Wie das Naturrecht zur moralischen Allzweckwaffe der Kirche wurde
Den Einen ist es das Lieblingsargument im Kampf gegen den "Zeitgeist", für die Anderen ein rotes Tuch theologischer Verbotsrhetorik: Das sogenannte Naturrecht taucht in kirchlichen Debatten bis heute immer wieder auf, sei es in der Diskussion um die Diversität der Geschlechter, im Streit um die künstliche Empfängnisverhütung oder in Bezug auf die Bewertung gleichgeschlechtlicher Liebe. Je nach inhaltlicher Positionierung werden dem Naturrecht dabei unterschiedlich weite Grenzen gesetzt – oder es wird ihm jegliche Geltung abgesprochen. Erst jüngst entfachten die Äußerungen von Papst Franziskus, homosexuelle Paare hätten ein Recht auf staatliche Absicherung und kirchliche Anerkennung, erneut die Diskussion darüber, was der Natur des Menschen entspreche.
Die Vorstellung eines natürlichen Gesetzes, das unabhängig von allen menschlichen Verhaltensregeln und Konventionen gilt, reicht bis in die Antike zurück: Die griechische Philosophie war von dem Gedanken geprägt, dass das Chaos der Welt von einer allesumfassenden göttlichen Ordnung getragen wird. Diesem vom "logos" (etwa Weltvernunft) regierten "kosmos" (wörtlich Schmuck) wurde eine größere Wirklichkeit zugesprochen als der sichtbaren Welt. Demnach galt als an sich gut bzw. gerecht, was dem inneren Gesetz des Kosmos entsprach. Dieses war den Sinnen des Menschen zwar entzogen, seiner Vernunft aufgrund ihres göttlichen Ursprungs aber zumindest keimhaft bekannt.
Wie das Naturrecht "getauft" wurde
Den entscheidenden christlichen Anstrich bekam das antike Naturrechtsdenken durch den Kirchenlehrer Augustinus (354–430). Er übertrug die verborgene Ordnung der Natur, die bei Aristoteles oder Cicero in einer abstrakten Weltvernunft gründete, auf den ihm bekannten trinitarischen Gott. Für Augustinus ebenso wie für Thomas von Aquin (1225–1274), der die christliche Interpretation im Hochmittelalter präzisierte, war das Naturrecht fortan lediglich der Teil des ewigen göttlichen Gesetzes, der für alle Menschen unabhängig von der christlichen Offenbarung, allein aus ihrer Existenz als Mensch heraus einsichtig und deshalb verbindlich ist.
Dieses Verständnis sahen die christlichen Denker bereits in der Rechtfertigungslehre des Apostels Paulus vorgezeichnet. Danach besitzt der Mensch auch ohne Zugang zu der im Judentum heilsrelevanten Lebensweisung Gottes (Tora) die Fähigkeit, gesetzesgemäß und damit gottgefällig zu leben: "Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz" (Röm 2,14). Da Naturrecht und Offenbarung nach dieser Interpretation ihren Ursprung aber beide in Gott hatten, konnten sie sich inhaltlich unmöglich widersprechen – auf diese Weise etablierte das Christentum seinen folgenreichen Anspruch, im Namen Gottes ein allgemeingültiges Sittengesetz des Menschen zu vertreten.
Problematisch wurde dieses Verständnis, als die christliche Lehre durch Aufklärung und fortschreitende Säkularisierung in ihrem Rang als alleinige Welt- und Selbstdeutung des Menschen in Frage gestellt wurde. Durch das beharrliche Festhalten an der inhaltlichen Übereinstimmung zwischen Naturrecht und Offenbarung entfernte sich die kirchliche Auslegungstradition zunehmend von der philosophischen Rechtsbegründung – oder wurde von dieser schlichtweg zurückgelassen. Während der nicht zuletzt für die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung wirkungsgeschichtlich bedeutsame englische Philosoph John Locke (1632–1704) noch von der gemeinsamen göttlichen Urheberschaft des natürlichen und des geoffenbarten Gesetzes ausging, vollzog spätestens die Moralphilosophie des Königsberger "Alleszermalmers" Immanuel Kant (1724–1804) den radikalen Bruch.
Selbstbestimmung als philosophische Pflicht
Kant geht in seiner Ethik von einem erkenntnistheoretischen Ansatz aus und hält zunächst fest, dass der Mensch mit seinem begrenzten Verstand kein gesichertes Wissen über eine jenseitige Ordnung der Dinge erlangen könne. Somit dürfe weder eine weltliche Instanz noch ein vermeintlich göttliches Gesetz absolute Geltung über das Tun des Menschen in Anspruch nehmen. Vielmehr sei eine Handlung erst dann als moralisch gut zu qualifizieren, wenn sie frei von äußeren Einflüssen allein durch die innere Einsicht des Individuums in ihre Richtigkeit geleitet ist. Damit hatte Kant jedoch keineswegs ein moralisches Einerlei im Sinn, sondern lieferte mit dem sogenannten "kategorischen Imperativ" die entscheidende Formel, um Moralität von Beliebigkeit abzugrenzen: Selbstverständlich dürfe der Mensch nicht frei nach seinem persönlichen Geschmack entscheiden, sondern jede einzelne vom ihm gesetzte Handlung müsse auf die Allgemeinheit übertragbar sein, indem sie die Freiheit des Anderen jederzeit mitdenkt und achtet.
Auf diesem Weg gelangte Kant zu einer epochalen Neudefinition des Naturrechts, die in der Aufforderung mündet, stets so zu handeln, "als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte". Die Verwandtschaft zur ideengeschichtlich weit verbreiteten "Goldenen Regel" liegt auf der Hand. Als Sprichwort ist sie allseits bekannt: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu." Sie existiert aber auch in jesuanischer Diktion: "Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen" (Lk 6,31).
Konfrontation zwischen Kirchenlehre und Aufklärung
Trotz ihrer inhaltlichen Anschlussfähig an die christliche Sittenlehre (Kant war immerhin protestantischer Pfarrerssohn) erfuhr die Moralphilosophie der Aufklärung jedoch nie eine nennenswerte Aufnahme in die kirchliche Lehrtradition: Zu revolutionär war der implizierte Paradigmenwechsel von untertäniger Gesetzestreue zu verantwortungsvoller Selbstbestimmung; zu schwer wogen die mit der Säkularisation erfahrenen Demütigungen; zu pauschal wurden vermittelnde Stimmen von der dogmatischen Verurteilung getroffen (etwa durch den Syllabus errorum Pius' IX. aus dem Jahr 1864). Angesichts einer derart langen Konfrontationsgeschichte zwischen "Autonomiestreitern" und "Glaubensverteidigern" mag es wenig verwunderlich sein, dass die Identifikation von Kirchenmoral und göttlichem Willen bis heute zu den lehramtlichen Standards zählt. Tragische Auswirkungen hat diese Haltung aber allemal, wenn etwa in Bezug auf Homosexualität oder Geschlechterdiversität neuere Erkenntnisse aus dem Bereich der Humanwissenschaften von kirchlicher Seite schlicht nicht rezipiert werden – mit dem Verweis, sie widersprächen dem Naturrecht.
Die naturrechtliche Argumentation schließt in diesen Fällen bedenkenlos vom vermeintlich natürlichen Sein (etwa dem Fortpflanzungstrieb des Menschen) auf das sittliche Sollen (die geforderte Offenheit jedes sexuellen Akts auf Nachkommenschaft) und betrachtet diesen Zusammenhang als göttlich geboten. Eine Begründungsstruktur, die in der philosophischen Ethik als naturalistischer Fehlschluss bezeichnet und verworfen wird: Einerseits hat "Mutter Natur" durch die Mannigfaltigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse längst ihre handlungsleitende Eindeutigkeit verloren. Andererseits ist der Mensch zu dem sicheren Bewusstsein gekommen, mehr als bloße Natur zu sein. Stattdessen versteht er sich als ein maßgeblich kulturell geprägtes Wesen und bezieht sich dabei auf ein gesellschaftliches Kollektiv, das sich im ständigen Ringen darum befindet, was gemessen am Ideal autonomer Freiheit gelten soll.
Lehramtliche Weichenstellungen
Als Musterstück für die lehramtliche Inanspruchnahme eines göttlich sanktionierten Naturrechts kann die Erklärung der Glaubenskongregation "Persona humana" (1975) gelten, in der die Grundlagen der kirchlichen Sexuallehre entfaltet werden. Mit Rekurs auf die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Würde des Menschen und die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" (1965) hält "Persona humana" zunächst die Existenz unveränderlicher Vernunftprinzipien fest, die "im ewigen, objektiven und universalen göttlichen Gesetz" enthalten seien, "durch das Gott … die ganze Welt und die Wege der Menschengemeinschaft ordnet, leitet und regiert" (Nr. 3).
So verurteilt die Erklärung etwa Homosexualität mit Verweis auf die Bibel nicht nur als "schwere Verwirrung" und "traurige Folge einer Zurückweisung Gottes", sondern beansprucht für diese Position außerdem naturrechtliche Allgemeinverbindlichkeit: "Nach der objektiven sittlichen Ordnung" entspringen homosexuelle Beziehungen demnach einer "pathologischen Veranlagung" und sind "Handlungen, die ihrer wesentlichen und unerlässlichen Regelung beraubt sind" (Nr. 8). Auf gleiche Weise werden in dem Dokument auch vorehelicher Sexualverkehr, Selbstbefriedigung und andere Arten von "Unkeuschheit" strickt verworfen – lehramtliche Feststellungen, die nicht nur Eingang in den Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 fanden, sondern durch öffentliche Äußerungen konservativer Kirchenvertreter bis heute nachhaltig das offizielle Erscheinungsbild der Kirche prägen. Der Rekurs auf das Naturrecht findet dabei meist dort Verwendung, wo die Bibel entweder keine konkreten Aussagen macht, wie zur Frage der Empfängnisverhütung, oder aber die Belegstellen durch die modernen Bibelwissenschaften entkräftet wurden, etwa bei der Beurteilung von verantworteter homosexueller Partnerschaft.
Theologischer Einspruch
Seitens einer wissenschaftlichen Theologie, die sich für die Öffnung der Kirche gegenüber der modernen Gesellschaft einsetzt, wird dieser Verquickung von vermeintlichem Willen Gottes und allgemeinem Sittengesetz seit langem widersprochen. Der Freiburger Fundamentaltheologe Magnus Striet verwarf derartige "Naturrechtsfantasien" als philosophisch unredlich und hielt diesbezüglich fest: "Gestehe ich zu, dass die Existenz Gottes nicht gewiss sein kann, so kann ebenso wenig gewiss sein, was dem Willen Gottes entspricht." Dem verbreiteten Vorwurf, mit dieser Haltung sei der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet, begegnet Striet mit dem kantianischen Begriff der Selbstbestimmung: Eine moralische Ordnung werde dadurch erst tragfähig, dass jeder, der "sich dazu bestimmt hat, Freiheit als das Höchste zu wollen, dieses Recht auf Selbstbestimmung allen zusprechen" wird.
Auf ein anderes Problem wies der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz hin: Am Beispiel einer Äußerung des früheren Glaubenspräfekten Kardinal Gerhard Ludwig Müller stellt er fest, dass in der Diskussion immer wieder die Ebenen vermischt und etwa biblische Argumente nicht sauber von naturrechtlichen unterschieden würden. So hatte Müller den Zusammenhang nahegelegt, aus der biblisch belegten Zweigeschlechtlichkeit des Menschen resultiere auch dessen gottgewollte heterosexuelle Orientierung. Ausgehend von der Frage "Woher weiß der Kardinal das?" betonte Goertz daraufhin, der lehramtliche Anspruch, in "Fragen der Moral mehr zu wissen als alle anderen", entbinde nicht von der Aufgabe, "für die eigenen Überzeugungen plausible Argumente zu liefern".
Im Kontext der römischen Familiensynode (2014/15) kritisierte der inzwischen verstorbene Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff (1953–2020), das kirchliche Lehramt habe sich mit seinem Beharren auf der klassischen Naturrechtskonzeption vom gesellschaftlichen Diskurs, aber auch von der Lebenswelt zahlreicher Gläubiger isoliert. Die Argumentation erwecke heute "sofort den Verdacht, die Kirche versuche hier unter dem Deckmantel allgemeiner Vernunfteinsicht spezifisch katholische Besonderheiten in die Ethik einzubringen". Dabei könne auch ganz anders argumentiert werden, sagte Schockenhoff und empfahl ein weiter gefasstes, letztlich schon bei Aristoteles grundgelegtes Verständnis des Naturrechts: "Nämlich eine Ethik, die am Gedanken der Menschenwürde und der Verantwortung orientiert ist und sich nicht auf partikuläre Traditionen stützt, sondern auf die Vernunfteinsicht des Menschen. Das war der Grundgedanke des Naturrechts, und das kann man entfalten, ohne dass man diese spezifische Begrifflichkeit verwendet."