Standpunkt

Wie Christen jüdisches Leben "normal" sein lassen können

Veröffentlicht am 07.10.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Das Christentum verdankt sich der jüdischen Tradition. Doch Christen pflegten diese Wurzeln zu wenig, kommentiert Joachim Valentin – gerade in der Liturgie. Dabei könnten Christen in ihrer eigenen Tradition jüdisches Leben "normal" werden lassen.

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Seit fast einer Woche feiern Jüdinnen und Juden auch in Deutschland Sukkot, das Laubhüttenfest. Es steht kurz vor dem Ende der Reihe von "großen Feiertagen", die mit Rosch Haschana, dem Neujahr, beginnen, den Tag der Versöhnung, Jom Kippur, folgen lassen und schließlich im Fest der Freude an Gottes Wort, Simchat Tora, münden, das am nächsten Wochenende gefeiert wird.

Vom ersten Schofarton an Rosch Haschana bis zum letzten begeisterten Tanz an Simchat Tora ist der Monat Tischrei damit die ereignisreichste Zeit im jüdischen Jahr, in der jüdischen Tradition auch der "Monat der Stärke" genannt. Jeder der Feiertage eröffnet eine unmittelbare Verbindung zur Zukunft und fordert auf, die Welt in Heiligkeit und Harmonie zu bringen.

Warum ich das schreibe? Weil auch diese Feste Teil der Tradition sind, von der die christliche Religion abstammt, der sie sich verdankt. Nicht nur Inhalte und Feste, die unmittelbar in die christliche Tradition münden, wie der wöchentlichen Shabbat, das Pessachfest, an dem auch Jesus mit seinen Jüngern des Auszuges aus Ägypten gedacht hat, und das Fest der Erstlingsfrüchte, Shavuoth, fünfzig (griech. pentecoste) Tage danach.

Mitten unter uns leben tausende Menschen jüdischen Glaubens, sie leben aktuell in Angst und Bedrohung, wie wir gerade wieder in den Nachrichten gehört haben, obwohl sie doch, nach den Worten der Konzilserklärung "Nostra Aetate" jenem Volk angehören, mit dem "Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, genährt von der Wurzel des guten Ölbaums, in den [wir] die Heiden als wilde Schößlinge eingepfropft sind" (NA 4).

Viele rufen nach "Halle", "Hamburg" und so weiter danach, man müsse etwas "gegen Antisemitismus" tun, gegen die uralte, auch im Christentum wurzelnde tödliche Judenfeindschaft. Anti-Anti – kann das etwas bringen?

Für uns Christinnen und Christen gibt es einen einfachen Weg, dieser Lage anders gerecht zu werden: In jedem Sonntagsgottesdienst muss eine Lesung aus der jüdischen Bibel gelesen werden – oft wird sie "aus Zeitgründen" weggelassen, anstatt über sie zu predigen. Wieder ein Stück weniger Nähe zum alten Ölbaum, wieder ein Stück weniger normale Anwesenheit jüdischer Tradition mitten in unserer Kultur, wieder ein Stück mehr Entfremdung der Anderen, der "Juden". Endlos sind auch die Geschichten, die im Religionsunterricht aus jüdischer Tradition erzählt werden könnten, sie stehen ja in unserer Bibel.

Von Antisemitismus entsetzt sein und die alttestamentliche Lesung weglassen, die biblische Geschichte, den jüdischen Philosophen – das ist ein Widerspruch in sich. Dann lieber auch vom Antisemitismus schweigen. Wir haben es in der Hand, jüdisches Leben "normal" sein zu lassen. Mitten in unserer "eigenen" Tradition.

Von Joachim Valentin

Der Autor

Joachim Valentin ist Direktor des katholischen Kultur- und Begegnungszentrums "Haus am Dom" in Frankfurt am Main und Vorsitzender des Frankfurter Rates der Religionen.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.