Bei der Kölner Missbrauchsaufarbeitung zählen Fakten vor Empörung
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Je näher der 18. März, der Termin der Veröffentlichung des vom Erzbistum Köln in Auftrag gegebenen neuen Missbrauchsgutachtens der Anwälte Gercke und Wollschläger, rückt, desto häufiger erscheinen Medienberichte, in denen Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki aufgefordert wird, persönliche Konsequenzen zu ziehen und zurückzutreten. Immer vehementer wird gefordert, das erste Gutachten der Münchener Kanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) unbedingt noch vor dem 18. März zu veröffentlichen. Bischöfliche Mitbrüder zeigen mit dem Finger nach Köln, der Diözesanrat verweigert bis auf Weiteres die Zusammenarbeit mit der Bistumsleitung und auch bei der Online-Konferenz des Synodalen Wegs stand "Köln" immer wieder im Fokus. Während der Aussprache warnte eine Ordensfrau allerdings davor, dass andere Diözesen "Köln" nicht zum Anlass nehmen dürften, sich selbst wegzuducken.
Bei all dieser Erregung werden die gut begründeten Erläuterungen Woelkis, warum ein zweites Gutachten notwendig ist, ignoriert oder als weitere Ablenkung von persönlicher Verantwortung und Vertuschungsversuch abgetan. Nach Meinung verschiedener Gutachter sprechen gravierende methodische Mängel sowie drohende Rechtsverletzungen gegen die Veröffentlichung des WSW-Gutachtens. Auch Betroffene haben diese Kritik am WSW-Gutachten geteilt.
Woelki aber will vollkommene Transparenz und alle 236 nach heutigem Kenntnisstand seit 1975 bekannten Fälle behandelt wissen und nicht nur eine Auswahl. Damit wird die neue Studie die umfassendste sein, die je ein Bistum veröffentlicht hat. Woelkis Zusage schonungsloser Aufklärung und ggf. auch persönlicher Konsequenzen, sein Eingeständnis von Fehlern in der Kommunikation mit den Betroffen und Journalisten, sein Verständnis für Misstrauen und berechtigte Ungeduld von Betroffenen und von Gläubigen, spielen aber offenbar keine Rolle. Die zunehmende öffentliche Erregung zeigt mittlerweile Züge einer typischen Skandalisierung, wie der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger solche Mechanismen beschreibt. Dass der Autor des ersten Gutachtens, Ulrich Wastl, in einem Interview mit der Zeit-Beilage "Christ und Welt" das Veröffentlichungsverbot seitens des Kölner Kardinals einen "Gewaltangriff" nannte, hat sogar einen der renommiertesten Rechtsgelehrten, Bundesrichter a.D. Prof. Thomas Fischer, in seiner Spiegel-Kolumne zu einem harschen Ordnungsruf veranlasst. Offenbar soll ein unliebsamer Kardinal zum sofortigen Rücktritt gedrängt und mürbe gemacht werden, noch bevor die Fakten auf dem Tisch sind.
Dabei will das Erzbistum nach dem 18. März auch das WSW-Gutachten öffentlich zugänglich machen, um einen Vergleich der beiden Gutachten zu ermöglichen. Warum also gerade jetzt den Druck erhöhen? In wenigen Wochen kann sich jeder ein Urteil bilden. Dann sprechen die Fakten. Jetzt geht es um Fairness statt Empörung und Vorverurteilung. Vielleicht müssen andere Bistümer um der Betroffenen willen dann sogar nacharbeiten und ebenfalls Ross und Reiter benennen.
Der Autor
Martin Rothweiler ist der Programmverantwortliche des katholischen Fernsehsenders EWTN Deutschland.Hinweis
Der Standpunkt spiegelt ausschließlich die Meinung der Autorin bzw. des Autors wider.