Wo stehen wir? Wo gehen wir hin? – Corona als Krise und Chance
Krisen bringen auch neue Begriffe hervor und neue Vorstellungen. Wer hätte am Anfang des Jahres auch nur ahnen können, was im Verlaufe dieser Monate weltweit geschehen würde. Wer hatte vorher etwa den Begriff "Lock-down" gekannt, der seitdem in aller Munde ist. In einer dramatischen Weise haben wir gesehen, dass unser Leben, unsere Lebensverhältnisse, unsere Geschichte letztlich nicht planbar und sicher prognostizierbar sind. Es kann tatsächlich so etwas wie einen Stillstand geben, eben einen "Lock-down", den keiner von uns sich hat vorstellen können. Vielleicht haben wir es gelegentlich ironisch formuliert: Nichts ist so unsicher wie die Zukunft! Aber haben wir es je – jedenfalls im gesellschaftlichen Rahmen – so existenziell erfahren wie in diesem Jahr? Wohl kaum.
In unserem persönlichen Leben sieht das schon anders aus. Da kommen Ereignisse, Schicksalsschläge, Herausforderungen auf uns zu, die uns je neu fordern. Aber jetzt geht es eben auch um eine kollektive Erfahrung, die ein ganzes Gemeinwesen, eine Kultur, ja die Weltfamilie erschüttert und bewegt. Und deshalb auch Konsequenzen haben wird in vielen Bereichen. Da geht es nicht nur um die Zukunft der Wirtschaft, sondern um unsere Sicht auf die eine Menschheitsfamilie, um unsere gemeinsame Hoffnung, um ein neues kulturelles Miteinander. Ich schließe mich denen an, die – wir sind ja noch mitten in der Krise – schon jetzt festhalten, dass eine einfache Rückkehr zu dem, was vorher war, so nicht gelingen kann und dass diese Pandemie, die in alle Lebensbereiche hineinreicht, Tendenzen beschleunigt und verschärft, die schon vorher erkennbar waren.
Die in den letzten Jahren immer wieder geäußerte Kritik, dass eine rein wirtschaftliche Globalisierung, die die Länder und Volkswirtschaften im Grunde nur zur Anpassung an einen beschleunigten Kapitalismus zwingt, ist nur zu berechtigt. Ein solcher Weg war und ist nicht zukunftsfähig. Eine globale Soziale Marktwirtschaft stand dagegen als ein Projekt vor Augen, aber die Realität sah und sieht anders aus. Die notwendige Ausrichtung auf einen Multilateralismus, auf eine gemeinsame Ordnung der Welt, auf Kooperation, ist eher übergegangen in Unilateralismus, Eigeninteressen und den Wettbewerb von Großmächten auf den verschiedenen Ebenen. Hat sich durch Corona daran etwas verändert?
"Der Kapitalismus beschleunigt sich eher noch einmal"
Ich kann das nicht erkennen. Im Gegenteil. Der Kapitalismus beschleunigt sich eher noch einmal. Denn offensichtlich sind auch die Hilfen der Staaten für die Wirtschaft darauf ausgerichtet, dass alles möglichst schnell wieder in Gang kommt, ohne dass dahinter eine Idee der Gestaltung oder das Setzen neuer Prioritäten wirklich sichtbar würde. Da reicht es nicht aus von Digitalisierung zu reden. Das ist ja nur ein Weg, kein Ziel. Es bleibt dabei, dass das einzige Movens der Wirtschaft die Kapitalinteressen sind und das weltweit. Selbst der Sparer mit kleinem Einkommen ist ja angewiesen auf Fonds, die an Kapitalprofiten orientiert sind und zwar weltweit. Wie sollen Menschen mit kleinen Einkommen überhaupt Vermögen für sich und ihre Familien aufbauen, wie es die Katholische Soziallehre immer gefordert hat? Es gibt keine Diskussion, die das Thema aufgreift, was mich seit Jahren bewegt: Wie können wir über den Kapitalismus hinaus denken? Oder um mit Papst Franziskus zu sprechen: Wie können wir an einer Wirtschaft arbeiten, die wirklich dem Menschen dient und nicht nur an materiellen Interessen orientiert ist?
Zunächst darf man froh sein, dass es auch eine Rückkehr der "Politischen Ökonomie" gibt, also einen neuen Blick auf das Verhältnis von Politik und Ökonomie. Neu wird gesehen, wie entscheidend der Staat ist, das Gemeinwesen, wie wichtig die Diskussion über Staat und Markt ist, über Gemeinwohl, öffentliche Güter und private Interessen und das rechte Verhältnis zueinander. Wenn doch alle Erfahrung lehrt, dass der Markt nicht von sich aus soziale und politische und ökologische Probleme löst, sondern tendenziell sogar verschärft, dann kann es doch keine Alternative zur Politik geben, die einen Rahmen vorgibt und gemeinsame Ziele organisiert und zum Tragen bringt und zwar auch auf globaler Ebene. Das alles ist ja lange bekannt. Aber gibt es wirklich den Willen, jetzt in dieser Krise neue Akzente zu setzen? Es scheint, dass die Europäische Union ein wenig stärker zusammenrückt und sich auch als globaler und politischer Akteur aufstellen will, der in diese Richtung arbeitet. Aber wird das in einem Jahr vergessen sein und wir verstärkt in eine Renationalisierung und einen Wettbewerb der Eigeninteressen hinübergehen? Ich befürchte es.
Seit Jahren wird die Diskussion (auch in den Wirtschaftswissenschaften) über die wachsende Ungleichheit geführt. Auch wenn die Produktion von Gütern und Dienstleistungen weltweit zugenommen hat und damit wohl auch statistisch gesehen der Reichtum, auch wenn in manchen Bereichen bittere Armut überwunden werden konnte, ist doch die Ungleichheit zwischen den Völkern und innerhalb der Völker zum Teil erheblich größer geworden. Ökonomen nannten das ja schon früher in einem Missverständnis im Blick auf das Wort des Neuen Testamtes den "Matthäus-Effekt": Wer hat, dem wird gegeben. Es ist wohl zu erwarten, dass sowohl innerhalb der Länder wie auch zwischen den nationalen Volkswirtschaften die, die viel haben, sowohl an Wissen wie Kapital, als stärker, vielleicht sogar als Sieger, aus dieser Krise hervorgehen. Und die, die wenig haben, die jetzt schon in prekären Verhältnissen leben, die kurz vor der Möglichkeit des Aufstiegs sind, werden zurückgeworfen. Wir können jetzt schon in vielen ärmeren Ländern die katastrophalen Auswirkungen der Pandemie sehen. Davon wird in unserem Land viel zu wenig berichtet.
Corona-Krise müsste Kräfte der Solidarität stärken
Insofern könnte man sagen: Die Sorge um das eine Haus der Schöpfung, wie sie Papst Franziskus in der Enzyklika "Laudato sì" so eindringlich beschrieben hat, ist eher größer geworden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kräfte zusammentun, um dieses eine Haus bewohnbar zu machen und zwar nachhaltig für alle, ist eher schwach entwickelt. Die Corona-Krise müsste eigentlich die Kräfte der Solidarität und der Orientierung am "Welt-Gemeinwohl" stärken. Dann wäre die Krise auch eine Chance.
Aber wir erleben seit Jahren, dass in vielen Ländern, auch etwa in den USA und Europa, die Polarisierungen, der Nationalismus, der politische und religiöse Fundamentalismus (in allen Religionen) zunimmt und das verbunden zum Teil mit kruden Verschwörungstheorien und plakativen Schuldzuweisungen. Ein Weg zu einer erneuerten weltweiten Solidarität sieht anders aus. Eine wachsende Ungleichheit wird eine solche Option eher noch mehr erschweren.
„Die Sorge um das eine Haus der Schöpfung, wie sie Papst Franziskus in der Enzyklika "Laudato sì" so eindringlich beschrieben hat, ist eher größer geworden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kräfte zusammentun, um dieses eine Haus bewohnbar zu machen und zwar nachhaltig für alle, ist eher schwach entwickelt.“
Da kommt auch die Frage auf: Wo steht die Kirche? Was ist ihre Antwort? Wo ist ihr Engagement? In seinen Ansprachen während der Corona-Zeit, besonders in den letzten Wochen, hat Papst Franziskus sehr deutlich seine Position und damit auch die Position der Katholischen Kirche unterstrichen: Es geht durchaus darum, die eigene Endlichkeit, die Begrenztheit der Schöpfung und des Menschen zu sehen, die Unvollkommenheit, das Leiden und die Unausweichlichkeit des Todes. Aber gerade deshalb brauchen wir Mut und Entschlossenheit, den Auftrag zu erkennen im Miteinander der einen Menschheitsfamilie Wirtschaft und Gesellschaft so zu gestalten, dass alle im Blick sind, besonders die Schwachen und Kranken, die Armen, Ausgegrenzten hier und weltweit. Eine Politik und eine Wirtschaft, die im sogenannten "freien Spiel der Kräfte" letztlich doch nur die begünstigt, die jetzt schon oben sind, die jetzt schon Besitzende sind, kann nicht akzeptiert werden und ist auch nicht nachhaltig. So werden Unruhen und Spannungen schon jetzt vorbereitet und erst recht das Ziel, das gemeinsame Haus der Schöpfung zu schützen, nicht erreicht. Es steht auch letztlich die Idee einer offenen Gesellschaft zur Debatte, die auf dem Konzept einer verantwortlichen Freiheit beruht.
Natürlich hat die Kirche auch in dieser Krise vor allem von Gott zu reden. Von einem Gott, der nicht Teil der Schöpfung ist, der die Welt geschaffen hat, aber der uns eben nicht allein lässt. Für uns als Christen wird gerade jetzt noch deutlicher sichtbar, dass in allen persönlichen und gesellschaftlichen Katastrophen das Bild des gekreuzigten Gottes, also des Gottes, der uns anschaut in der Gestalt Jesu von Nazareth, ein großes Zeichen der Hoffnung ist. Das ist gleichzeitig das Bekenntnis zu einem Gott, der der Vater aller Menschen ist, nicht nur der Christinnen und Christen. Und deshalb ist jeder Fundamentalismus mit dem Glauben an den Gott und Vater Jesu Christi unvereinbar. Die Kirche kann nur stehen auf der Seite derer, die sich für das gemeinsame Haus der Schöpfung für alle Menschen einsetzen und auf der Seite der verantwortlichen Freiheit stehen, die Ausdruck der Gottebenbildlichkeit des Menschen und damit seiner Würde ist.
Glaube und Religion werden benutzt
Aber gerade in dieser Krise werden auch im Bereich der Religion die Fundamentalismen stärker, so mein Eindruck. Und auch diese Tendenzen gab es vorher schon und zwar in allen Religionen. Glaube und Religion werden benutzt für politische Zwecke, für Ideologien, für Abgrenzung und Hass. Krisen sind eben nicht nur Ausgangspunkte neuen Verstehens, sondern oft Orte der Angst und der Abgrenzung. Im Grunde ist jetzt eigentlich die Stunde der christlichen Botschaft: Es gibt Gott den Schöpfer der Welt, wir sind nicht allein, wir haben eine Hoffnung und in Jesus ist dieses absolute Geheimnis, das wir "Gott" nennen, der Bruder aller Menschen geworden. Das sollte ein Impuls sein, ein Trost und eine Quelle der Kraft für unser Engagement.
Also wo stehen wir? Noch mitten in einer Krise, die Auswirkungen hat in allen Bereichen unseres Lebens. Und wo gehen wir hin? Hoffentlich in eine Welt, die gelernt hat, dass Solidarität und der Blick auf die eine Menschheitsfamilie, auf das eine Haus der Schöpfung und der Blick auf die Armen umso notwendiger ist, auch wenn wir wissen, dass wir keine vollkommene Welt erreichen können, denn wir sind ja nur Menschen, wir sind nicht Gott. In jedem Gebet, in jedem Gottesdienst und im Dienst am Nächsten stehen wir als Kirche für diese Hoffnung ein, öffentlich und hoffentlich mit vielen Menschen. Das ist ein Zeichen, ein notwendiges und dann vielleicht doch auch ein systemrelevantes.