die Relevanzfrage direkt bei mir im Unterricht angekommen: meine Relevanz.

Die Kirche während der Corona-Krise

Gottesdienste werden abgesagt, Gotteshäuser geschlossen: Das Coronavirus hat auch die katholische Kirche in Deutschland und Europa erreicht. Wie geht es nun in den Bistümern weiter? Und was können die Gläubigen tun? Alles Wichtige zum Thema erfahren Sie hier.

Ich habe es mit dem Vergleich einer Stadtführung versucht. Natürlich kann jemand die Baupläne und die Fakten über jedes einzelne Haus einer Stadt studieren. Man könnte vielleicht auch ein paar lustige und spannende Geschichten über jedes Haus in Erfahrung bringen und so eine informative, lustige, spannende und sicherlich qualitätsvolle Stadtführung gestalten. (Zwischenruf aus der Klasse: "Ich find Stadtführungen immer doof." Manchmal ist es so einfach!)

Aber was wäre, wenn eine Person, die eines dieser Häuser mit aufgebaut hätte, die Führung übernehmen würde. Sie könnte nicht nur dieses Haus bis ins letzte Detail beschreiben, sondern sie könnte von dem Schweiß und der Kraft erzählen, die der Bau gekostet hat. Von Frust und Freude. Von der Zusammenarbeit und der Begeisterung bei der Fertigstellung. Und sie wüsste natürlich auf den ersten Blick, wo die nächste Reparatur notwendig sein würde. Wahrscheinlich weiß sie nicht genauso viel über die anderen Häuser, wie über das eigene, aber sie kann in ganz anderer Wertschätzung über diese Häuser reden, weil sie erahnen kann, was es materiell und persönlich gekostet hat, diese zu bauen.

Religionsunterricht wie eine besondere Stadtführung

Die Analogie habe ich dann wieder zurück auf den Religionsunterricht gespiegelt. Er kam dadurch ins Grübeln und nickte erstmal. Etwas klischeehaft beendete just das Klingeln die Stunde und es gelang mir noch "Schöne Ferien!" zu wünschen. Die nächste Frage, die jetzt hätte kommen müssen, wäre gewesen: "Und wann war das heute in Ihrem Religionsunterricht der Fall?"

Mich beschäftigt die Frage, die mir eigentlich gar nicht gestellt worden ist, seitdem sehr. Denn dort, wo Religionsunterricht tatsächlich nicht nur von Daten, Fakten und Details des Hauses – entschuldigen Sie die Strapazierung der Metapher – berichtet, sondern die persönliche Beziehung als Teil der Vermittlung und eigenständige Positionierung einbezieht, und dadurch Schüler die Relevanz von reflektierter Haltung und Positionalität erschließen oder zumindest erfahren lässt, ist seine System-, Lebens- und Bildungsrelevanz meines Erachtens obligatorisch.

"Und wann war das heute bei mir der Fall?" Das müssen wir alles leisten? Hier zeigt sich der enorme Anspruch an das Fach und damit besonders an alle Kolleginnen und Kollegen (besonders diejenigen, die nicht die Vereinfachungen genießen können, die mein Arbeitsumfeld in einer in katholischer Trägerschaft geführten Schule mir bietet). Denn vor Ort entscheidet sich die Relevanz meines Religionsunterrichts letztendlich daran, welche Relevanz er für mich hat … und dadurch für meine Schülerinnen (hoffentlich) bekommt …

Von Jens Kuthe

Der Autor

Jens Kuthe unterrichtet Katholische Religion und Latein an der Ursulaschule Osnabrück. In der Abteilung Schulen und Hochschulen des Bistums Osnabrück ist er als Referent für Religionspädagogik für die Fort- und Weiterbildung von Religionslehrkräften sowie die Hochschulpastoral zuständig.

Linktipp: Kolumne "Mein Religionsunterricht"

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