Der erste Nicht-Priester auf einem Lehrstuhl für Moraltheologie
In Erfurt eine Forschungsstelle, in Würzburg ein Vortrag über das Verhältnis von Philosophie und Theologie, in Karlsruhe der Verfassungsdialog zur Sterbehilfe, in Stuttgart ein Referat zur Sexualmoral und in Krefeld eine Buchlesung. Bei Dietmar Mieth, einem der renommiertesten deutschen Ethiker, wirkt Ruhestand eher wie Unruhestand. Am 23. Dezember wird er 80.
Im Vorjahr erschien ein gemeinsam mit seiner Frau Irene verfasstes Buch. Darin geht es um ihre Entscheidung, als Krebskranke mit Metastasen auf eine Operation zu verzichten. Er respektierte schweren Herzens die Haltung seiner inzwischen verstorbenen Frau, versuchte nicht, sie zu einem solchen Eingriff zu überreden.
Sein jüngstes, vor ein paar Wochen erschienenes Buch heißt "Nicht einverstanden". Darin verwoben sind neben seiner Biografie sechs Jahrzehnte Zeit-, Kirchen-, und theologische Wissenschaftsgeschichte. Es ist die Bilanz eines Menschen, der sich als "konstruktiven Nonkonformisten" und "Perspektivisten" beschreibt. Mieth sieht sich der "Autonomen Moral" verpflichtet, die bei der Erfahrungswirklichkeit ansetzt und nicht abstrakte Lehrgebäude in den Mittelpunkt stellt. Der gebürtige Saarländer setzt vielmehr auf Vernunft und Erfahrung.
Er beriet Politiker, Bischöfe und Laienvertreter
Über viele Jahre war Mieth Mitglied verschiedener hochrangiger Ethik-Kommissionen von Bundestag und Bundesgesundheitsministerium, er beriet die Europäische Union und half den deutschen Bischöfen ebenso wie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Da ging es um die Ausgestaltung von Patientenverfügungen, die Forschung an embryonalen Stammzellen oder Sterbehilfe. Schwerpunkte waren meist Fragen des technologischen und medizinischen Fortschritts sowie die Zusammenhänge zwischen Arbeitswelt und Kapital.
1990 entstand unter seiner Federführung in Tübingen das renommierte Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, das er mehr als ein Jahrzehnt leitete. Die Einrichtung bringt Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaft ins Gespräch. 1974 hatte Mieth weltweit als erster Nicht-Priester einen Lehrstuhl für katholische Moraltheologie erhalten. Seit 1967 arbeitete er als Assistent von Alfons Auer in Tübingen, bei dem er auch habilitierte. 1981 kehrte der Wissenschaftler nach sieben Jahren aus dem schweizerischen Fribourg nach Tübingen zurück und lehrte dort bis zu seiner Emeritierung 2008 theologische Ethik.
Innerkirchlich steht Mieth für Reformen. In seinem jüngsten Buch erinnert er sich an einen Dialog mit Eugen Drewermann, der sich – mutmaßlich selbstironisch – als der beschreibt, der von außen Steine durch die Fenster wirft, während Mieth sich eher als jemand sieht, der innen die Steine aufsammelt und neu aufbaut, weil er "die Kirche anders, aber keine andere Kirche" will. Gewaltenteilung nennt er als wichtiges Stichwort eine Reform, und den Umgang seiner Kirche mit Frauen, den er für grundfalsch hält.
Dabei geht es ihm zwar auch um das Priestertum von Frauen, aber vor allem um den Abbau "klerikal-hierarchsicher Herrschaftsformen" im Sinne des Wortes "Laie" von seiner griechischen Wurzel her: Dann heißt Laie "dem Volk Gottes zugehörig", und dann sind alle zunächst als Christen Laien: Männer und Frauen, Priester und Nicht-Priester. Auch den Leitungsstil von Papst Franziskus kritisiert Mieth, weil ihm "die Konturen einer institutionellen Vision fehlen. Der Papst regiert und reagiert nur fallweise. Ich vermisse eine durchgängige Konzeption."
Auch Mystik und Sport treiben Mieth um
Doch den Vater zweier Kinder, der seit ein paar Jahren in Bochum in der Nähe der Familie seiner Tochter lebt, treiben noch andere Themen um: vor allem Mystik im Sinne religiöser Erfahrung. Er ist Vizepräsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft, einer interdisziplinären Vereinigung, die sich um das Erbe des spätmittelalterlichen Philosophen und Theologen kümmert, mit dem Mieths wissenschaftliche Karriere begonnen hatte.
Aber Mieth zeigt sich auch da präsent, wo Theologen oft im Abseits stehen. Im Sport. Er gab das vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft verantwortete "Lexikon der Ethik im Sport" heraus, und er wirkt mit beim Ethikpreis des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Pragmatisch auch die Haltung des VfB-Fans zu Fußball im Fernsehen in Zeiten von Corona: Wer bei der Freizeitbetätigungssperre im Wohnzimmer festgehalten sei, sollte guten Gewissens zusehen dürfen.