Standpunkt

"Fratelli tutti": Der Papst hätte ein anderes Zitat wählen sollen

Veröffentlicht am 18.09.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Seit der Titel der neuen Papst-Enzyklika "Fratelli tutti" bekannt ist, wird darüber diskutiert. Wir Christen können es eigentlich besser, kommentiert Gudrun Sailer – und hätte sich von Franziskus ein anderes Zitat gewünscht.

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Noch bevor der Papst am 4. Oktober sein neues Lehrschreiben veröffentlicht, ist dessen Titel Gegenstand von Debatten. Besonders im deutschen und angelsächsischen Sprachraum haben Frauen bekundet, sie fühlten sich von dem Titel "Fratelli tutti", wörtlich: "Brüder alle", geradezu ausgeschlossen. Zu Recht?

Zunächst ein Seitenblick in verwandte Kulturen: Katholikinnen aus Frankreich, Italien oder auch Argentinien haben mit ihrem jeweiligen Wort für "Brüderlichkeit" kein Problem, weil sich in ihren Sprachen das, was gemeint ist, vom männlichen Ursprungswort weg emanzipiert hat. Im Deutschen und Englischen ist das nicht der Fall. Im Deutschen sind Brüder Brüder und Schwestern Schwestern, während Brüder und Schwestern zusammen seit jeher Geschwister sind. Das deutsche Wort für Brüderlichkeit ist infolgedessen Geschwisterlichkeit, jedenfalls dort, wo Männer und Frauen gleichermaßen gemeint sind.

Die Sensibilität für diese sprachliche Gegebenheit reicht heute bis ins Liturgische hinein. Wenn wir am Sonntag die Messe feiern und einen Paulus-Brief als zweite Lesung hören, werden wir seit Advent 2018 mit "Schwestern und Brüder" angesprochen. Warum? Weil schon Paulus, obwohl er nur "Brüder" hinschrieb, auch die Schwestern meinte. Da kommt es für manche fast aufreizend daher, wenn Papst Franziskus sich 2020 mit einem Lehrschreiben an "Brüder alle" wendet, aber auch von den Schwestern gelesen und beherzigt werden möchte.

Dem Vatikan ist die Debatte zu Ohren gekommen, und er hat reagiert, was ungewöhnlich und deshalb löblich ist. Der patente Chefredakteur der Vatikan-Medien Andrea Tornielli schrieb in einem Leitartikel, der Titel sei ein wörtliches Zitat des heiligen Franz von Assisi, das könne man nicht willkürlich ändern, außerdem wäre es absurd zu glauben, der Vatikan beabsichtige, die Hälfte der Menschheit als Adressaten des Schreibens auszuschließen. Das glauben die Kritiker des Titels aber ohnehin nicht. Die glauben eher, das Ganze sei im Vatikan mal wieder so durchgerutscht, weil da in der Texterei ganz oben zu wenige "Schwestern" prüfen und beraten. Und Stichwort Absicht: Die Linguistik unterscheidet schon ziemlich lange zwischen der Absicht des Sprechers und der Wirkung des Gesagten. Davon könnte man im Vatikan eigentlich ein Lied in vielen Strophen singen.

Dass sie sich in rein männlichen Sprachformen selbstverständlich mitgemeint fühlen sollen, geht bei uns gerade den jungen Frauen nicht mehr ein. Niemand verlangt, dass Päpste ab sofort mit Gendersternchen hantieren. Nein, wir können es besser: Die christliche Sprache an sich ist inklusiv, weil sich die christliche Botschaft der Erlösung an ausnahmslos alle richtet. Gotteskindschaft. Solidarität. Zuneigung. Kollegialität. Barmherzigkeit. Gemeinde. Papst Franziskus wäre kein Zacken aus der Krone gefallen, hätte er zum Einstieg in seine Enzyklika ein anderes Zitat, eine andere Wortfolge gewählt. Eine, die Schwestern (und mitfühlende Brüder) nicht mit unnützen Fragezeichen zurücklässt.

Eines darf nun nicht passieren: Dass "fratelli tutti" wegen seines Titels aus Trotz nicht gelesen wird. Die neue Sozialenzyklika von Franziskus möchte Wege weisen für eine gerechtere Welt nach Corona. Alles, was der Papst dazu zu sagen hat, scheint bitter nötig – für Brüder und Schwestern alle.

Von Gudrun Sailer

Die Autorin

Gudrun Sailer ist Redakteurin bei "Vatican News".

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.