Wenn an Heiligabend der "Sibyllengesang" erklingt
"Ein großes Feuer wird vom Himmel herabkommen, / Meere, Quellen und Flüsse, alles wird brennen, / die Fische werden schreien / und ihre lebhafte Natur verlieren." Diese Verse klingen nicht besonders weihnachtlich – und doch gehören sie für die allermeisten Gläubigen auf Mallorca und in einigen Orten auf Sardinien untrennbar zur Liturgie der Mitternachtsmesse am Heiligabend dazu. Die schreckliche Beschreibung des Weltuntergangs, bei dem "die Sonne ihre Helligkeit verlieren wird, / sich dunkel und getrübt zeigend, / der Mond nicht leuchten / und die ganze Welt Traurigkeit sein wird", ist Teil des sogenannten "Gesangs der Sibylle".
Der auf eine über tausendjährige Tradition zurückgehende "Sibyllengesang" wird heutzutage in mallorquinischen Kirchen vor Beginn der Christmette intoniert. Meist singt ihn eine junge Frau, die in historisch anmutende Gewänder gekleidet ist und ein langes Schwert aufrecht vor sich in ihren Händen hält. Die Sängerin tritt mit der Gottesdienstgemeinde – oder bei manchen Vorführungen auch mit einem Chor – in einen feierlichen Wechselgesang über das Jüngste Gericht. Dabei thematisieren die Verse der Sängerin, die als Sibylle eine antike Untergangsprophetin darstellt, die in der Natur erfahrbaren Begleiterscheinungen des Weltendes wie sie auch aus dem biblischen Buch der Offenbarung des Johannes bekannt sind: die Verfinsterung der lichtspendenden Himmelskörper, die Auslöschung der lebensnotwendigen Wasserquellen und das Ende tierischen und menschlichen Lebens.
Auf diese wahrhaft dunkle Beschreibung des Weltuntergangs antworten die Gläubigen mit einem auf Jesus Christus bezogenen, immergleichen Hoffnungsschimmer: "Am Tag des Gerichts wird erscheinen, / er, der gedient hat." Die Interpretin der Sibylle sagt daraufhin die kurze Herrschaft des Teufels und dessen Gräueltaten in ihrem Lied voraus. Aber nur, um anschließend den Sieg Jesu und dessen Richterspruch beim Jüngsten Gericht zu besingen: "Zu den Bösen wird er erzürnt sagen: / Geht, Verfluchte, in den Sturm, / geht ins ewige Feuer" und "zu den Guten wird er sagen: / Kommt, meine Kinder!"
Mit dem Inhalt des Weihnachtsfestes, der Feier der Geburt Jesu, hat der "Sybillengesang" wenig gemein und es ist historischen Umständen geschuldet, dass er heute in der Heiligen Nacht vorgetragen wird. Der Text des apokalyptischen Liedes geht auf die antike Vorstellung von mythischen Weissagungen durch Sibyllen genannte Prophetinnen zurück. Der Vorsokratiker Heraklit von Ephesos erwähnt zuerst eine Seherin mit diesem Namen im 5. vorchristlichen Jahrhundert, und später kennen Platon und Aristophanes mehrere Sibyllen. Im antiken Rom entwickelt sich der Kult der Sibyllinischen Bücher, die eine Sammlung von Orakelsprüchen umfassen, und zur Deutung der oft mehrdeutigen Prophetien beitragen sollen.
Im frühen Christentum werden einige der Weissagungen aus dem Umfeld der zehn Sibyllen, die der römische Historiker Varro im 1. Jahrhundert vor Jesu Geburt beschrieb, als Ankündigungen der Menschwerdung Christi verstanden. Eine Prophetie der nach ihrem Herkunftsort benannten Erythraeischen Sibylle wurde vom heiligen Augustinus in seiner "Civitas Dei" erwähnt. Darin deutet der Kirchenvater das beschriebene Weltuntergangsszenario im christlichen Sinn als Jüngstes Gericht. Er untermauert seine Interpretation mit einem Verweis auf die griechischen Originalverse, deren Anfangsbuchstaben nacheinander gelesen einen Verweis auf Jesus Christus ergeben sollen. Doch wahrscheinlich lag bereits zu Augustinus‘ Zeiten der griechische Wortlaut nicht mehr vor, wenn es ihn denn je gegeben haben sollte, sodass es sich wohl um eine Rückübersetzung des Theologen handelt, um seine Deutung zu bekräftigen.
Sibylle wird auch im "Dies irae" erwähnt
Diese antike Prophetie des Weltuntergangs wird in der Endzeitstimmung des Mittelalters besonders um die Jahrtausendwende herum wegen der damit einhergehenden Angst um das jenseitige Seelenheil wieder aufgegriffen. Die Sibyllen werden als heidnische Gegenstücke zu den alttestamentlichen Propheten gesehen, weshalb sie einige Jahrhunderte später etwa von Michelangelo in das Bildprogramm der Sixtinischen Kapelle aufgenommen werden. Auch im bekannten Trauerhymnus "Dies irae" wird die Sibylle als Prophetin erwähnt. Im Mittelalter entsteht schließlich der "Gesang der Sibylle", was ein Manuskript in lateinischer Sprache aus dem 10. Jahrhundert aus einem Kloster in Limoges bezeugt.
Im Laufe der Jahrhunderte breiteten sich der heute bekannte "Sibyllengesang" sowie weitere ähnliche Dichtungen im Südeuropa aus. Meist wurden sie nacheinander in "Ordnung der Propheten" genannten szenischen Aufführungen außerhalb von Kirchengebäuden dargeboten. Zum einen vermittelten sie ab Beginn der frühen Neuzeit als religiöse Volkstheater wesentliche Elemente des christlichen Glaubens an das Volk. Zum anderen stellten sie eine Form der Unterhaltung dar und erlangten mit ihren gruseligen Schauerdarstellungen der Schrecken des Jüngsten Tages rasch große Popularität, wozu auch die Übersetzung der Texte in die jeweilige Landessprache beitrug.
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Gerade auf der iberischen Halbinsel fanden die meist von lebhaftem Publikum besuchten Aufführungen auch in den Gotteshäusern statt, weshalb vornehmlich Kleriker die Rolle der Sibylle einnahmen. Ab 1545 wurde der "Sibyllengesang" durch die auf dem Konzil von Trient erfolgte Neuordnung der Liturgie zunächst verboten. Das Tridentinum wollte für die Liturgie unpassende Traditionen unterbinden, wie dem Theater ähnliche Darstellungen, bei denen laut gelacht und applaudiert wurde. Der Brauch verschwand daraufhin in den meisten Gegenden des Mittelmeerraums. Auf Mallorca und einigen Orten auf Sardinien, in denen teilweise noch heute die katalanische Sprache lebendig ist, wurde der Gesang nach einigen Jahren wieder erlaubt: die Gläubigen konnten ihren Bischöfen eine Sondererlaubnis zur Wiedereinführung der beliebten und in der Bevölkerung verwurzelten Tradition abringen. 1692 erlaubte der Kirche auf Mallorca die Aufführung des Gesangs ausdrücklich.
Mit der Zeit wurde der "Gesang der Sibylle", der zuvor an mehren Tagen des Jahres unabhängig von der jeweiligen Tagesliturgie aufgeführt wurde, reduziert und an den Beginn der Christmette verlegt. Nach den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils erlaubte die kirchliche Obrigkeit sogar Frauen als Sibyllen, die die Männer als Interpreten der gregorianischen Melodie inzwischen komplett verdrängt haben. Ein Relikt aus der Zeit der opulenten Darstellung der Prophetien ist das Schwert in den Händen der Sängerin. Es symbolisiert passend zur Thematik des Gesangs ein Richtschwert und wird mancherorts nach Abschluss des Liedes dazu benutzt, um damit auf ein Kreuz hinzuweisen.
Gesang seit 2010 immaterielles Kulturerbe der Welt
Heute gehört der "Sibyllengesang" fest zur mallorquinischen Identität, was auch der katalanischen Version des mittelalterlichen Liedes geschuldet ist. Der auf Mallorca vorherrschende Dialekt des Katalanischen ist auf der Insel als Umgangssprache weit verbreitet und dient den Insulanern zudem als Abgrenzungsmerkmal zu den anderen Spaniern. Bei nicht wenigen Gläubigen des größten Balearen-Eilands war daher die Freude groß, als die UNESCO den "Gesang der Sibylle" 2010 auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit setzte. Die große Beliebtheit der Tradition auf Mallorca führte in den vergangenen Jahren sogar dazu, dass versucht wurde, den Gesang auch in einigen Kirchen in Barcelona oder Valencia wieder einzuführen.
Auch wenn der Bezug des Gesangs zum Weihnachtsfest leidglich mehreren Wendungen der Geschichte zu verdanken ist, lässt sich doch auch eine spirituelle Verbindung finden: In nicht wenigen Weihnachtspredigten wird der Zusammenhang zwischen Krippe und Kreuz betont, zwischen der Geburt Jesu als schutzloses Kind im armseligen Stall und seinem schmerzvollen Tod am Kreuz. Der "Sibyllengesang" kann daher aufzeigen, dass zur Freude über die Geburt Jesu auch der Ausblick auf seine endgültige Wiederkehr in die Welt gehört – freilich ohne lähmende Angst vor der Ewigen Verdammnis, sondern mit riesiger Freude auf den Eingang in die göttliche Herrlichkeit.