"Humani generis": Enzyklika zwischen Erstem und Zweitem Vaticanum
Bei manchen päpstlichen Lehrschreiben hat man den Eindruck, dass sie doch relativ kurzlebig sind. Freilich: Ihr Erscheinen wird heutzutage von einer großen Berichterstattung in den Medien begleitet. Je nachdem, welche Inhalte sie transportieren, werden sie mehr oder weniger intensiv auch in den sozialen Medien kontrovers diskutiert. Aber viele Texte bleiben doch eher unbeachtet. Wer erinnert sich schon noch an die Inhalte der Enzykliken von Benedikt XVI. über Glaube, Hoffnung und Liebe? Oder wer rezipiert heute noch das Schreiben "Ecclesiam suam" von Paul VI., das immerhin sehr nachdrücklich den Dialog der Kirche mit den unterschiedlichsten Gesprächspartnern einforderte? Viele solche Enzykliken verschwinden relativ zügig in den Schubladen, was zum Beispiel bei einem Vielschreiber, wie Johannes Paul II. es war, auch kaum verwunderlich ist: In seinem 26jährigen Pontifikat hat er 14 solcher Lehrschreiben herausgegeben. Doch die Rezeption solcher Texte dauert eben an und geschieht nicht von heute auf morgen. Das Apostolische Schreiben "Evangelii gaudium", das Papst Franziskus 2013 vorgelegt hat, zeigt das sehr deutlich: Auch sieben Jahre nach seinem Erscheinen dient es als Inspirationsquelle und ist bei Weitem noch nicht vollständig ausgeschöpft.
Eine Enzyklika jedenfalls, die ebenfalls viel Aufmerksamkeit erregt hat und bei Weitem nicht unbeachtet geblieben ist, feiert heute ihr 70jähriges Jubiläum: Am 12. August 1950 hat Pius XII. sein Lehrschreiben "Humani generis" veröffentlicht. Aufs Ganze betrachtet schloss die Herausgabe dieser Enzyklika eine Reihe von vier bedeutenden Lehrschreiben ab, welche im Letzten vor allem für die theologischen Leitlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) relevant waren. Bereits 1943 widmete sich Pius XII. in "Mystici Corporis" der Ekklesiologie und beschäftigte sich darin vor allem mit dem Bild der Kirche als Leib Christi. Es folgte nur wenige Monate später das Schreiben "Divino afflante Spiritu", das sich mit der historisch-kritischen Exegese auseinandersetzt, und schließlich 1947 die Enzyklika "Mediator Dei". Letztere widmete sich der immer populärer werdenden liturgischen Bewegung und bereitete die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, "Sacrosanctum Concilium", entscheidend vor. Den Abschluss dieser vier Lehrschreiben bildete "Humani generis", das 1950 nur wenige Monate vor der Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel erschienen ist.
Obwohl Pius XII. das Zweite Vaticanum indirekt entscheidend vorbereitet hat, bewegt sich "Humani generis" noch ganz auf dem Boden des Ersten Vatikanischen Konzils (1869-70). In einem doppelten Schritt macht die Enzyklika zunächst auf irrtümliche Lehren der Gegenwart aufmerksam, um anschließend die rechte katholische Lehre darzulegen. Damit arbeitet die Enzyklika mit Ausschließungen, auf deren Basis sie die eigene Position umso profilierter hervorstellt. Das ist die Art und Weise, wie die päpstlichen Lehrschreiben größtenteils bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil funktioniert haben: "Auffassungen, welche die Grundlagen der katholischen Lehre auszuhöhlen drohen" werden verurteilt, die eigene Lehre hingegen wird im Gegenzug zu diesen Positionen formuliert und tritt damit umso deutlicher hervor. Erst die Grammatik des Zweiten Vaticanums überwindet diese Sprachform und sucht eine wohlwollende und hochschätzende Auseinandersetzung mit den Anderen. "Humani generis" ist solch eine Grammatik noch fremd. Und das, obwohl die Enzyklika nur neun Jahre vor der Einberufung des Konzils durch Johannes XXIII. veröffentlicht wurde.
"Nouvelle Théologie" fragt: Wie steht der moderne Mensch vor Gott?
Die größte Kritik, die "Humani generis" formuliert, gilt der sogenannten "neuen Theologie", die besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich aufkeimt. Die "Nouvelle Théologie" war der Versuch, das wissenschaftlich-theologische Denken zu vertiefen und wieder neu mit Leben zu erfüllen. Die Vertreter der "Nouvelle Théologie" erkannten, dass eine bloße Beschäftigung mit einer sterilen Darstellung von Glaubenswahrheiten dem christlichen Glauben nicht gerecht wird. Eine bloße Beschränkung auf das Innen des Glaubens konnten diese Theologen nicht weiter nachvollziehen. Ihre große Leistung lag darin, dass sie die Bedeutung des Außen für den christlichen Glauben entdeckten. Theologie, so ihre Einsicht, kann nicht nur aus einer reinen Binnenperspektive betrieben werden. Eine Theologie, die einen pastoralen Ansatz verfolgt, braucht die Auseinandersetzung mit ihrem Außen, um nicht in sich selbst aufzugehen. Die grundsätzliche Frage, mit der sich die Vertreter der "Nouvelle Théologie" auseinandersetzten, lautete: Wie steht der moderne Mensch vor Gott? Gerade im Nachkriegsfrankreich setzte sich die Einsicht durch, dass die Öffnung zur Welt hin kein Verlust für theologisches Denken darstellt, sondern dass Theologie und Glaube durch die Beschäftigung mit ihrem Außen etwas über sich selbst lernen können. Die klassische und vom Lehramt favorisierte neuscholastische Methode wurde dahingehend auch sehr kritisch beäugt: Sie taugte nur mehr, um Theologie von ihrem Innen her zu betreiben. Vor allem die Bibel und die Patristik wurden zu den Quellen, auf die sich die "Nouvelle Théologie" zunehmend stützte.
Die Enzyklika "Humani generis" war gewissermaßen der Schlusspunkt unter die Auseinandersetzung des päpstlichen Lehramts mit den Anhängern der "neuen Theologie". Bedeutende Vertreter dieser neuen theologischen Denkrichtung wurden infolge der Enzyklika von ihrem kirchlichen Lehrauftrag entbunden. So erging es Marie-Dominique Chenu OP ebenso wie Yves Congar OP oder Henri Bouillard SJ – Theologen, die später auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erheblichen Einfluss auf die Entstehung der Konzilstexte ausübten und die im Anschluss daran teilweise sogar zu Kardinälen erhoben wurden. Für Pius XII. jedenfalls war ihre Art, Theologie zu treiben, noch völlig unbekannt. Mit "Humani generis" versuchte er, das Lehramt gegen diese Denkrichtung zu positionieren: Nicht nur die "Nouvelle Théologie", auch neuere Strömungen in der Philosophie, wie der Idealismus, der Pragmatismus oder der Historizismus werden ausdrücklich verurteilt. Damit schließt "Humani generis" eng an den Syllabus Errorum an, den Pius IX. 1864 veröffentlichte.
Der Schutz des päpstlichen Lehramtes vor neuen theologischen Strömungen und damit verbunden die Darlegung der richtigen katholischen Lehre ist der Grundduktus, der die Enzyklika "Humani generis" durchzieht. Die Ausschließung des Außen und die Konzentration auf das Innen der Kirche werden mit diesem päpstlichen Lehrschreiben reproduziert. Damit steht "Humani generis" dem theologischen Ansatz entgegen, den die "neue Theologie" vertreten hat und der schließlich wenige Jahre später auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil Schule machte. Was bei aller scharfen Verurteilung der Vertreter der "Nouvelle Théologie" letztlich bleibt, ist die Einsicht, dass Lehrverbote zurückgenommen wurden und dass es gerade jene Öffnung auf das Außen der Kirche hin war, die letztendlich die Grammatik des Zweiten Vatikanischen Konzils nachhaltig beeinflusste. So steht "Humani generis" zwar an der Schwelle zum Zweiten Vaticanum und atmetet dennoch ganz und gar den Geist einer auf das Innen der Kirche konzentrierten Ekklesiologie des Ersten Vatikanischen Konzils.