Pollack: Bischöfe verantwortlich für hohe Kirchenaustrittszahlen
Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack hat die Bischöfe für die aktuell hohe Zahl von Kirchenaustritten verantwortlich gemacht. Die Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchsskandals sei zu zögerlich angegangen worden, sagte Pollack am Freitag der Zeitschrift "Publik-Forum". Allerdings sei der vielfach kritisierte Umgang mit den Missbrauchsfällen wie zuletzt im Erzbistum Köln für viele Austrittswillige nur der Anlass für einen Schritt, dem ein langer Prozess vorausgehe, "in dem sich Annäherung, Ärger, Entfremdung, gute Erinnerungen und Enttäuschungen" mischten, so der Religionssoziologe. Am Ende sei für die betreffenden Personen jedoch klar, dass sich "die Waage in eine Richtung neigt".
Zur gegenwärtigen Welle von Kirchenaustritten trage aber auch die negative Berichterstattung über den kirchlichen Umgang mit Missbrauch bei, so Pollack weiter. "Die Skandalisierung der katholischen Kirche hat schon etwas von einem Hype." In diesem Zusammenhang würden die positiven Erfahrungen von Millionen Katholiken unterschlagen.
Austrittswelle kaum zurückzudrehen
Laut Pollack kämen diejenigen, die nun austreten, später nicht mehr in die Kirche zurück. Einem Kirchenaustritt gehe ein lange dauernder Prozess der Entfremdung voraus. Pollack bezweifelt jedoch auch, dass die Austrittswelle mit einem entschlosseneren Handeln der Bischöfe hätte verhindert werden können.
"Mein Eindruck ist, dass man den Bischöfen überhaupt nichts mehr glauben will", sagte der Religionssoziologe mit Blick auf die Stimmung in Kirche und Gesellschaft. Bereits seit 2010 sei die Zahl der Kirchenaustritte stark angestiegen, jährlich etwa um 1 Prozent. "Wenn man schneller erkannt hätte, wie stark Umkehr erforderlich ist, hätte man vielleicht die Situation beherrschen können." Doch nun sei eine Eigendynamik in Gang gekommen, die kaum zurückzudrehen sei, so Pollack.
Alle Schichten seien betroffen
Auffällig sei bei der Austrittsbewegung zudem, dass sie inzwischen alle gesellschaftlichen Schichten erreicht habe. Die erste Kirchenaustrittswelle in Westdeutschland Ende der 1960er Jahre habe aus höher gebildeten Männern mit gutem Einkommen bestanden, die überwiegend in der Stadt lebten, so Pollack. Heute seien die sozialen Unterschiede nicht mehr so bedeutsam. Kirchenaustritte seien zudem "in den Städten immer noch höher als auf dem Land". Zahlen aus der evangelischen Kirche zeigten zudem, "dass die Arbeit der Pastorinnen und Pastoren selten Grund für den Austritt ist".
Die Mehrheit der Gläubigen sei zwar nicht zufrieden mit der Kirche. "Aber das Bild von einer totalitären, in sich geschlossenen Männerorganisation, die sich weigert, Bedürfnisse der Gläubigen ernst zu nehmen und sich zu reformieren", hält Pollack für überzeichnet. Der Blick ins 19. Jahrhundert mit der damals noch bestehenden kirchlichen Ablehnung von Demokratie, mit exklusivem Heilsanspruch und Unfehlbarkeit zeige, wie stark sich die Kirche gewandelt habe.
Die im Juni veröffentlichten Kirchenaustrittszahlen für das Jahr 2019 waren so hoch wie nie zuvor. Insgesamt traten im vergangenen Jahr 272.771 Menschen aus der katholischen Kirche aus. Aktuell sind etwa in Köln die Termine für einen Kirchenaustritt beim Amtsgericht auf Monate hin ausgebucht. Pollack ist Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster und forscht vor allem zum Religionswandel in Europa und den USA. (wlt)