Soziologe Pollack: Missbrauchsskandal rüttelt an Fundament der Kirche
Aus Sicht des Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack (65) steht durch den Missbrauchsskandal die Existenz der katholischen Kirche in Frage. "Das Ganze der katholischen Kirche steht auf dem Spiel", sagte er im Interview der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt" (Donnerstag). Die katholische Kirche gehe davon aus, dass durch sie die Fülle des göttlichen Heils vermittelt werde. "Wenn die Repräsentanten dieser sich als heilig verstehenden Institution sündigen und straffällig werden, dann können sie die Herrlichkeit Gottes nicht mehr zum Leuchten bringen, dann verdunkeln sie Gott, dann stehen sie Gott im Wege", erläuterte er. Pollack sieht keinen anderen Weg für die Kirche, als "Buße zu tun, umzukehren und die Schuld, die man auf sich geladen hat, einzugestehen".
Kritische Initiativen wie "Wir sind Kirche" oder "Maria 2.0" interpretiert der Wissenschaftler nicht als Austrittsbewegungen. "Vielmehr haben sie die allerhöchsten Erwartungen an die Kirche und hoffen auf Verbesserung." Die Frage sei allerdings, ob sie mit ihren Forderungen etwa nach Überwindung der Hierarchie oder nach Abschaffung des Priesteramts den Bogen nicht überspannten und etwas verlangten, womit sie die Kirche letztendlich überforderten.
Die Kirchenbindung im Protestantismus beurteilt Pollack als schwächer. "Deshalb vernehmen wir dort auch keine so starke, öffentlich vorgetragene Kritik." Viele Protestanten gehörten ihrer Kirche an, ohne damit so hohe Erwartungen an sie zu verbinden. Zugleich habe es der Protestantismus schwerer, weil viele christliche Orientierungen wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit oder Verzicht inzwischen in den Wertehaushalt der Gesellschaft eingewandert seien. "Das führt dann dazu, dass man die Notwendigkeit der kirchlichen Praxis nicht mehr einsieht, vor allem wenn sie sich selbst nicht als heilsnotwendig darstellt." Mit Blick auf die sinkenden Mitgliederzahlen beider Kirchen sieht der Wissenschaftler einen "dramatischen Rückgang der Relevanz von Religion". Er empfinde darüber Trauer, weil etwas verloren gehe, "was unserer Gesellschaft guttun würde und was die gesellschaftliche Entwicklung in Westeuropa stark geprägt hat".
Keine Rückkehr der Religion durch Corona
Weiter rechnet Pollack nicht mit einer Rückkehr der Religion durch die Corona-Pandemie. Alle Untersuchungen zu der Frage, wie sich diese Krise auf den Glauben und die Kirchenzugehörigkeit auswirkt, zeigten, dass bestehende Einstellungen eher verstärkt als verändert würden, sagte er. "Wer also eine starke innere Beziehung zu Religion und Kirche hat, bekennt oft, in der Krise habe sich sein Glaube noch einmal intensiviert. Wer Religion und Kirche distanziert gegenübersteht, erklärt häufig, sein Glaube habe sich abgeschwächt."
Pollack rechnet zugleich damit, dass viele Menschen die Krise überhaupt nicht religiös deuten und sagen: Wir stehen zuvorderst vor einem medizinischen und biologischen Problem, das wir mit den Mitteln der Politik und Wissenschaft angehen müssen. Der Religionssoziologe bezeichnete es als "eher gut und richtig, dass die Kirchen weitgehend darauf verzichtet haben, sich zu den großen Sinndeutern der Pandemie aufzuschwingen. Das hätte die Menschen nur gegen sie aufgebracht". Die Zeit, in der die Religion für die Lösung aller Probleme zuständig war, sei lange vorbei. (tmg/KNA)