Rockerpriester und Nonkonformist: Guy Gilbert wird 85
"Glaube ohne Werke ist Katzenpisse!", sagt er. Die Kirche rede immer von der Liebe zu den Bedürftigen. "Aber wenn sie diese Liebe nicht lebt, dann soll sie die Klappe halten." Guy Gilbert liebt Kraftausdrücke. Liebt es, die Bigotten aufzuschrecken – und die Kirchenfernen mit seinem Outfit zu verblüffen.
Der da – ein katholischer Priester? Die langen grauen Haare, die abgewetzte Lederkutte, die Selbstgedrehten zwischen den dicken Ringen am Finger. Ja, in seinen ewigen Cowboystiefeln hat Guy Gilbert ein sehr ungewöhnliches Priesterleben durchlaufen. Er hat es vor allem Jugendlichen gewidmet, die auf die schiefe Bahn geraten sind. Am 12. September wird er 85 Jahre alt.
Mit drei Päpsten hat der "Rockerpriester" aus dem westfranzösischen Rochefort schon gesprochen – in Lederjacke, versteht sich. Mit Franziskus ist er am besten klargekommen. Der segne nicht nur die Bettler und Obdachlosen auf dem Petersplatz, sondern habe für sie auch Duschen und Toiletten aufgestellt, sagte Gilbert im Interview des Portals katholisch.de über die Begegnung 2015. Das ist auch sein Weg: die richtige Ansprache finden, Vertrauen schaffen – und dann konsequent handeln. Seit einem halben Jahrhundert kümmert sich Gilbert um Straßenkinder, Drogenabhängige und jugendliche Straftäter. Im Algerien-Krieg parallel zum Militärdienst in Algier zum Priester ausgebildet und 1965 geweiht, kehrte er 1970 nach Frankreich zurück – und fand bei den Jugendlichen im 19. Pariser Arrondissement seine Bestimmung.
Hilfe von Tieren
Für gestrauchelte und gestrandete Jugendliche kaufte er 1974 in der Verdon-Schlucht nahe dem südfranzösischen Castellane einen ruinierten Bauernhof, wo Jugendliche, auch mit Hilfe von Tieren, soziales Verhalten lernen sollen. Rund 250 Jugendliche beteiligten sich über die Jahre am Wiederaufbau der Bergerie de Faucon in Rougon in der Haute Provence. Gilbert bringt den Jugendlichen, die ihm gerichtlich zugewiesen werden, hier gesellschaftliche Grundregeln bei – indem sie Tiere betreuen. Kühe, Hunde, Wildschweine, Strauße, Kängurus und Büffel leben mit den teils nicht mal 14 Jahre alten Kindern, die alle ein Vorstrafenregister mitbringen. Gilbert selbst hat als drittes von 15 Kindern von seinen Eltern viel Liebe erfahren; etwas von diesem Rückhalt will er weitergeben. Er will ihnen beweisen: Die Liebe Gottes gibt es auch für sie.
Die Bergerie de Faucon hat sich über die Jahrzehnte auch zu einem spirituellen Ort entwickelt, zu dem in den Sommermonaten Menschen aus ganz Frankreich pilgern. Denn Guy Gilbert ist längst nicht mehr nur für schwierige Jugendliche zum Ratgeber geworden. 2003 zelebrierte der "Priester der Halbstarken" gemeinsam mit dem Brüsseler Kardinal Godfried Danneels die Brautmesse des belgischen Prinzen Laurent.
Der wäre ohne Gilbert sogar zum Islam konvertiert, will der Journalist und Hofberichterstatter Jan van den Berghe wissen. Denn ursprünglich habe der Prinz einmal eine Frau aus Mauretanien heiraten und Muslim werden wollen. Doch Gilbert, der für ihn wie ein zweiter Vater sei, habe ihn überzeugt, bei seiner eigenen Religion zu bleiben. Im Dezember 2015 zelebrierte Gilbert auch die Hochzeit des belgischen Sängers Paul Van Haver alias "Stromae".
"Underdogs" sollen sogar gemordet haben
Immer wieder erzählt der "Rockerpriester" in seinen Medienauftritten von seinen "Underdogs", die auf der Straße oder im Gefängnis lebten, weil sie teils schon als 13-Jährige gestohlen, vergewaltigt oder sogar gemordet hätten. Und auch zu einem seiner Silberringe an der Hand hat Gilbert eine Geschichte: Eines Nachts um zwei Uhr früh habe er einen Jungen auf der Straße getroffen und ihm geholfen, seine Mutter wiederzufinden, eine Prostituierte. Später habe dieser Junge ihm diesen Ring gegeben, in der Kathedrale Notre-Dame, und ihm aufgetragen: "Trag ihn bis an dein Lebensende." Das tue er – als ein Symbol für alle Jugendlichen, für er da ist. Für sie da sein – dazu gehört auch, in der Apotheke "Dutzende Kondome" für sie zu kaufen. Denn, so ist Guy Gilbert überzeugt, es reiche nicht aus, ihnen zu sagen, dass sie "sich beherrschen sollen".
Protokoll und Ehrungen sind, wie sich denken lässt, nicht wirklich das Ding für den "Rockerpriester". Doch wenn es der Sache dienlich ist... Ende 2007 gehörte Gilbert zum Gefolge von Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Vatikan. Benedikt XVI. unterhielt sich damals lange mit ihm. Und Präsident Jacques Chirac machte ihn 2005 sogar zum Ritter der Ehrenlegion. Die Auszeichnung überreichte ihm passenderweise Abbe Pierre (1912-2007), der "Vater der Obdachlosen". 2015 erfolgte die Beförderung zum Offizier der Ehrenlegion.
Seit 2018 ist Gilbert auch Domherr an Notre-Dame de Paris. Bei allem Schimpfen auf kirchliche Missstände: Ihn ärgert, wenn um einige Dutzend Priester, die sich in Frankreich etwas zu Schulden haben kommen lassen, viel Medienwirbel herrscht, die Tausenden anderen aber unbeachtet bleiben. Sein Rezept: sich nicht zu viel gegen Vorwürfe verteidigen; das sei nur Zeitverschwendung: "Lebe das Evangelium, so gut du kannst. Das ist nie Zeitverschwendung".