Empörung der 700.000: Vor 25 Jahren fällt Karlsruhe das Kruzifixurteil
Kaum ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfte die Menschen in Bayern mehr bewegt haben als jenes, das am 10. August vor 25 Jahren publik wurde. Der Spruch der höchsten deutschen Richter brachte rechtschaffene Bürger so in Rage, dass sie das erste Mal in ihrem Leben auf die Straße gingen. Und er eröffnete eine Debatte, die bis heute anhält: um das Kruzifix in Schulen und öffentlichen Gebäuden.
Anthroposophische Eltern hatten damals gegen eine Vorschrift geklagt, nach der in bayerischen Volksschulen ein Kruzifix angebracht werden muss. Die Karlsruher Richter gaben ihnen 1995 mit Verweis auf die Neutralitätspflicht des Staates Recht und lösten einen immensen Proteststurm aus. 700.000 Unterschriften wurden gesammelt. Gläubige fürchteten einen wahren Sturm auf die Kreuze in Klassenzimmern, gar den Untergang des christlichen Abendlandes. In Oberammergau ließen Holzschnitzer trotzig wissen: "Wir machen weiter Kreuze."
Am 23. September wurde der Protest auf die Straße getragen. Mehr als 30.000 Menschen versammelten sich auf dem Münchner Odeonsplatz. An der Spitze waren der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) mit dem Münchner Kardinal Friedrich Wetter und dem evangelisch-lutherischen Landesbischof Hermann von Loewenich. "Wir lassen nicht zu, dass mit den christlichen Symbolen zugleich die christlichen Werte aus der Öffentlichkeit verdrängt werden", rief Stoiber den Demonstranten aus ganz Bayern zu.
Die Lösung heißt Widerspruch
Er kündigte an, die Niederlage wettzumachen - und es gelang dank eines Kniffs: Durch eine sogenannte Widerspruchslösung dürfen Kruzifixe in Klassenzimmern bleiben - so lange sich kein Protest dagegen erhebt. Versuche, diese Regelung vor Gericht zu kippen, scheiterten. "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht", heißt es nun in dem Gesetz.
Nahezu wortgleich hörte sich die Argumentation von Stoibers Ziehsohn Markus Söder an, als der vor zwei Jahren mit seinem Kreuzerlass für bayerische Behörden erneut einen Streit vom Zaun brach. Nur diesmal waren die Fronten nicht so eindeutig. Während etwa der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer sich zustimmend äußerte, übte der Münchner Kardinal Reinhard Marx Kritik. Wenn man das Kreuz nur als kulturelles Symbol verstehe, enteigne man es im Namen des Staates. Das sorge für "Spaltung, Unruhe, Gegeneinander", so die Argumentation. Auch der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm äußerte sich kritisch.
Der Söder'sche Kreuzerlass landete auch vor Gericht. 27 Klagen, darunter auch die von explizit atheistischen Gemeinschaften, verwies das Verwaltungsgericht München unlängst an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Die Richter erklärten dabei jedoch, dass sie in dem Erlass einen Eingriff in die Religions- und Weltanschauungsfreiheit sähen - für die Kläger ein kleiner Triumph. Indes steht das Urteil der höheren Instanz noch aus.
Ruhe um das Kreuz im Klassenzimmer
Um das Kruzifix in Schulen dagegen ist es ruhig geworden. Wenn "aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung" Widersprüche gegen das Kruzifix geltend gemacht würden, müsse die jeweilige Schulleitung eine gütliche Einigung erzielen, zur Not auch das Schulamt, heißt es im Gesetz. Dies scheint offenbar zu gelingen, denn in Bayerns Kultusministerium sind nach Auskunft eines Sprechers keine diesbezüglichen Beschwerden bekannt.
Auch auf europäischer Ebene sind die Kreuz-Fragen höchstrichterlich geklärt. Dabei mündete ein Fall aus Italien in zwei gegensätzliche Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg. Der Erste Senat hatte zunächst das Abhängen des Kreuzes angeordnet. Die Große Kammer dagegen entschied 2011, das Kruzifix sei ein "passives Symbol", dessen Anblick nicht mit der Teilnahme an religiösen Aktivitäten vergleichbar sei. Nationale Behörden könnten selbst über den Verbleib im Klassenzimmer entscheiden. Alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarats haben diesen Richterspruch mittlerweile anerkannt.