Lüdecke: Entlastung Woelkis ist für Kanonisten nicht nachvollziehbar
Medienberichten zufolge sieht der Vatikan keine Versäumnisse im Verhalten des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki im Umgang mit dem "Fall O.": Woelki hatte 2015 erfahren, dass gegen einen ihm gut bekannten Priester glaubwürdige Missbrauchsvorwürfe vorliegen – und den Fall nicht nach Rom gemeldet. In den damals geltenden "Normae de[…] gravioribus delictis" heißt es in Artikel 16: "Wann immer der Ordinarius oder Hierarch eine mindestens wahrscheinliche Nachricht über eine schwerwiegendere Straftat erhält, muss er nach Durchführung einer Voruntersuchung die Kongregation für die Glaubenslehre darüber informieren." Die Glaubenskongregation soll der zuständigen Bischofskongregation die Einschätzung mitgeteilt haben, dass Woelki nicht pflichtwidrig gehandelt habe. Der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke hat Zweifel an der römischen Rechtsauslegung – doch dieser Umgang mit dem Recht habe Methode.
Frage: Herr Lüdecke, für den Laien klingt die damals geltende Vorschrift sehr eindeutig. Gibt es da überhaupt Interpretationsspielraum?
Lüdecke: Das klingt nicht nur für Laien eindeutig, das ist auch aus fachlicher Sicht eindeutig: Bei einem auch nur wahrscheinlichen Verdacht ist zu untersuchen, und unabhängig vom Ausgang der Untersuchung ist zu melden. Punkt. Übrigens ist die Norm nicht erst von 2010 – es ist unverändert die Norm von 2001, die 2010er-Überarbeitung hat daran nichts geändert.
Frage: Kardinal Woelki begründet sein Vorgehen mit der fortgeschrittenen Demenz des mutmaßlichen Täters, daher habe er keine Voruntersuchung begonnen. Könnte das einen Entscheidungsspielraum eröffnen?
Lüdecke: Nein. Zu klären ist, ob ein Tatverdacht besteht, damit die Kongregation das weitere Vorgehen bestimmen kann. Sinn der Sondernormen des Papstes war es, dem Versagen der Bischöfe in der Verfolgung solcher Taten durch eine vorgängige Kontrolle entgegenzuwirken.
Frage: Die deutschen Bischöfe haben in ihren früheren Leitlinien und aktuell in ihrer einschlägigen Ordnung nur eine Meldung nach Rom vorgesehen, falls eine Voruntersuchung den Verdacht bestätigt. Ist das mit dem universalen Kirchenrecht haltbar?
Lüdecke: Das ist mit den Sondernormen nicht vereinbar. Es ist der schon seit langem unternommene Versuch, sich sozusagen unter den Normen wegzuwinden und doch eine gewisse Entscheidungskompetenz – und damit auch eine gewisse Vertuschungsmöglichkeit – aufrecht zu erhalten. Nun waren diese Leitlinien keine verbindlichen Gesetze, und die Kanonisten waren, denke ich, davon ausgegangen, dass der Apostolische Stuhl schon darauf achten wird, dass die zugrundeliegende universalkirchliche Norm eingehalten wird. Die entsprechende Regelung in der DBK-Ordnung von 2020 ist als in diesem Punkt als unwirksam anzusehen, weil sie universalkirchlichem Recht widerspricht.
Frage: Im fraglichen Fall O. ist die Rede davon, dass Ende der 1970er Jahre sexualisierte Gewalt gegen ein Kindergartenkind ausgeübt wurde. Die zwanzigjährige Verjährungsfrist beginnt bei von Klerikern begangenen Straftaten "gegen das sechste Gebot mit einem Minderjährigen" mit Vollendung des 18. Lebensjahrs, so die Normen von 2010. Damit wäre die Tat nach den zur Verfügung stehenden Informationen wohl irgendwann zwischen 2010 und 2015 verjährt gewesen. Gilt die Informationspflicht auch im Fall einer Verjährung?
Lüdecke: Wir müssen klar sehen: Es geht um einen Fall, bei dem nicht einmal ein Zweifel am Tatverdacht und auch an der Tat bestand. Grundsätzlich kann die Kongregation auch in Fällen, die verjährt sind, diese Verjährung aufheben. Dafür muss sie aber um diese Fälle wissen. Wenn ihr diese Fälle nicht gemeldet werden, kann sie nicht beurteilen, ob sie auf eine Verjährung oder eine Aufhebung der Verjährung entscheidet. Das Problem mit der nun bekannt gewordenen Mitteilung der Glaubenskongregation besteht aber vor allem darin, dass sie Kardinal Woelki rechtskonformes Handeln bescheinigt. Das ist für einen Kanonisten nicht nachvollziehbar. Denn damit bekennt die Kongregation, dass sie einen eindeutigen Wortlaut bisher für die eigene Praxis anders verstanden hat. Der Wortlaut sagt, es ist ausnahmslos zu melden – auch bei Verjährung, auch bei Demenz des Täters. Nur die Kongregation hat es offensichtlich nicht so ernst genommen. Und wenn sie sagt, die Meldung sei erst 2020 eine Rechtspflicht geworden, dann fällt einem als Kanonisten wenig dazu ein. Der Präfekt der Glaubenskongregation hat bei der Vorstellung des Vademecums, der 2020 vorgestellten Handreichung für die Verfahren, mehrfach festgestellt: Es geht nicht um ein neues Gesetz, nicht um eine neue Rechtsnorm. Es geht lediglich um eine übersichtliche Zusammenstellung, wie man korrekt in solchen Fällen vorgeht. Die Behauptung der Kongregation ist für mich rechtlich absolut nicht nachvollziehbar.
Frage: Die Frage nach der Verjährung ist also für die Beurteilung unerheblich?
Lüdecke: Das ist erstens unerheblich und zweitens mit keiner Silbe erwähnt. Wir müssen nicht im Dunkeln stochern, welche guten Gründe es für die Entscheidung der Kongregation geben könnte. Man muss berücksichtigen, dass die Kongregation wie die kirchlichen Autoritäten insgesamt davon ausgeht, dass ihre Entscheidungen nicht aufgrund der Kraft der Argumente gelten, sondern aufgrund formaler Autorität: weil sie eine solche Entscheidung will. Sie fühlt sich nicht in der Begründungspflicht.
Frage: Bisher weiß man nur von anonymen vatikanischen Quellen über den Verfahrensstand. Rechnen Sie damit, dass eine offizielle Bekanntgabe der Ergebnisse so transparent erfolgen wird, dass sich die Gründe nachvollziehen und bewerten lassen?
Lüdecke: Für wahrscheinlich halte ich das nach meinen Erfahrungen nicht, weil die Kongregation sich auch gar nicht in der Pflicht sieht, zu erklären, warum sie eine Entscheidung trifft. Sie teilt sie mit, und das war es dann.
Frage: Hat das etwas mit Recht zu tun, wie wir es als rechtstaatsgeprägte Demokraten verstehen?
Lüdecke: Es hat mit katholischem Kirchenrecht zu tun – in dem spielt Rechtssicherheit nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das Recht ist in der Hand des jeweiligen Gesetzgebers und des Verwalters, also auch in der Hand des Rechtsanwenders, nicht in der Hand unabhängiger Instanzen. Wer Verlässlichkeit und Rechtssicherheit sucht, hat im katholischen Kirchenrecht ein Problem.
Zur Person
Norbert Lüdecke ist seit 1998 Professor für Kirchenrecht und war von 2013 bis 2020 Prodekan für Allgemeine Angelegenheiten an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Er ist zudem Honorarprofessor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Frankfurt.