Religionsfreiheit – Privileg oder Schlupfloch in Coronazeiten?
Allerheiligen war bisher der Tag, an dem Hinterbliebene die Gräber ihrer Lieben besuchten und Partylöwen ihren Halloween-Kater auskurierten. In diesem Jahr gab es am 1. November unter dem Eindruck des zweiten Corona-Lockdowns einige religiös angehauchte Neuschöpfungen, die noch für einige Diskussionen sorgen werden, nicht nur unter Gläubigen.
In den Sozialen Netzwerken tobt die Debatte schon seit einigen Tagen: "Ich habe ein Problem, wenn die Vollidioten in Berlin ein Problem mit Restaurants sehen, aber keins mit Gottesdiensten", schreibt ein FDP-Nachwuchspolitiker. Es sei "nicht nachvollziehbar, dass im 21. Jahrhundert für Gottesdienste andere Regelungen gelten als für Theater o.ä." ein anderer. Und eine "Gabi" meint: "Naja, wenn das so einfach ist, dann bezeichne ich künftig die Treffen mit meinen Freundinnen aus mehreren Haushalten auch als Gottesdienst."
Im Frühjahr argumentierten Gegner von Gottesdienstverboten umgekehrt
Bei vielen Posts wird ein gemeinsamer Nenner erkennbar: Die Kirchen/Gläubigen sollen noch etwas dürfen, was die Allgemeinheit längst nicht mehr darf. Ein unangemessenes Privileg? Im Frühjahr fand sich, vor allem in frömmeren Zirkeln, noch das umgekehrte Argument gegen Gottesdienstverbote: Wieso darf man sich im Baumarkt zum Einkaufen versammeln, aber nicht in der Kirche zum gemeinsamen Gebet?
Vergangene Woche grübelte die Intendantin der Münchner Kammerspiele öffentlich und kreativ über den Umgang ihrer Branche mit den neuen Einschränkungen. "Wir könnten in Bayern mit der Kunst in die Kirchen ziehen und einfach sagen, Theater ist Gottesdienst", sagte Barbara Mundel der "Süddeutschen Zeitung".
Am Sonntag machte dann das Thalia-Theater in Hamburg ernst damit. Es lud zu einem spontanen "Gottesdienst der Künste". Intendant Joachim Lux wollte damit am letzten Tag vor der Schließung eine "Feier der Zuversicht" ausrichten. Sänger der Hamburger Staatsoper intonierten geistliche Vokalmusik, aber auch eine Band bekam ihren Auftritt. Schauspieler brachten diverse Dramen in Ausschnitten auf die Bühne. Und ein waschechter Pastor aus St. Pauli hielt eine Predigt dazu.
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Mit geistlichem Beistand konnten auch, und das zeitgleich, Organisatoren einer "Querdenker"-Demo auf der Münchner Theresienwiese aufwarten. Kurz vor Beginn der für 1.000 Teilnehmer genehmigten Versammlung ließ ein Rechtsanwalt fast doppelt so viel Anwesenden wissen, dass es nun etwas anderes geben werde, nämlich einen Gottesdienst - für den es in Bayern keine beschränkte Teilnehmerzahl gibt, zumindest wenn er unter freiem Himmel stattfindet.
Flankiert von zwei weißen Särgen mit Deutschlandfahne richtete der frühere TV-Pfarrer Jürgen Fliege ein paar andächtige Worte an die Gemeinde. Einige trugen Grablichter, mit einem lauten "Amen" quittierten sie Flieges Ansprache.
Farce oder geschicktes Ausnutzen rechtlicher Spielräume? Wie aus dem Polizeibericht hervorgeht, hatten die Ordnungshüter ihre liebe Mühe. Inhalte und Charakter eines Gottesdienstes seien erkennbar gewesen. Deshalb ließ man die Veranstalter gewähren. Obwohl auch für Freiluftgottesdienste Abstands- und Maskenpflicht gelten, die auf der Theresienwiese vielfach ignoriert wurden.
Kirchen zeigen sich empört
Der Sprecher der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern, Johannes Minkus, findet das empörend. Mit der Umdeklarierung hätten die Veranstalter der Demo nur staatliche Vorgaben unterlaufen wollen. Und das, wo sich tausende Haupt- und Ehrenamtliche in den bayerischen Kirchengemeinden seit Monaten mit Hygienevorschriften Mühe gäben. Letztlich habe genau diese Umsicht auch dazu geführt, dass der Staat den Kirchen diesen Spielraum für Gottesdienste gewährt habe.
Der Münchner Generalvikar Christoph Klingan rief in Erinnerung, dass für Gottesdienste mit katholischer Beteiligung gewisse Standards eingehalten werden müssten, insbesondere die staatlichen Vorgaben zum Infektionsschutz. Zur Debatte um geltende Regeln sagte er: "Unsere Antworten als Kirche sind nicht Verschwörungstheorien, Schwarz-Weiß-Denken oder eine Instrumentalisierung von kirchlichen 'Formaten' für politische Zwecke. Unsere Antwort ist Gebet, Solidarität und schlicht verantwortungsvolles Handeln."
Am Sonntagabend entschloss sich die Polizei auf der Theresienwiese dann doch noch zum Einschreiten. Und zwar als sich die Veranstaltung, wie es in ihrem Bericht heißt, "immer stärker in die Zielrichtung eines Konzerts entwickelte". Als die Lautstärke der Darbietung zunahm und statt Amen mit Applaus geantwortet wurde, galt es, Allerheiligen als sogenannten Stillen Feiertag zu schützen. Der Demo-Gottesdienst wurde beendet und eine "entsprechende rechtliche Aufarbeitung" für die kommenden Tage angekündigt.