Koch: Haben im Erzbistum beschämend lange Geschichte des Missbrauchs
Nach mehreren anderen Bistümern hat auch das Erzbistum Berlin am vergangenen Freitag ein Gutachten zum sexuellen Missbrauch in seinem Bereich seit 1946 vorgelegt. Das Papier der Anwaltskanzlei "Redeker Sellner Dahs" listet zahlreiche Versäumnisse des Erzbistums im Umgang mit Missbrauchsfällen auf. Die schärfste Kritik der Öffentlichkeit entzündete sich allerdings an der Tatsache, dass das Gutachten nicht vollständig veröffentlicht wurde. Es fehlen rund 440 Seiten, auf denen detailliert über die Täter und die Verantwortlichen im Erzbistum informiert wird. Im per Videokonferenz geführten Doppelinterview von katholisch.de nehmen Erzbischof Heiner Koch und Generalvikar Manfred Kollig jetzt zu diesem und anderen Vorwürfen Stellung. Außerdem erläutern sie, wie es jetzt mit der Missbrauchsaufarbeitung in Berlin weitergehen soll.
Frage: Erzbischof Koch, Generalvikar Kollig, was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse aus dem am Freitag vorgestellten Gutachten?
Koch: Mir hat das Gutachten, das ja immerhin einen Zeitraum von fast 75 Jahren umfasst, eindrücklich gezeigt, dass wir in unserem Erzbistum eine beschämend lange Geschichte des sexuellen Missbrauchs haben, der wir uns dringend stellen müssen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es im Umgang mit Missbrauchsfällen in der Vergangenheit zahlreiche Versäumnisse gegeben hat und wir die Opfer und ihr Leid viel zu lange vernachlässigt haben. Das muss nun endlich Konsequenzen haben. Und wir müssen alles dafür tun, dass sich solche Verbrechen nie wiederholen können.
Kollig: Das Gutachten listet zahlreiche konkrete Empfehlungen auf, die wir jetzt in Angriff nehmen müssen. Um ein Beispiel zu nennen: Im Gutachten ist von 17 Betroffenen die Rede, die bislang noch nicht kontaktiert wurden. Das wollen wir nun nachholen. Ähnliches gilt für die anderen von den Gutachtern aufgelisteten Versäumnisse. Auch hier gibt es für uns noch viel zu tun. Das Gutachten, das will ich an dieser Stelle noch einmal betonen, ist ja nicht der Endpunkt der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in unserem Erzbistum. Gemeinsam mit der von uns extra eingerichteten Kommission werden wir jetzt konsequent mit dem Gutachten weiterarbeiten.
Frage: Über die Kommission reden wir später noch. Lassen Sie uns vorher auf ein paar inhaltliche Aspekte des Gutachtens schauen. Zahlreiche Passagen in dem Papier lassen den Leser ratlos bis erschrocken zurück. Wie konnte es zum Beispiel passieren, dass erst seit 2018 alle Missbrauchsvorwürfe gegenüber Klerikern auch den Staatsanwaltschaften mit der Bitte um Einleitung von Ermittlungsverfahren übermittelt werden?
Kollig: Wir gehen dem nach, warum die geltenden Regeln für das Melden der Fälle nicht schon vorher konsequent angewendet wurden. Ob das bewusst oder aus Nachlässigkeit passiert ist – ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass wir, als wir dies festgestellt haben, sofort gehandelt und alle Fälle an die Ermittlungsbehörden übermittelt haben. Aber eben erst nachträglich und das ist sehr bedauerlich.
„Das Gutachten konfrontiert uns mit umfangreichen Erkenntnissen aus den Akten und Empfehlungen der Anwälte. Dass uns dies kein positives Echo in der Presse beschert, kommt nicht überraschend.“
Frage: Erschreckend ist auch, dass sich laut den Gutachtern "bis heute innerhalb des Erzbischöflichen Ordinariats noch nicht die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es grundsätzlich ausgeschlossen ist, dass ein erwachsener Priester gemeinsam mit einem Kommunionskind auf einer Fahrt in einem Zimmer übernachtet". Was sagen Sie dazu?
Koch: Es macht mich sprachlos, dass so etwas nicht als völlig indiskutabel erachtet wird. Wir müssen in der Kommission überlegen, wie solches Fehlverhalten ausgeschlossen werden kann.
Kollig: Dieser Fall zeigt exemplarisch, dass noch ein weiter Weg vor uns liegt. Wir haben in unserer Kirche in Bezug auf die Präventionsmaßnahmen gute Fortschritte gemacht; auch in unserem Erzbistum haben in den vergangenen Jahren alle Mitarbeiter entsprechende Schulungen absolviert. Dass solch ein Fall trotzdem noch passieren konnte zeigt, dass offenbar noch nicht alle ausreichend sensibilisiert sind. Es zeigt sich, dass einer Veränderung des Handelns eine Veränderung der Haltung vorausgehen muss.
Frage: Die öffentlichen Reaktionen auf das Gutachten sind sehr negativ ausgefallen. Hat Sie das überrascht?
Kollig: Das Gutachten konfrontiert uns mit umfangreichen Erkenntnissen aus den Akten und Empfehlungen der Anwälte. Dass uns dies kein positives Echo in der Presse beschert, kommt nicht überraschend.
Frage: Moment, der Hauptkritikpunkt ist, dass Sie das Gutachten nicht vollständig veröffentlicht haben. Es fehlen rund 440 Seiten, auf denen die Beschuldigten, ihre Taten und das Vorgehen des Bistums aufgelistet werden. Dass dieser Teil des Gutachtens nicht veröffentlicht wird, haben doch Sie entschieden und nicht die Gutachter.
Kollig: Der Teil C des Gutachtens fasst detailliert alle Erkenntnisse, die sich aus Personalakten der Beschuldigten und aus jenen Akten ergeben, welche die jeweiligen Schritte des Verfahrens dokumentieren, zusammen. Dies umfasst auch die Protokolle mit Aussagen von Betroffenen, die diese teilweise mit der Bitte um Vertraulichkeit gemacht haben. Dieser Teil macht uns als Auftraggeber deutlich, auf welcher Grundlage die Beurteilungen und Empfehlungen des Gutachtens beruhen und dass die Beurteilungen und Empfehlungen der Gutachter auf einer soliden Sichtung der Fakten beruhen. Eine Veröffentlichung dieses Teils würde Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und der Beschuldigten verletzen. Davon unabhängig wäre eine Veröffentlichung dieses Teils nur damit zu begründen, dass man die Beurteilungen und Empfehlungen der Verfasser des Gutachtens durch die Öffentlichkeit überprüfen lassen wollte.
Frage: In der Öffentlichkeit herrscht dadurch jetzt aber der Eindruck vor, dass Sie ein Gutachten veröffentlicht haben, in dem der entscheidende Teil fehlt. Zumindest die Verantwortlichen im Bistum und ihren Umgang mit den Missbrauchsfällen hätten Sie doch offenlegen können.
Kollig: Entscheidend sind die Bewertungen und Empfehlungen, um Versäumnisse der Vergangenheit soweit wie möglich aufzuarbeiten und Verbesserungen für die Zukunft vorzunehmen. Welche andere Institution hat externen Gutachtern bei der Aufklärung von Missständen ähnlich freie Hand gelassen, wie wir das getan haben? Ohne dass der Erzbischof oder ich vor der Pressekonferenz Einblick genommen hätten, wird in dem Gutachten Tacheles geredet und werden Missstände für alle zugänglich aufgezeigt. Und darüber hinaus werden auch in dem jetzt veröffentlichten Teil Namen im Zusammenhang mit Versagen genannt.
Koch: Und wir werden zu einem späteren Zeitpunkt auch weitere Namen von Verantwortlichen offenlegen. Das haben wir zugesagt und dazu stehen wir. Wir haben das Gutachten beauftragt, um die Akten auswerten und alle Missbrauchsfälle in unserem Erzbistum unabhängig untersuchen zu lassen, nicht nur ausgewählte Fälle. Jetzt wird in einem nächsten Schritt die Kommission, die das Gutachten natürlich vollständig und ohne Schwärzungen erhalten hat, auf dieser Basis entscheiden, wie wir weiter vorgehen mit Blick auf die jeweils Verantwortlichen im Bistum.
„Das Gutachten war nur der erste Schritt, der zweite Schritt ist die Analyse durch die Kommission, die jetzt begonnen hat. Und der dritte Schritt werden dann die zu ziehenden Konsequenzen sein, die wir auch öffentlich bekanntgeben werden.“
Frage: Beruht die Kritik am Gutachten Ihrer Ansicht nach also nur auf einem Kommunikationsproblem und einer zu großen Ungeduld der Öffentlichkeit?
Kollig: Die Ungeduld der Öffentlichkeit, gerade bei diesem Thema, hat viele Gründe, die ich nicht zu bewerten habe und nachvollziehen kann. Aber wir befinden uns in einem Prozess, der mit der Veröffentlichung des Gutachtens noch längst nicht abgeschlossen ist. Ich muss weiter um Geduld bitten. Wir haben in der katholischen Kirche noch immer kein Disziplinarrecht. Das heißt, wir müssen selbst Kriterien festlegen, um das Fehlverhalten zu bewerten. Ebenso müssen wir uns auf Kriterien für das Strafmaß verständigen. Die Namen derer, die in der Zeit von 1946 bis zum 31. Dezember 2020 verantwortlich waren und sind, sind bekannt. Welche konkrete Verantwortung sie in den einzelnen Fällen haben, wird jetzt bewertet. Da wir weder auf ein Disziplinarrecht noch auf Vorerfahrungen zurückgreifen können, benötigen wir Zeit. Der Druck der Öffentlichkeit rechtfertigt nicht, ungerecht zu handeln. Dass Menschen uns diese Art von Sorgfalt als Verzögerungstaktik auslegen, können wir nicht beeinflussen.
Koch: Ich bitte noch einmal um Verständnis und Geduld für unser Vorgehen: Das Gutachten war nur der erste Schritt, der zweite Schritt ist die Analyse durch die Kommission, die jetzt begonnen hat. Und der dritte Schritt werden dann die zu ziehenden Konsequenzen sein, die wir auch öffentlich bekanntgeben werden. Ich weiß, dass viele auf diesen dritten Schritt warten – den können wir aber leider nicht vorziehen.
Frage: Ihr Aachener Mitbruder Helmut Dieser hat im Herbst viel Lob dafür bekommen, dass er in seinem Gutachten konkrete Namen von Verantwortlichen genannt hat – auch den seines Vorgängers Heinrich Mussinghoff.
Koch: Es gab in Aachen einen anderen Auftrag und es gibt entsprechend ein anderes Gutachten. Bischof Dieser hat sein Verfahren transparent gemacht, wir haben unseres transparent gemacht. Ich unterstreiche, was Pater Manfred sagt: Wir werden nicht einfach nur die Namen von Verantwortlichen veröffentlichen. Wir sind dankbar für eine kritische Begleitung durch die Medien und werden den Weg der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle weiter verfolgen, den wir offengelegt haben.
Frage: Sie haben beide schon mehrfach die neue Kommission erwähnt. Wann ist mit ersten Ergebnissen der Gruppe zu rechnen?
Kollig: Wir haben uns bereits einmal mit der Kommission getroffen, um uns kennenzulernen und Unklarheiten auszuräumen, wir sind ja erst noch dabei, die weitere Vorgehensweise zu etablieren. Was den Zeitplan angeht, sind wir uns einig, dass wir keinen Druck aufbauen sollen. Die Kommission hat gerade erst mit ihrer Arbeit begonnen, wann erste Ergebnisse vorliegen und öffentlich kommuniziert werden können, ist deshalb noch nicht klar. Aber es brennt allen unter den Nägeln, bald und zügig voranzukommen.
Koch: Mir ist in diesem Zusammenhang wichtig zu sagen, dass die Kommissionsmitglieder in ihrer Arbeit völlig frei sind. Wir müssen am Ende der Beratungen nicht einer Meinung und schon gar nicht meiner Meinung sein. Wenn wir uns nicht einigen können, stellen wir auch unterschiedliche Positionen transparent dar.
Frage: Wie verhält es sich mit den zwölf Handlungsempfehlungen, die die Anwälte im Gutachten aufgelistet haben? Vieles davon – gerade wenn es um Fragen der Verwaltungsstruktur und der internen Kommunikation geht – könnten Sie doch sofort umsetzen, ohne auf ein Votum der Kommission warten zu müssen, oder?
Koch: Das stimmt, und hier ist auch schon manches geschehen. Was etwa die Strukturen des Ordinariats oder die Kommunikationswege angeht, haben wir schon vor der Veröffentlichung des Gutachtens viele Fortschritte gemacht. Diesen Weg werden wir weitergehen.
Frage: Der Bekanntwerden des kirchlichen Missbrauchsskandals liegt mittlerweile elf Jahre zurück. Können Sie verstehen, dass die Aufarbeitung des Skandals aus Sicht der Opfer und der Öffentlichkeit viel zu langsam vonstattengeht und mitunter sogar der Vorwurf erhoben wird, die Kirche würde absichtlich auf Zeit spielen?
Koch: Die Ungeduld, ja die Wut, gerade der Betroffenen verstehe ich. Das ist für mich Ansporn weiterzugehen in der Aufarbeitung. Das sind wir den Betroffenen schuldig.
Kollig: Und wenn es um Kinderschutz, um Prävention, um Vorwürfe und Verfahren, aber auch um Anerkennungsleistungen für die Betroffenen geht, handeln wir schnell. Es ist uns nur zu bewusst, dass manche Betroffene erst sehr spät Gehör gefunden haben. Wir haben verlässliche unabhängige Ansprechpersonen für Vorwürfe sexuellen Missbrauchs. Ich ermutige alle Betroffenen sexuellen Missbrauchs, sich dort zu melden, und wenn nicht dort, so direkt bei der Staatsanwaltschaft.