Kolumne: Römische Notizen

Die Pietà: Gemeißelter Glaube

Veröffentlicht am 02.04.2021 um 16:00 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Michelangelos weltbekannte Pietà zeigt einen außerbiblischen, aber markanten Moment der Heilsgeschichte: Christus zwischen Tod und Auferstehung, geborgen in den Armen seiner Mutter. Gudrun Sailer widmet sich der Karfreitags-Skulptur schlechthin.

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Die Pietà steht ganz nahe am Eingang des Petersdoms, den in diesen Wochen der Pandemie faktisch nur in Rom Lebende oder im Vatikan Arbeitende ansteuern können. Hinein durchs Portal und gleich rechts, erste Seitenkapelle. Hier ruht, ein anderes Wort kann es dafür nicht geben, hier ruht die Skulptur aus poliertem weißen Marmor, erhöht und hinter Panzerglas. Die Muttergottes in ganz nach innen gewandter Haltung sitzt auf einem Felsen, sie hält, betrachtet und zeigt den Leichnam ihres Sohnes Jesus, der quer auf ihrem Schoß hingebettet ist. "Pietà" heißt "Erbarmen".

Die Skulptur ist 174 Zentimeter hoch, 195 Zentimeter breit, aber nur 69 Zentimeter tief, ein Bildwerk, das für die Ansicht von vorne gemacht ist, fast eine Art freistehendes Relief. Und noch etwas, das man erst sieht, wenn man es weiß: Jesus ist lebensgroß, seine Mutter jedoch etwas größer. Erhöbe sie sich, würde sie die zwei Meter überragen, haben Fachleute errechnet. Allein wie Michelangelo hier mit Proportionen und Harmonien hantierte, zeigt eine gestalterische Intelligenz, die ihn fraglos als Genie auswies. Er vollendete die Plastik 1499 im Alter von 24 Jahren. Weil er so jung war und das Werk dermaßen schön, wie allem Irdischen enthoben, zweifelten manche an der Urheberschaft. So kam es, dass Michelangelo die Pietà als einziges seiner Werke signierte. Nicht irgendwo am Sockel und dezent, sondern auf dem Band, das schräg über den Oberkörper der Muttergottes läuft. Als Teil des Kunstwerks. Da ist auch nicht bloß ein Name eingemeißelt, sondern ein Satz, ein Statement: MICHAEL.A[N]GELVS BONAROTVS FLORENT[INVS] FACIEBAT, "das hat Michelangelo Buonarroti aus Florenz gemacht".

Bedauerlich ist, dass diese selbstbewusste Signatur wie alle anderen Details der Skulptur – Hände, Haare, Stoffe, Faltenwurf, Gesichter – sich seit bald 50 Jahren nur auf Abstand betrachten lassen. Die Pietà musste unnahbar gemacht werden. Denn 1972 am Pfingstsonntag hatte ein verwirrter Attentäter, der sich für Jesus hielt, mit einem Hammer auf sie eingedroschen. Maria verlor den linken Unterarm und die Nasenspitze. Die Restaurateure der Vatikanischen Museen puzzelten die etwa 50 Marmorteile und -splitter in zehn Monaten wieder zusammen, nur die Nase war perdu: Sie wurde aus Kunstharz rekonstruiert, was niemand sieht. Seit dem Zwischenfall steht die Pietà hinter Panzerglas, und wer ihr wirklich nahe kommen möchte, braucht sehr, sehr gute Beziehungen. Oder Fotos.

Maria auf Weltreise

Wobei die umfangreichste Bilderserie zur Pietà nicht im Vatikan entstand, sondern in New York. Dorthin hatte Papst Paul VI. in den 60ern die Plastik entliehen, schwer vorstellbar aus heutiger Sicht. Michelangelos Meisterwerk reiste mit dem Schiff nach Amerika und war einer der Höhepunkte der Weltausstellung 1964/65. Ein aus Wien gebürtiger amerikanischer Fotograf, ein Autodidakt namens Robert Hupka (1919-2001), der eigentlich nur zwei, drei Bilder für eine Schallplattenhülle im Auftrag der Expo schießen sollte, war so berauscht von der Pietà, dass er, wie er erzählte, zwei Monate lang nicht aufhören konnte, sie zu fotografieren: schwarzweiß und in Farbe, mit verschiedenen Kameras und Objektiven, in allen Details und aus allen Perspektiven, seitlich, von hinten, sogar von oben, mit Naturlicht oder Scheinwerfern. Nachts ließ Hupka sich mit der Plastik einschließen. An die 5.000 Bilder fertigte er für sich privat an. Jahre später, nach dem Attentat und der Panzerglas-Schranke, wurde ihm klar, dass er seinen Schatz teilen musste. Hupkas Pietà-Fotos aus den 60ern sind bis heute ab und zu in Ausstellungen zu sehen. Und sie offenbaren, was diese Plastik zu einem der größten Kunstwerke des Abendlandes macht.

Bild: ©picture-alliance/dpa/UPI

Kein schöner Anblick: die Pieta nach dem Anschlag 1972

Erzählen wir es von Anfang an. Rom, 1497. Wer dem Milchbart Michelangelo die Chance gab, sich als der aufgehende Stern am Firmament der religiösen Renaissancekunst zu etablieren, ist lückenlos erforscht. Als Auftraggeber trat der französische Gesandte beim Papst an den vielversprechenden Florentiner Bildhauer heran, der noch nicht lange in Rom war. Kardinal Jean Bilhères de Lagraulas wünschte für seine Grabkapelle einen würdigen Dekor und beauftragte Michelangelo mit einem Sujet, das in Italien weniger bekannt war, sich aber nördlich der Alpen zumal in den deutschen Ländern, wo der Kardinal zuvor stationiert war, großer Beliebtheit erfreute: Eine Pietà sollte es sein, das heißt eine Figurengruppe aus der Schmerzensmutter und dem Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Christus, im Deutschen als Vesperbild bekannt.

Ein konzentriertes, gereinigtes Bild

Michelangelo hatte solche Darstellungen gesehen. Sein Genie äußerte sich darin, dass er die alte Bildtradition neu auslegte, auf renaissancehafte Weise, und damit zu einer überzeitlich-christlichen Aussage fand. Das klassische Vesperbild ist ein Bild des Jammers, es zeigt eine verzweifelte, weinende Mutter mit dem gefolterten Leichnam des Sohnes inmitten weiterer Trauernder. Bei Michelangelo dagegen tritt uns ein Substrat entgegen, ein konzentriertes und gereinigtes Bild: eine mädchenhaft junge und überirdisch schöne Maria, die keine Tränen mehr zu vergießen braucht, weil sie alles in ihrem Herzen bewahrt und darüber nachgedacht hat, und ein Jesus, der die Vollendung des Auferstandenen vorwegnimmt. Nur angedeutet sind die Wundmale der Kreuzigung an seinen Händen und Füßen, sein Leib ist makellos. Der polierte Marmor der Skulptur reflektiert das Licht und deutet vollkommene Geschlossenheit an. Das Vesperbild ist Karfreitag, Erde, Tränen und Blut. Die Pietà hingegen übersteigt alles Irdische. Sie vereint Tod und ewiges Leben, sie ist bereits Ostern.

Zugleich sieht, wer sich in die Pietà versenkt, ins Geheimnis der Auferstehung eine innige Szene kompletter, zeitfreier Stille hineingewoben, eine Intimität, die sich in Detailaufnahmen wie jenen von Robert Hupka besser begreifen lässt als bei Frontalansicht auf drei Metern Abstand. Nach den Jahren seines öffentlichen Wirkens und nach seinem Sterben am Kreuz nimmt die Muttergottes den toten Sohn zurück auf ihren Schoß, so wie damals als Kleinkind. Deshalb ist die Pietà Gegenstück und Vollendung aller lieblichen Gemälde von Madonna und Kind. Ähnlich wie in solchen Genredarstellungen lenkt auch bei Michelangelo Maria den Blick der Betrachtenden auf Jesus. Ihre rechte Hand hält den Leichnam, doch ihre Linke gibt den Sohn frei und weist nach oben zum Vater in einer Geste, die besagt: Es ist vollbracht. Nach Deinem Wort. Mehr noch als das Erbarmen Marias zeigt die Pietà in Michelangelos Werk den Glauben Marias an die Allmacht Gottes, einen Glauben, der dem Karfreitag standhält.

Von Gudrun Sailer

Kolumne "Römische Notizen"

In der Kolumne "Römische Notizen" berichtet die "Vatikan News"-Redakteurin Gudrun Sailer aus ihrem Alltag in Rom und dem Vatikan.