Kolumne: Römische Notizen

Der redende Papst, der schweigende Papst

Veröffentlicht am 10.11.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Reden ist Silber, Schweigen ist Gold: Hat Papst Franziskus diese Redensart erfunden? Jedenfalls praktiziert er sie ausgiebig, findet Gudrun Sailer. Seinen Apparat bringt der Wechsel zwischen freier Rede und blankem Schweigen an die Grenzen. Wie gut, dass es um den Apparat nicht geht.

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Weiß und Gelb sind die Farben der Vatikanflagge. Sie stehen für Silber und Gold, das Binden und das Lösen, die beiden Schlüssel, die Jesus dem Petrus überreicht als Zeichen der Stellvertretergewalt auf Erden. Die Schlüssel, die der Papst heute hat, um seinen Dienst auszuüben, sind im Wesentlichen seine Sprechakte. Ob er Terrorismus verurteilt, Gläubige auf Nächsten- und auf Fernstenliebe einschwört, die Option Todesstrafe aus dem Katechismus streicht, einen Bischof ernennt, jemandes Rücktritt annimmt oder erzwingt – sein Handeln ist Sprechhandeln. Sicher, Franziskus setzt darüber hinaus mehr Zeichenhandlungen als frühere Päpste. Bei ihm zählt nicht nur, was er sagt, sondern auch, wie er lebt, wohin er reist, wen er empfängt oder nicht empfängt. Doch belastbar sind am Ende die Sprechakte.

Wie passt dazu das Schweigen, das Papst Franziskus – neben seinen lehramtlichen Dokumenten und seiner sehr freien Rede – eben auch prominent pflegt? Ist Schweigen der zweite Schlüssel des Regierens, ein Instrument des "Bindens und Lösens", also des Regierens eines Papstes? Ist Reden Silber und Schweigen Gold?

Filmemacher bekam freien Zugang zum Archiv

Wir haben einen Anlass für diese Frage. Da war also dieses Papst-Interview im mexikanischen Fernsehen, an das kaum noch jemand dachte, es war ja schon ein Jahr alt und Franziskus gewährt laufend neue, erfrischende Interviews. Da war die Aufgeschlossenheit der vatikanischen Medienbehörde, die jenem russisch-amerikanischen Filmemacher freien Zugang zum Archiv gewährte, wie man es damals auch bei seinem deutschen Kollegen Wim Wenders gehalten hatte, mit ansehnlichem Ergebnis ("Ein Mann seines Wortes"). Und da waren diese drei kurzen Papst-Sätze über zivile Rechte homosexueller Paare: "Wir brauchen ein Gesetz für Lebenspartnerschaften. So sind sie rechtlich abgesichert. Dafür habe ich mich eingesetzt."

Franziskus für Lebenspartnerschaft: Ein neues Kapitel in der Kirche?

Mit seiner Äußerung, die Kirche müsse sich auf zivilrechtlicher Ebene für die eingetragene Lebenspartnerschaft für Homosexuelle einsetzen, hat Papst Franziskus für ein Beben gesorgt. Auch wenn sie keiner Lehränderung gleichkommen: Folgenlos dürften diese Aussagen kaum bleiben.

Das hatte Franziskus in dem mexikanischen Interview gesagt. Vor der Erstausstrahlung kürzte jemand diese Passage heraus, doch in der Originalfassung im vatikanischen Medienarchiv blieb sie drin, und offenbar schrieb niemand "Vorsicht: heikel!" aufs Deckblatt. Der russisch-amerikanische Filmemacher sprang trotzdem darauf an, verständlich, er ist selber schwul. Wie er im Film die betreffende Papst-Aussage an eine zweite klebte, sodass auf einmal "Recht auf Familie" und "gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft" in einem Guss dastanden und ein päpstliches "Ja zur Homo-Ehe" suggerierten, ist unsauber. Eines aber stimmt, hier hat erstmals ein Papst homosexuellen Lebensgemeinschaften zivile Grundrechte zugebilligt. In freier Rede, die nicht als belastbarer päpstlicher Sprechakt gilt. Und im säkularen Feld, in dem das Kirchenoberhaupt zwar eine Haltung, aber keine Autorität haben kann. Aber gesagt hat er es.

Etliche Tage lang waren säkulare und kirchliche Medien mal wieder gut mit Franziskus beschäftigt. Nur die Medien des Papstes beschwiegen den Elefanten im Raum ausgiebig. Im Osservatore Romano, bei Radio Vatikan und bei Vatican News in 40 Sprachen: keine Klarstellung, keine Vertiefung, kein Verweis auf das geltende Lehramt mit Katechismus-Zitaten. Kein Wort über den Film, dessen Regisseur dann noch in den vatikanischen Gärten einen Preis entgegennahm. Nichts. Die päpstlichen Medien verhielten sich in diesem Fall einmal unisono so, wie man es eigentlich immer von ihnen erwarten würde, nämlich als Resonanzraum des Souveräns. Papst Franziskus überließ die wilden Spekulationen – und wild waren sie wirklich – den anderen. Er selbst und seine Medien schwiegen.

Ein Mensch blättert im Papst-Schreiben "Querida Amazonia"
Bild: ©KNA/Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani

Das Nicht-Setzen-Wollen eines päpstlichen Sprechaktes gehört zum kommunikativen Repertoire von Papst Franziskus. Das wird beispielsweise am Apostolischen Schreiben "Querida Amazonia" deutlich.

Es ist ein Franziskus-Muster, das wir kennen, auch wenn es inmitten heutiger medialer Usancen wie aus der Zeit gefallen wirkt. Wer falsch wiedergegeben wird, stellt richtig, wer attackiert wird, wehrt sich, und zwar sofort. Nicht so Papst Franziskus. Er habe während der Militärdiktatur in Argentinien Mitbrüder im Stich gelassen, hieß es bald nach seiner Wahl. Kein Wort dazu vom Papst – andere recherchierten und entlasteten ihn. Vier Kardinäle legten Franziskus ihre Zweifel ("Dubia") zum Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen dar. Sie wünschten eine Klarstellung – und gingen leer aus. In der Missbrauchs-Causa McCarrick erhob der frühere Nuntius Erzbischof Carlo Maria Viganò heftige Anschuldigungen gegen Franziskus und forderte ihn zum Rücktritt auf. Der Papst schwieg. Es gibt Gegenbeispiele, schwierige Sachverhalte, die Franziskus später zurechtrückte und erklärte, auch um Vergebung bat, wo er irrte, so beim Thema Missbrauch in Chile. Doch in anderen Fällen bleibt er stumm, wo alle reden.

Schweigen lässt sich medial schwer vermitteln

Diese Entscheidung bringt seinen Kommunikationsapparat in eine ungewohnte Lage. Seriöse Medien, auch die institutionellen wie die des Vatikans, sehen ihre Berufung darin, jenseits von aufgeregtem Gezischel die Fakten (die Sprechakte, im Fall des Papstes) zu suchen, sie ausgewogen darzustellen und so zur Klärung unklarer Sachverhalte beizutragen. Vatikanmedien gibt es hauptsächlich, damit sie das unverfälschte Wort des Papstes hinaustragen: das, was er sagt, und das, was er meint. Wird dem Papst ein manipuliertes Wort unterjubelt, zu dem er dann schweigt und weiter schweigen will, auch mit seinem medialen Corps, dann entsteht in seiner Kommunikation eine Leerstelle und mit ihr das Risiko einer hermeneutischen Dynamik, die sich immer weiter verselbständigt. Schweigen lässt sich medial schwer vermitteln, aber dafür fast wahllos interpretieren. Schuldeingeständnis? Machtinstrument? Märtyrerpose? Vernebelungstaktik? Zeitschinderei? Bewusst gestiftete Verwirrung? All das wurde an Deutungsversuchen laut, mitunter in gehässigem Tonfall, Soundtrack heutiger Übergangsprozesse.

Und doch: So hat Franziskus entschieden. Dieses Nicht-Setzen-Wollen eines päpstlichen Sprechaktes gehört zum kommunikativen Repertoire seines Pontifikates. Was Franziskus damit bezweckt, lässt sich nicht leicht auf einen Nenner bringen. Biografisch hat es mit seiner Erfahrung in einer Diktatur zu tun, und als Methode ist es Teil seiner Art, die Kirche in stürmischer Zeit zu lenken. Wir erinnern an das Dokument nach der Amazonien-Synode. Zwar ist "Querida Amazonia" fraglos ein Sprechakt, ein lehramtliches Dokument, aber Franziskus vermied darin jedes Festzurren innerkirchlich heißer Themen wie Zölibat oder Frauendiakonat. Er verzichtete auf ein Machtwort, eine autoritäre Entscheidung. Er besetzte keine neuen Räume der Macht. Franziskus vertraut auf den Geist, der in der Zeit wirkt. Deshalb ist Schweigen – Offenlassen – manchmal der bessere Weg zu führen. Nicht alles, was sich in der Kirche entwickelt, braucht sofort von oben geklärt, entschieden, per Sprechakt besiegelt zu werden. Nein, Schweigen ist nicht immer Gold. Aber in manchen Situationen einfach die klügere Lösung, der besser passende Schlüssel.

Von Gudrun Sailer