Theologin Marianne Bevier: Corona hat die Bestattungskultur verändert
Einsamkeit, Verzweiflung, Depression – all das kann die Folge von verschleppter Trauer sein. Im katholisch.de-Interview spricht Marianne Bevier, Vorsitzende des Bundesverbands Trauerbegleitung, darüber, was sich aus ihrer Sicht ändern muss – und wie eine Petition dabei helfen soll.
Frage: Frau Bevier, seit über einem Jahr leben wir jetzt mit dem Coronavirus. Wie ist aktuell die Lage in der Trauerbegleitung?
Bevier: Trauerbegleitung kann aktuell nur stattfinden, weil die Trauerbegleiterinnen und -begleiter viele Ideen und Kreativität entwickeln. Unter diesem Aspekt sieht es also gut aus. Schwierig ist aber, dass keine Präsenzveranstaltungen oder Gruppentreffen angeboten werden können. Auch niedrigschwellige Angebote wie Trauercafés können nicht stattfinden. Diese Angebote sind aber gerade für ältere Menschen sehr wichtig, die allein leben und soziale Kontakte brauchen. Das ist eine dramatische Situation. Auch wenn sich die Trauerbegleiterinnen und -begleiter vor Ort von Spaziergängen über Telefonate bis hin zu Online-Angeboten vieles einfallen lassen, kann das nicht den sozialen Kontakt ersetzen. Schwierig ist auch, dass Trauerbegleitung nicht nur Gesprächsbegleitung ist, sondern etwas Ganzheitliches, zu dem auch Körperkontakt und Besuche gehören.
Frage: Trauerarbeit findet nicht nur im Rahmen von Trauerbegleitung statt, sondern ist ein langer Prozess. Was ist das Schlimme daran, dass etwa Trauercafés nicht stattfinden können?
Bevier: Das ist schwierig, weil beispielsweise ältere Menschen, die sich im Internet nicht gut oder gar nicht auskennen, ausgeschlossen sind. Das heißt, sie haben kaum noch Sozialkontakte. Dadurch wird es viel schwerer, in den Trauerprozess zu kommen und zu realisieren, dass ein geliebter Mensch verstorben ist.
Frage: Vor gut einem Jahr, als die Corona-Pandemie immer mehr ihren Lauf genommen hat, durften an Beerdigungen nur sehr wenige Menschen teilnehmen. Wie ist das jetzt?
Bevier: Es hat sich verändert, aber es ist immer noch schwierig. Immer noch darf nur nur eine begrenzte Anzahl Personen teilnehmen und es ist tatsächlich so – das habe ich in der eigenen Familie erlebt –, dass die Bestatter davon abraten, große Beerdigungen zu machen, damit die Trauernden nicht in Schwierigkeiten kommen. Aber die Bestattungskultur insgesamt hat sich durch die Corona-Pandemie verändert: Viele Bestattungen finden nur noch anonym und im kleinsten Kreis statt und nicht mehr kirchlich.
Frage: Woran liegt das?
Bevier: Das liegt an den Regelungen, dass man sich nicht treffen kann, und an der Angst, einander anzustecken. Es ist ein großes Problem, dass die Bestatter und Seelsorger kaum einen normalen Kontakt mit den Trauernden haben. Auch die Trauergespräche laufen meist telefonisch oder per Videokonferenz ab. Das macht etwas mit den Beerdigungen.
Frage: Was denn genau?
Bevier: Einmal, dass der Trost nicht mehr so stattfinden kann, wie sonst. Ich glaube, dass man am Telefon weniger sagt und sich kontrollierter verhält. Aber auch für die Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Trauerfeiern gestalten, findet der Kontakt nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, sondern wie durch eine Glasscheibe statt. Das macht die Begegnungen kühler, distanzierter und weniger trostvoll.
Frage: Das heißt, dass alleinstehende Menschen, die beispielsweise einen Partner verloren haben, sich dann zurückziehen?
Bevier: Trauernde ziehen sich sowieso erstmal zurück und brauchen ein stabiles soziales Umfeld, das Halt gibt und in dem sie sich bewegen können und in dem sie auch einen Ansprechpartner haben, wenn sie ihn brauchen. Dieses stabile soziale Umfeld, in dem man sich einfach unkompliziert trifft, gibt es im Moment nicht. Das verstärkt diesen Rückzug noch.
Frage: Was löst das bei Menschen aus, wenn sie sich im Trauerprozess zurückziehen?
Bevier: Zum Beispiel Einsamkeit, Schlaflosigkeit, innere Unruhe, Verzweiflungsgefühle, Depressionen, soziale Ängste oder sogar Suizid.
Frage: Was hat sich aus Ihrer Sicht seit dem vergangenen Jahr getan?
Bevier: Wirklich verändert hat sich der Umgang in der Trauerkultur. Da müssen wir aufpassen, dass wir wieder eine Weise in der Gesellschaft finden, wie Trauer ausgedrückt und gelebt werden kann. Wenn Sie an Kinder denken, die aktuell gar nicht mehr erleben, dass getrauert wird und man sich von Toten verabschiedet, da geht uns etwas verloren. In unserem direkten sozialen Miteinander ist uns auch etwas verlorengegangen. Dieses ganz normale aufeinander Zugehen und nacheinander Fragen.
Frage: Was müsste sich aus Ihrer Sicht denn tun, um das zu verändern?
Bevier: Es wäre gut, wenn Trauergruppen und soziales Miteinander wieder möglich werden würden – wenn die Corona-Bedingungen hoffentlich bald wieder besser werden. Wir müssen als Gesellschaft wieder anders auf Trauerprozesse schauen. Das betrifft nicht nur die Trauer um Verstorbene. Wir haben auch viele andere Verluste in dieser Zeit. Es braucht einen Blick auf die Trauerprozesse, einen Raum zum Klagen und nicht nur Durchhalteparolen wie "Wir schaffen das." Hoffentlich schaffen wir das, aber wir brauchen auch Räume, wo wir das betrauern können, was wir verloren haben.
Frage: Sie haben vom Bundesverband Trauerbegleitung eine Petition initiiert, die bis zum 22. März läuft. Was wollen Sie damit erreichen?
Bevier: Wir haben diese Petition gestartet, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Einer unserer Aufträge als Verband ist es, die Anliegen von Trauernden in die Gesellschaft zu bringen. Es ist uns wichtig, dass die Trauernden mehr Aufmerksamkeit bekommen, weil wir die Sorge haben, dass sonst Trauerprozesse verschleppt werden und die Menschen tatsächlich krank werden, wenn es kaum Abschiedsmöglichkeiten von Sterbenden gibt.
Frage: Bleiben die Angehörigen von Verstorbenen aktuell auf der Strecke?
Bevier: "Auf der Strecke bleiben" wäre mir zu hart formuliert, aber ich habe im Verlauf unseres Gesprächs ja schon auf die vielen coronabedingten Belastungen für Trauernde hingewiesen. Als Gesellschaft kämpfen wir gerade darum, diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Da ist Trauer nicht das erste, was im Vordergrund steht. Unser Anliegen ist aber, Trauer und Trauernde nicht zu vergessen und sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Deshalb fordern wir in der Petition auch einen Corona-Gedenktag. Die Politik will mit einem nationalen Gedenktag am 18. April der Corona-Toten gedenken. Ich glaube, man muss noch weitergehen: Es muss auch an andere Dinge erinnert werden. Dazu gehören etwa die Angehörigen der Verstorbenen und andere Menschen, die schwere psychische Belastungen erlebt haben oder diejenigen, die durch die Pandemie ihre Arbeit verloren haben.
Frage: Das heißt, Sie würden sich auch einen Gedenktag für die Menschen wünschen, die nicht an Corona gestorben sind, aber auf andere Weise an der Pandemie zu leiden haben?
Bevier: Ganz genau. Ein Gedenktag, an dem die gesamte Gesellschaft aller Menschen gedenkt, deren Leben durch die Pandemie stark zum Negativen verändert wurde.
Zur Person
Marianne Bevier hat katholische Theologie studiert und 20 Jahre in der Seelsorge gearbeitet. Jetzt ist sie freiberufliche Supervisorin und Kursleiterin in Trauer und Seelsorge. Seit 2017 ist sie Vorsitzende des Bundesverbands Trauerbegleitung e.V.