Sexualwissenschaftler: Zölibat führt nicht generell eher zu Missbrauch
Der Hamburger Sexualwissenschaftler Peer Briken bezweifelt, dass der für katholische Priester verpflichtende Zölibat das Risiko erhöht, Sexualstraftaten zu begehen. "Solche simplifizierenden Aussagen zu Kausalzusammenhängen lassen sich wissenschaftlich nahezu nie belegen", sagte Briken in einem am Montag veröffentlichten Interview der "Herder Korrespondenz" (Februar-Ausgabe). Die Wissenschaft kenne aber sehr wohl das Phänomen, durch sexuelles Handeln etwa labiles Selbstwerterleben auszugleichen. Auch gebe es den Befund, dass es durch eine Art "Angstlust" besonders erregend wirke, etwas Verbotenes zu tun. Briken ist Direktor des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Mitglied in der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
"Sexualität nicht nur Zeugung, Schwangerschaft und Geburt "
Mit Blick auf die katholische Lehre wandte sich Briken dagegen, Sexualität nur im Kontext von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt zu sehen und sie deswegen der Ehe vorzubehalten. Dies sei abwegig und "ein Weg, auf dem die Menschen nicht gehen". Das Besondere der Sexualität des Menschen sei, dass sie gerade nicht ausschließlich dem Kontext von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt vorbehalten, sondern davon vielfach weit entfernt sei. In der dadurch entstehenden Lücke befinde sich "ein besonderer Raum".
Die bisherigen Bemühungen der Kirche zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in ihren Reihen bewertete Briken als unzureichend. "Es sind viele Anfänge gemacht. Dennoch ist ein echter Wendepunkt im Umgang der katholischen Kirche mit Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs bisher nicht ausreichend erkennbar", so der Wissenschaftler. Offenbar bestünden in der Kirche weiterhin erhebliche Widerstände: "Die Luft nach oben – das meine ich in diesem Kontext so zweideutig, wie ich es sage – ist immer noch sehr groß."
Wissenschaftler fordert "aktives Zugehen auf Betroffene"
Wenn die katholische Kirche vor allem in Europa, Australien und Nordamerika Bestand haben wolle, müsse sie sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt dauerhaft auseinandersetzen, "im Kontext eines breiten Verständnisses von Sexualitäten, dem Wandel von Sexualitäten und Geschlechterverhältnissen, der Verantwortung für Kinder und ihre Rechte, der Verantwortung der Kirche für ihre Mitglieder, die von ihnen betriebenen Einrichtungen, Organisationen und Strukturen", so Briken weiter. Die Wunden lägen offen, seien sichtbar und nicht mehr zuzudecken. "Die Kirche muss sich hier mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften dauerhaft engagieren", sagte Briken wörtlich.
Für den Umgang mit Missbrauchsopfer empfahl Briken der Kirche ein "aktives Zugehen auf Betroffene". Es müsse ausreichend Zeit für das Zuhören da sein und Prozesse dürften gleichzeitig nicht verschleppt werden. Betroffene müssten ernst genommen und respektvoll behandelt werden. "Betroffene müssen partizipativ in Entscheidungen einbezogen werden. Es muss ernst genommen werden, welche Vorstellungen in Bezug auf Hilfen und Anerkennung bestehen. Es soll nicht vorschnell nach vermeintlichen Lösungen gesucht, aber auch nicht verzögert oder abgewiegelt werden", so der Wissenschaftler, der zudem ausreichende Ressourcen für Anlaufstellen für Betroffene sowie "eine konsequente Umsetzung" der Vereinbarung der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung zur Missbrauchsaufarbeitung anmahnte. (stz)