Die "Sieben Pforten des Paradieses" und die "Sieben Pforten der Hölle"
Nirgends sind sich Judentum, Christentum und Islam näher und ähnlicher als im Blick auf ihre Vorstellungen von Paradies und Hölle. Ein beredtes Beispiel dafür ist Dantes Divina Comedia, die geradezu als Kompendium jüdisch-christlich-islamischer Eschatologie gelesen werden kann. Ähnliches lässt sich von Hieronymus Boschs (um 1450–1516) berühmtem Triptychon Hortus Deliciarum ("Garten der Lüste") sagen, das in seiner Darstellung von Hölle und Paradies nicht minder als ein solches Kompendium betrachtet werden kann.
Überraschen kann diese Nähe, diese Ähnlichkeit nicht, wenn man bedenkt, dass sie – durch biblische und nachbiblische Schriften vermittelt – wesentlich aus derselben Quelle stammen: der altpersischen Religion des Zoroastrismus. Ihm sind nicht nur die grundlegenden Ideen von Paradies und Hölle, die Vorstellungen von einem Weltenende und seinen Vorzeichen, von einem Leben danach (Auferstehung der Toten), von einem Jüngsten Gericht zu verdanken, sondern weithin auch die dafür verwendeten Begriffe. Wie das Wort Paradies (hebr. pardes; griech. parádeisos; arab. firdaus) auf das altpersisch-avestische pairi-daeza ("umwalltes Gehege; umfriedeter Garten") zurückgeht, so auch die Vorstellung vom Paradies der Urzeit wie der Endzeit als eines Gartens, genauer eines Lustgartens bzw. Gartens der Lüste (gan ‘eden; ke-pos tryphe-s; g˘annat ‘adn; hortus deliciarum), für dessen Ausmalung (angefangen von Genesis 2–3) der achämenidische Königsgarten im einstigen Pasargadae Vorbild gewesen ist. Zoroastrischen Ursprungs ist auch das als "Loderndes Feuer" gedachte Höllental (gehinnom oder ge-bne-hinnom: Josua 15,8; 18,16; Jeremia 19,6; 7,30-8,3; gehenna: Matthäus 10,28; Lukas 12,5; g˘ahannam: Sure 4,93.169; 9,73.95 u. ö.).
Eine Frage der Gerechtigkeit
Zum persischen Erbe gehört auch eine Antwort auf die Frage nach dem Wozu eines Paradieses und einer Hölle: Sie werden aus theologischen Gründen als Gegenwelten zu dieser Welt gebraucht. Wie anders wäre es möglich, angesichts der allgemein-menschlichen Erfahrung Ijobs, dass es dem Gerechten schlecht (s.addiq we-ra‘ lo) und dem Bösewicht gut geht (raša‘ we-t.ov lo), weil "die Welt in die Hand von Frevlern gegeben ist" (Ijob 9,24), an der Idee einer ausgleichenden göttlichen Gerechtigkeit festzuhalten!
Da es diese göttliche Gerechtigkeit im Hier und Heute nicht gibt, wie die Erfahrung lehrt, bleibt nur die Hoffnung, dass sie in der zukünftigen Welt zum Zuge kommt. Damit verbunden ist die Idee des Jüngsten Gerichts, dessen Urteilsspruch den Gerechten eine ihren Taten entsprechende Belohnung im Paradies zumisst und die Bösewichte zu einer entsprechenden Bestrafung in der Hölle verurteilt. Als Orte der Belohnung oder Bestrafung sind Paradies und Hölle als temporäre Aufenthaltsorte gedacht. Wenn die Bewohner des Paradieses ihren Lohn empfangen und die Bewohner der Hölle ihre Strafe abgebüßt haben, werden sie eines "zweiten Todes" sterben (Babylonischer Talmud, bShabbat 156b; Philon, de spec. leg. I § 105; Offb 2,11; 20,6.14), danach aber endgültig von den Toten auferstehen, zu ewigem Leben im Himmel.
Ein Geheimnis, das die Fantasie beflügelt
Über allen jüdisch-christlich-muslimischen literarischen und bildnerischen Ausgestaltungen von Paradies und Hölle steht indessen der Satz aus Jesaja 64,3 und sein neutestamentliches und koranisches Echo. Er zieht sich wie ein roter Faden durch alle Schilderungen von Paradies und Hölle: "Seit Urzeiten hat man nicht vernommen, kein Ohr hat gehört, kein Auge gesehen, Gott außer Dir, was dem bereitet ist, der auf Ihn hofft" (Jesaja 64,3; vgl. bBerakhot 34b); ebenso in 1 Korinther 2,9:"Nein, wir verkünden, wie es in der Schrift steht, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben", und im prophetischen Ḥadith:"Von Abū Huraira ist überliefert: Der Gesandte Gottes sagte: ,Gott sprach: Ich habe für Meine frommen Diener Dinge bereitet, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen sind,‘ wie es im Koran [Sure 32,17] heißt: Keine Seele weiß, was an Freude für sie verborgen ist als Lohn für das, was sie getan hat“ (Ṣaḥīḥ al-Buḫārī 4,54,467, Ṣaḥīḥ Muslim, 1,363 u. ö.).
Doch gerade weil kein Ohr gehört, kein Auge gesehen hat, so scheint es zumindest, waren der menschlichen Fantasie keine Grenzen gesetzt, wie die im Laufe der Jahrhunderte entstandenen, ganze Bibliotheken füllenden, immer wieder neuen Ausmalungen von Paradies und Hölle in Wort und Bild belegen.
Strafen und Belohnungen müssen eine Rangfolge haben
Paradies und Hölle, wie gesagt, sind Gegenwelten, gebraucht, um am Glauben an eine ausgleichende göttliche Gerechtigkeit festhalten zu können. Gott wäre kein gerechter Richter, wenn er unterschiedslos allen Gerechten dieselbe Belohnung und allen Bösewichten dieselbe Bestrafung zumessen würde. Wenn Paradies und Hölle Belohnungs- und Straforte sind, dann muss sich in ihnen auch eine differenzierende göttliche Gerechtigkeit abbilden, darf Lohn nicht gleich Lohn und Strafe nicht gleich Strafe sein. Daher entsteht seit frühen Zeiten der literarischen Ausgestaltung von Paradies und Hölle ein immer differenzierteres Bild von ihnen, ausgedrückt in der Vorstellung von ihren verschiedenen Pforten (še‘arim, abwa-b), Abteilungen (medorot, maka-na-t) bzw. Hallen (hekhalot) oder Stufen (madregot, darag˘a-t). Dabei entspricht die Anzahl der Pforten des Paradieses derjenigen der Hölle: Stehen sich am Anfang eine Paradiespforte (Gen 3,24) und eine Höllenpforte gegenüber (bMenaḥot 99b; bSukka 32b), wird aus der Einzahl bald eine Mehrzahl, zunächst zwei (Pesiqta Rabbati 124b), dann drei (bEruvin 19a), dann vier (äthHenoch 22,1ff) und schließlich sieben (bSota 10b; Koran, Sure 15,44), wobei sieben als Symbolzahl für Vollständigkeit steht.
Zugute kam dieser Art Ausgestaltung, dass sowohl in der Bibel als auch im Koran für die positive Gegenwelt (Paradies) ebenso wie für die negative Gegenwelt (Hölle) nicht nur ein Wort ("Name"), sondern verschiedene begegnen; und weil es in Bibel und Koran keine Synonyme gibt, sondern jedes Wort seine spezifische Bedeutung hat, bot die verbale Verschiedenheit eine entsprechende Differenzierung an. Allerdings können die "Namen" der Pforten, Abteilungen/Hallen oder Stufen des Paradieses wie der Hölle mitunter nach Text/Autor variieren. Dessen ungeachtet ist die Pluralisierung der Pforten, Abteilungen/Hallen oder Stufen immer auch als Abbild ihrer Hierarchisierung verstanden worden: So stehen den "sieben Stufen (Graden) der Pein" bzw. der Hölle (Esra-Apokalypse 7,75-87) die "sieben Stufen der Freude" bzw. des Paradieses gegenüber (EsraApok 7,88-99).
Auf diese Weise entsteht in biblisch-nachbiblischer und koranisch-nachkoranischer Überlieferung ein dreiteiliges Weltbild, bestehend aus der Erde in der Mitte, über ihr die siebenstufige Oberwelt, unter ihr die siebenstufige Unterwelt, wobei der Eingang zur Oberwelt (Paradies) ebenso wie der Eingang zur Unterwelt (Hölle) als realgeschichtliche Orte auf der Landkarte der Erde zu finden sind: der Eingang zum Paradies in der Nähe von Damaskus, der Eingang zur Hölle südlich von Jerusalem (bEruvin 17a). Im Laufe der Zeit indessen verschieben sich diese Eingangsorte immer mehr an den "Rand" der Erde: Der Eingang zum Paradies findet sich am Ende "im Osten" (nach Genesis 2,8; 3,24) und der Eingang zur Hölle "im Westen" auf der Landkarte wieder – so, wie sie bis in die frühe Neuzeit hinein auf christlichen, muslimischen und jüdischen Landkarten gleichermaßen eingezeichnet worden sind.
Als Beispiel christlicher Provenienz sei auf die um 135 nach Christus entstandene, in einer griechischen und einer äthiopischen Version überlieferte Offenbarung des Petrus (Petrus-Apokalypse) verwiesen, die zunächst zum Kanon der römischen Kirche (Canon Muratori) gehörte, durch Beschluss der 3. Synode von Karthago 397 allerdings aus dem Kanon wieder herausgenommen und den Apokryphen zugeordnet worden ist. In Kap. 7–12/13–16 enthält die Petrus-Apokalypse eine analoge Schilderung der Hölle und des Paradieses, zwei Texte, die auf das christliche Mittelalter von großem Einfluss gewesen sind. Nicht zuletzt, seit Augustinus (354–430) und Papst Gregor d. Große (um 540–604) sie als Referenztexte für die theologischen Grundlagen der christlichen Höllenlehre betrachtet haben. Entsprechend intensiv ist die Petrus-Apokalypse in Wort und Bild rezipiert worden. Zu den interessantesten bildlichen Darstellungen zählen die Darstellung des Weltgerichts in der Kathedrale Santa Maria Assunta auf Torcello bei Venedig (frühes 12. Jh., S. 48) und vor allem Giottos Fresken in der Scrovegni-Kapelle in Padua (um 1306).
Linktipp: Gott sei Dank gibt es die Hölle!
Die Hölle ist aus der Mode gekommen. So richtig fürchtet sich kaum einer vor den letzten Dingen, vor Fegefeuer, Gericht und Hölle – dabei wäre die Vorstellung einer Welt ohne Hölle selbst die Hölle.
Ein ebenso differenziertes Bild zeichnet die koranisch-nachkoranische Überlieferung, wie die Beispiele aus den populären Prophetenerzählungen (Qis.as. al-anbiya-’) von Muḥammad ibn ‘Abd Allāh al-Kisā‘ī (11. Jh.) und aus dem in zahlreichen Variationen überlieferten Buch der Umstände der Auferstehung (Kita-b aḥwa-l al-qiya-ma) zeigen: das Bild der Oberwelt und der Unterwelt, wie es zudem noch in den Erzählungen aus den 1001 Nächten entworfen worden ist. Dort heißt es:
Da sagte der König: "O Bulukija, Gott der Erhabene hat die Hölle in sieben Schichten geschaffen, eine über der anderen, und zwischen je zwei Schichten liegt ein Weg von tausend Jahren: (1) Die erste Schicht hat er Ğahannam genannt, und die hat er für die Sünder unter den Gläubigen bestimmt, die ohne Reue sterben. (2) Die zweite Schicht heißt Laẓā, und die hat er für die Ungläubigen bestimmt. (3) Die dritte Schicht heißt al-Ğaḥīm, und die hat er Gog und Magog zugewiesen. (4) Die vierte heißt as-Sa‘īr, und die ist für das Volk des Teufels. (5) Die fünfte heißt Saqar, und die ist für die, so das Gebet versäumten. (6) Die sechste heißt al-Ḫut.ama, und die ist für die Juden und Christen bestimmt. (7) Die siebente aber heißt al-Ha-wija, und die hat er für die Heuchler bestimmt. Dies sind die sieben Höllenschichten.“
Paradies und Hölle werden naturwissenschaftlich plausibel gemacht
Seine astronomisch-kosmologische Ausgestaltung und zugleich "naturwissenschaftliche" Begründung und damit Plausibilisierung erfährt dieses Weltbild im Mittelalter dadurch, dass die "sieben Stufen der Oberwelt" mit den "sieben Sphären der Planeten" gleichgesetzt worden sind, jüdischerseits seit Isaak ben Shelomo Israeli/Abū Ya‘qūb Isḥāq ibn Sulaimān al-Isrā’īlī (Isaac Judaeus der Scholastiker, 840/850–932) und muslimischerseits seit Abū r-Raiḥān Muḥammad ibn Aḥmad al-Bīrūnī (973–1048). Von späteren, darunter auch den Christen, wurde dies übernommen und in zahlreichen Variationen überliefert. Und was für die Oberwelt gilt, gilt analog für die Unterwelt. Dabei unterscheiden sich das jüdische und das muslimische Modell des auf diese Weise entstehenden Weltbildes allein dadurch, dass in dem einen hebräische und in dem anderen arabische Termini verwendet werden. In der Sache sind beide wiederum deckungsgleich mit dem christlichen Modell des Weltbildes, nur dass darin die entsprechenden Begriffe in den von Christen gesprochenen Sprachen verwendet werden.
Und Dante?
Wie kommt nun Dante zu seinen Vorstellungen von Paradies und Hölle? Zu den Charakteristika der Ausmalungen von Paradies und Hölle gehört, dass sie in der Regel als "Wanderberichte" gestaltet sind, in denen die Schilderungen von Paradies und Hölle in Form einer nékyia (Wanderung durch das Totenreich) daherkommen. Zu den frühen Beispielen solcher Wanderungen gehört das persische "Buch von Ardā Wīrāz", das die Wanderung des frommen Wīrāz (arda-, "fromm, gerecht, aufrichtig") durch Himmel und Hölle beschreibt. Walther Hinz (1906–1992) hat es einst einen "persischen Vorläufer" Dantes genannt. Das gleiche Wanderungsmotiv liegt auch der Beschreibung von Hölle und Paradies in der Petrus-Apokalypse zugrunde.
Weite Verbreitung in Wort und Bild (illuminierte Handschriften) fand das sieben Kapitel umfassende "Buch der Himmelsreise [Muhammads]" (Kita-b al-mi‘ra-g˘ bzw. Mi’ra-g˘-nameh), als dessen Autor Abū l-Qāsim ‘Abd al-Karīm ibn Hawa-zin al-Qušairī aus Nishapur (989–1072) gilt. Darin schließt die Reise des Propheten durchs Jenseits an die "Nachtreise des Propheten" (al-isra-’) von Mekka nach Jerusalem an (vgl. Koran, Sure 53,1-25, Sure 17,1).
Der sefardische Arzt Abraham Alfaqí de Toledo (?–1294), einer der Übersetzer der Escuela de Traductores de Toledo, übersetzte dieses "Buch der Himmelsreise" ins Altspanische, und Bonaventura da Siena übertrug es 1264 unter dem Titel "Buch von Muhammads Leiter" aus dem Altspanischen ins Lateinische (Liber Scalae Machometi) und Altfranzösische (Livre de l’Eschiele Mahomet). Dass der gebildete Dante diese Übersetzung seines Landsmanns Bonaventura kannte, darf als wahrscheinlich angenommen werden.
Das entsprechende jüdische Wissen, darunter Ibn ‘Esras Ḥayy ben Meqiṣ, der zu Dantes Vorbildern zählt, hat ihm sein Freund, der Arzt, Philosoph und Talmudist Hillel ben Shemuel ben El‘azar von Verona (1220/30–um 1295) vermittelt. Dessen Großvater, der Talmudist El‘azar ben Shemuel von Verona, war ein Schüler von Yiṣḥaq ben Shemuel von Dampierre (gest. 1195), der schon zu Lebzeiten in dem Ruf stand, "Visionen von Himmelsreisen" gehabt und weitergegeben zu haben. Hillel von Verona hatte u. a. Medizin in Montpellier und talmudische Wissenschaften in Barcelona bei Yonah ben Avraham Gerondi (gest. 1263), dem Autor u. a. der "Pforten der Buße/Umkehr" (ša‘are tešuva) studiert und dort zugleich umfangreiches arabisches Wissen erworben und war auch mit dem Werk von Muḥyī d-Dīn-Ibn ‘Arabī (1165–1240) vertraut. So erklärt sich am Ende auch die Parallelität von Ibn ‘Arabīs und Dantes Aufbau des siebenstufigen Paradieses …
Wie Perlen an einer langen Schnur
Dantes Divina Comedia wiederum inspirierte seinen Freund, den Dichter ‘Immanu’el ben Shelomo ha-Romi, bekannt auch unter dem Namen Manuello Romano (um 1261–1335), die Reihe seiner Maqamen um ein "Buch von Hölle und Paradies" (Maḥberet XXVIII: ha-Tofet weha-‘Eden) zu ergänzen.
Die Reihe dieser wechselweisen Beeinflussungen von jüdischen, christlichen und islamischen Jenseitsvorstellungen ließe sich bis weit in die frühe Neuzeit hinein mühelos fortsetzen, und alle Beispiele würden ein ums andere Mal den ersten Satz dieses Artikels bestätigen ...
Der Autor
Prof. Dr. Stefan Schreiner ist Seniorprofessor für Religionswissenschaft und Judaistik an der Universität Tübingen. U. a. Mitinitator des Tübinger Zentrums für Islamische Theologie sowie des European Abrahamic Forum (EAF), Zürich.
Hinweis: Zeitschrift "Welt und Umwelt der Bibel"
Der Artikel ist zuerst im Heft 4/20 der Zeitschrift "Welt und Umwelt der Bibel" des katholischen Bibelwerks erschienen. In der Ausgabe geht es um das Leben nach dem Tod – von Osiris bis Jesus.