Wolf: Katholische Kirche so wie heute gibt es erst seit 150 Jahren
Die römisch-katholische Kirche mit ihrem gegenwärtigen Gesicht ist laut dem Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf noch nicht so alt wie oft vermutet. "Vieles von dem, was wir heute für 'immer schon katholisch' halten, ist eben gerade erst 150 Jahre alt und hat manchmal nur wenig mit den Ursprüngen des Christentums und einer vermeintlichen Unveränderlichkeit von Glauben und Lehre zu tun", sagte Wolf dem Kölner Stadtanzeiger in einem Interview am Donnerstag.
"Wir haben es heute mit einem auf den Papst konzentrierten Einheitskatholizismus zu tun. Bis weit ins 19. Jahrhundert aber war die römische Kirche genau das, was das Wort 'katholisch' eigentlich sagt: umfassend, vielfältig. Es gab nicht 'den' Katholizismus", so Wolf. "Einen unfehlbaren Papst zum Beispiel gibt es auch erst seit 150 Jahren." Die sogenannten Ultramontanen, die die Kirche allein beim Papst gut aufgehoben sahen, hätten während des Pontifikats von Papst Pius IX. (1846-1878) die alleinige Macht ergriffen und andere Gruppen "verketzert" und die Unfehlbarkeit des Papstes eingeführt.
Eine weitere Erfindung des 19. Jahrhunderts sei außerdem das Jurisdiktionsprimat des Papstes, so Wolf: Das Kirchenoberhaupt könne überall auf der Welt in die Kompetenz der Bischöfe hineinregieren und Gläubige müssten stets dem zustimmen, was der Papst gesagt habe. Das habe aber auch einen Nachteil. "Kein Papst kommt mehr ohne Weiteres von dem herunter, was seine Vorgänger alles an – Entschuldigung! – Unsinn von sich gegeben haben. Sonst müsste er ja zugeben, dass es den Vorgängern am Heiligen Geist gefehlt hat."
Diese Erfindungen seien bis heute wirkmächtig und stärker als 1800 Jahre Kirchengeschichte zuvor. "Was mir dabei immer wieder auffällt, nicht zuletzt bei mir selbst: Am Ende schauen die Katholiken immer auf den Papst, auch wenn sie es eigentlich gar nicht wollen", sagte Wolf.
Von Franziskus betonte Synodalität "bloßes Wortgeklingel"
Das gelte beispielsweise auch für die Rezeption der päpstlichen Instruktion zu Pfarreireformen. Sie beanspruche, den Bischöfen überall auf der Welt vorschreiben zu können, wie sie Pfarreien zu organisieren hätten. "Da geht es um die ureigene Domäne der Bischöfe, in die der Papst knallhart hineinregiert, weil der Jurisdiktionsprimat es ihm zu erlauben scheint", sagte Wolf.
Die von Papst Franziskus betonte Synodalität sei "bloßes Wortgeklingel", so lange sie keine praktischen Folgen hätte. "Was wir im Moment erleben, sind vage Hoffnungen auf 'synodale Wege', die aber schon am Ende sind, bevor sie richtig losgehen." Wenn die Bischöfe mit dem Dokument nicht einverstanden seien, sollten sie als Nachfolger der Apostel den Mut zum Widerstand haben, den Papst beim Wort nehmen und Synodalität und Subsidiarität bei ihm einfordern.
In der Geschichte hätten Päpste die Lehre der Kirche immer wieder geändert und gleichzeitig versucht, den Geltungsbereich der Unfehlbarkeit immer weiter auszudehnen, sagte Wolf. So heiße es beispielsweise, Johannes Paul II. habe 1994 den Ausschluss von Frauen vom Priesteramt letztverbindlich festgestellt. Dafür hätte er jedoch die Zustimmung aller Bischöfe weltweit einholen müssen, so Wolf. "Ich mag nur ein dummer Historiker sein: Aber ich hätte schon gern einmal die Belege dafür gesehen, dass der Papst das getan hat, was er mindestens hätte tun müssen, um Geltung und Gefolgschaft für seine Position verlangen zu können."
Die Kirche könne aus ihrer aktuellen Erstarrung aber wieder in die Bewegung kommen, glaubt der Münsteraner Professor. Dafür müsse man bereit sein, die historische Bedingtheit kirchlicher Lehren anzuerkennen und sie an die Erfordernisse der Gegenwart anzupassen, wie es mehr als 1800 Jahre lang der Fall gewesen sei – "bis zu dem Tag vor 150 Jahren, an dem der Papst unfehlbar wurde", so Wolf. "Tradition oder Traditionalismus, das ist die hier die Frage. Und für die Kirche ist es die Existenzfrage". (cbr)