Der Präsident des Cäcilien-Verbandes im Interview

Wie Kirchenchöre unter der Corona-Krise leiden

Veröffentlicht am 24.08.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Eine mit Corona vergleichbare Krise habe es auch bei den Chören noch nicht gegeben, sagt der Präsident des Cäcilien-Verbandes, Marius Schwemmer. Trotz aller Lockerungen sind die Chöre von Normalität immer noch weit entfernt. Eine Umfrage soll nun zeigen, wie es aktuell wirklich um sie steht.

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Mit der Corona-Krise kam im März auch die Chorarbeit von Kirchenchören überall in Deutschland von heute auf morgen zum Erliegen. Doch während es in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens in den vergangenen Wochen immer mehr Lockerungen gab, ist die Chorszene von einer Normalität noch weit entfernt – ein langfristiger Schaden ist nicht auszuschließen. Mit einer Umfrage wollen sich die Chorverbände Pueri Cantores und Cäcilien-Verband nun einen Überblick verschaffen.

Frage: Herr Schwemmer, was wollen Sie mit der Umfrage erreichen?

Schwemmer: Wir wollen die Situation der Chöre konkret erfassen. Im Moment haben wir eine Ahnung, aber die Regeln der Bundesländer und Bistümer und auch deren Umsetzung unterscheiden sich ja doch. Mit der Umfrage können wir den kirchlichen und staatlichen Stellen dann zudem fundiert aufzeigen, welche Unterstützung Chöre brauchen, damit sie auch nach der Corona-Zeit Bestand haben.

Frage: Kann so eine Umfrage denn mehr sein als eine Momentaufnahme? Die Bestimmungen "von oben" werden doch sicher stetig dem aktuellen Infektionsstand angepasst ...

Schwemmer: Seit Juni, Juli sind unseres Wissens nach keine Verordnungen mehr gekommen, die die Bestimmungen grundlegend ändern. Da geht es mehr um Details. Von daher ist die Lage bisher relativ stabil. Mit der Umfrage wollen wir jetzt zum Probenbeginn nach den Sommerferien eine gute Übersicht bekommen.

Frage: Was genau fragen Sie in der Umfrage ab?

Schwemmer: Es geht darum, ob und unter welchen Bedingungen die einzelnen Chöre wieder proben. Wenn sie "physisch" proben, welchen Probenort sie haben – also, zum Beispiel, ob sie mit Abstand in der Kirche proben oder – solange es das Wetter zulässt – im Freien. Oder wenn sie digital proben, mit welchen Programmen und Erfahrungen. Wir wollen wissen, welche Konzerte ausgefallen sind, ob und wann Chorleiterinnen und Chorleiter überlegen, sie nachzuholen und vor allem, welche finanzielle Gefährdung sie durch die Krise sehen.

Frage: Wie stellt sich die Lage der Chöre aus Ihrer Sicht gerade dar? Ist Singen überhaupt im nennenswerten Umfang möglich?

Schwemmer: Wir haben gemeinsam mit dem Chorverband Pueri Cantores ein Hygienekonzept erstellt, einen Leitfaden für die Chorarbeit in der Corona-Krise, der auf die konkreten Vorgaben der jeweiligen Bundesländer und (Erz-)Diözesen dann natürlich noch konkretisiert werden muss. So sollten zum Beispiel die Sängerinnen und Sänger untereinander mindestens drei Meter Abstand haben. Wenn ein Chor etwa 20 bis 25 Mitglieder hat, dann bieten die meisten Kirchen dafür schon ausreichend Platz. Mit so viel Abstand untereinander zu singen, ist aber für viele Chöre natürlich eine Herausforderung. Da ist die einzelne Stimme viel mehr gefragt als im eng bestuhlten Proberaum. Keiner kann sich an den Nebenmann oder die Nebenfrau dranhängen, jeder einzelne ist hörbar. Auch deswegen tun sich manche Ensembles schwer mit den neuen Regeln. Andere sehen es als Chance und Herausforderung. Bei manchen Chören bleiben aber auch Sängerinnen und Sänger weg, weil sie Bedenken vor einer Ansteckung haben oder weil gar nicht klar ist, wofür jetzt geprobt wird. Von einer Probearbeit wie vor Corona sind wir natürlich noch weit entfernt.

Linktipp

Die Umfrage des Cäcilien-Verbandes und des Chorverbands Pueri Cantores mit den einzelnen Fragen ist auch online abrufbar.

Frage: Aber es gibt doch auch viele Chöre, die mehr als 25 Mitglieder haben. Was machen die?

Schwemmer: Die könnten sich aufteilen, zum Beispiel nach Stimmgruppen: In einer Woche kommt der Sopran, in der nächsten der Alt, dann Tenor und Bass zum Beispiel. Manche Chöre werden auch einfach in mehrere kleine Ensembles aufgeteilt. Aber dann ist die Herausforderung an den Chorleiter, alle mitzunehmen, und nicht manche zu bevorzugen. Und es gibt natürlich auch weiter die Möglichkeit virtueller Proben ...

Frage: Wie läuft so eine Online-Probe ab?

Schwemmer: Das geht über Videokonferenz-Plattformen wie zum Beispiel Skype, WebEx oder Zoom. Der Chorleiter oder die Chorleiterin lädt ein und die einzelnen Sängerinnen und Sänger können sich dann dazuschalten. Während der Probe sehen sich die Teilnehmenden gegenseitig auf dem Bildschirm. Problematisch ist es aber, dass es oft Verzögerungen gibt und man nur den Chorleiter hört, die anderen Singenden aber nicht. Zudem kann auch der Chorleiter die Chormitglieder nicht hören, die stummgeschaltet sind. Damit ist eine Kontrolle der Probenarbeit ebenso wie ein Arbeiten an Intonation und Chorklang nicht wirklich möglich. Von daher sind virtuelle Proben schon eine Einbahnstraße. Aber immerhin: Die Menschen können wieder proben.

Frage: Wie ist das mit Auftritten oder Konzerten – können die Chöre so etwas im Moment überhaupt planen?

Schwemmer: Das ist schwierig. Es ist unklar, wie sich die Infektionszahlen weiterentwickeln und wie die staatlichen Reaktionen darauf sind. Das macht eine Planung kaum möglich. Wir bekommen viele Rückmeldungen, dass bei den meisten Chören im Moment der Gemeinschaftsgedanke im Vordergrund steht, es also darum geht, die sozialen Kontakte und die Gemeinschaft zu erhalten. Erst der nächste Schritt ist das musikalische Programm, was und wofür man probt.

Frage: Wie groß ist der Frust bei Chorleitern und Sängern?

Schwemmer: Das gemeinsame Singen fehlt allen – Sängerinnen und Sängern wie Chorleitern und Chorleiterinnen. Der Stopp kam ja sehr unvermittelt. Seitdem haben wir verschiedene Gefühlsphasen durchlaufen. Am Anfang war es eben sehr ungewohnt, keine Proben zu haben und auch an den großen Festen wie Ostern keine Gottesdienste wie gewohnt oder überhaupt zu gestalten. Dann wurden die Möglichkeiten des virtuellen Probens, wenn sie gegeben waren, ausgereizt, anschließend war es schön, sich endlich wieder treffen zu können. Nun sind alle gespannt, was der Herbst bringt. Bei ganz vielen ist der Wunsch groß, weiter zu machen. Manche haben die Corona-Pause aber auch genutzt, um mit den Chor aufzuhören – weil sie sich das ohnehin schon überlegt hatten oder weil sie zur Risikogruppe gehören.

Bild: ©privat

Marius Schwemmer ist Diözesan- und Dommusikdirektor von Passau und Präsident des Allgemeinen Cäcilien-Verbandes für Deutschland.

Frage: Sind durch die Krise auch neue Formate entstanden?

Schwemmer: Ja, es gibt jetzt verstärkt methodische Überlegungen, wie Proben funktionieren können, auch wenn sich der Chor nicht treffen kann: Indem zum Beispiel Übe-Dateien für die einzelnen Stimmen verschickt werden, es sozusagen Hausaufgaben gibt, um zu Hause alleine zu proben. Mit dieser Vorbereitung können Chorleiter auch in einer physisch sehr kurzen gemeinsamen Probezeit die Einzelteile effektiv zusammenbauen. Solche Hybrid-Methoden könnten dann auch nach Corona noch funktionieren.

Frage: Gab es für Chöre jemals eine vergleichbare Krise?

Schwemmer: Nein, eine solche Krise wie Corona gab es für den Chorgesang noch nie. Nach wie vor gilt, dass Singen gesund ist, aber nun in Gemeinschaft infektiös, gefährlich sein kann. Das erscheint schon paradox.

Frage: Wie hat Corona Ihren persönlichen Chorleiteralltag verändert?

Schwemmer: Ich durfte eben auch nicht wie gewohnt proben und habe das sehr gespürt. Ich habe versucht, mit verschiedenen virtuellen Methoden etwas zu machen, sogar einen "virtuellen Chorauftritt" über Video bei meinem Studentenchor organisiert. Das waren interessante Erfahrungen, aber es kann das Singen in Gemeinschaft wie vor Corona für mich nicht ersetzen. Das fehlt mir auch, sogar sehr. Aber ich habe noch Glück: Manche freiberuflichen Kolleginnen und Kollegen sind ja in ihrer Existenz bedroht. Viele Künstlerinnen und Künstler können außerdem während Corona ihre Begabung, ihr Talent nicht mehr ausleben. Da kommt zu dem wirtschaftlichen nochmal ein ganz persönlicher Aspekt. Beides führt bei manchen zu Sinnfragen.

Frage: Wird sich die Kirchenmusik je wieder ganz von der Corona-Krise erholen oder kann es doch einen nachhaltigen Knick geben?

Schwemmer: Ich bin überzeugt, dass die Musik und das Singen von Chören in der Kirche nicht verstummen werden. Das hat sich vor allem bei den Gottesdiensten im Livestream gezeigt, die von den verantwortlichen Musikern in der Regel sehr reflektiert, kreativ, konzentriert und auf hohem Niveau mitgestaltet worden sind. Gleichzeitig war das Chorwesen schon vor der Pandemie im Umbruch, vor allem da die traditionellen Kirchenchöre altern. Von daher hoffe ich natürlich, dass es keinen grundsätzlichen Abbruch gibt. Dazu möchte der Cäcilien-Verband ebenso wie der Chorverband Pueri Cantores auch beitragen. Aber ich denke, dass der Einschnitt durch Corona noch lange zu spüren sein wird. Dennoch wünsche ich mir, dass auch das Chorsingen von Laien in der Breite nach Corona weiterlebt. 

Von Gabriele Höfling

Zur Person

Marius Schwemmer (*1977) ist Diözesan- und Dommusikdirektor von Passau sowie als Ständiger Diakon in der Katholischen Studentengemeinde an der Universität Passau eingesetzt. Ehrenamtlich steht der Leiter verschiedener Chöre dem Allgemeinen Cäcilien-Verband für Deutschland als Präsident vor. Schwemmer studierte unter anderem Katholische Kirchenmusik (A-Diplom), Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Liturgiewissenschaft in Würzburg. Seine musikalische Ausbildung ergänzte er unter anderem durch ein Kontaktstudium Dirigieren/Chorleitung in Trossingen.