Ein Gastbeitrag von Jochen Sautermeister

Vom Beichtvater zum Moraltheologen: Zum 100. Geburtstag von Franz Böckle

Veröffentlicht am 18.04.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Erfahrungen im Beichtstuhl und in der Krankenhausseelsorge waren für Franz Böckle wichtige Schritte auf seinem Weg zu einem der prägendsten Moraltheologen Deutschlands. Ein Gastbeitrag des heutigen Inhabers von Böckles Lehrstuhl in Bonn zeichnet dessen Leben nach.

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Am 18. April 2021 wäre der Moraltheologe Franz Böckle hundert Jahre alt geworden. Er hat die deutschsprachige Moraltheologie mit ihrem Anspruch auf gesellschaftliche und kirchliche Verantwortung im Dienste des Menschen maßgeblich beeinflusst – bis heute. In einem Nachruf kurz nach seinem Tode am 8. Juli 1991 würdigte ihn einer seiner Schüler vielsagend so: "Mit dem Tode des Moraltheologen Franz Böckle neigt sich eine wichtige Epoche der Moraltheologie zu ihrem Ende. […] Die Moraltheologie konnte sich aus ihrem anachronistischen neuscholastischen Korsett befreien und wurde zur theologischen Ethik, welche endlich die geistesgeschichtliche Entwicklung seit der Aufklärung einholte und sich […] dem zeitgenössischen ethischen Diskurs stellen konnte. Franz Böckle hat diesen Durchbruch mit internationaler Ausstrahlung entscheidend mitgetragen und mitgeprägt." (Hans Halter)

Franz Böckle wurde am 18. April 1921 in Glarus/Schweiz geboren. Nach seiner Gymnasialzeit in Stans, während der er noch mit dem Arztberuf liebäugelte, studierte er ab 1941 Philosophie und Theologie am Priesterseminar St. Luzi in Chur, der heutigen Theologischen Hochschule Chur. Dort sprach ihn besonders die Beschäftigung mit der Philosophie und der systematischen Theologie an. Zu dieser Zeit war längst noch nicht absehbar, dass er zu einem der maßgeblichen Moraltheologen in Kirche und Gesellschaft im deutschsprachigen Raum werden sollte – im Gegenteil, hatte doch die neuscholastische Handbuchliteratur auf dem Boden eigener biografischer Erfahrungen eine eher abschreckende Wirkung auf ihn.

Prägende Begegnungen mit Hans Urs von Balthasar

Nach seiner Priesterweihe im Jahr 1945 wirkte er bis 1950 als Kaplan in Zürich. Wie viele Moraltheologen seiner Generation veranlassten ihn seine zahlreichen Gespräche im Beichtstuhl dazu, die Konzentration auf Verfehlungen gegen Kirchengebote und die rigide Sexualmoral kritisch zu hinterfragen. Die Not der Menschen mit einer sündenfixierten Beichtmoral wurde zu einer prägenden Erfahrung seines weiteren Theologie-Treibens. Ferner beeinflussten ihn während dieser Zeit die freundschaftlichen Begegnungen mit dem Theologen Hans Urs von Balthasar, der ihn für das vertiefte Studium der Bibel und der Theologie der Kirchenväter motivierte, sowie die Mitarbeit in einer ökumenischen Arbeitsgruppe, die sein Interesse für die moderne evangelische Theologie und besonders für Karl Barth weckte. Hier wurden wichtige Grundsteine für seine spätere Lehr-, Forschungs- und Vortragstätigkeiten gelegt.

Von 1950 bis 1952 sollte Franz Böckle auf Weisung seines Diözesanbischofs dann in Rom sein Dissertationsstudium abschließen. Seine Dissertation galt dem biblischen Thema "Die Idee der Fruchtbarkeit in den Paulusbriefen" – ein Thema, das ebenfalls noch nicht auf eine moraltheologische Laufbahn schließen ließ. Während seiner Zeit in Rom wirkte Böckle zugleich in der Klinikpastoral. Dort konnte Böckle an seine früheren medizinischen Interessen anschließen und wurde mit ganz konkreten medizinethischen Herausforderungen konfrontiert. Die Bedeutung dieser Erfahrungen hat er kurz vor seinem Tod so beschrieben: "Ich war zwei Jahre Krankenhausseelsorger an der Clinica Quisisana in Rom, wohnte im Haus, aß mit den Ärzten und diskutierte mit ihnen praxisnah die konkreten Anforderungen an ihre Verantwortung. Die Grundsätze unserer fundamentalistischen kirchlichen Moral, die ich in der täglichen Ausbildung zu hören bekam, ließen mich den praktischen Fragen der Ärzte gegenüber eine bittere Hilflosigkeit spüren. […] Diese Erfahrung am Start meiner Laufbahn war ungemein prägend für meine weitere Entwicklung. Es war mir klar: Moral macht man nicht von oben. Sittliche Erkenntnis wächst aus dem Bemühen um eine umfassend menschliche Antwort auf konkrete Herausforderungen des Lebens."

Bild: ©LMU

Jochen Sautermeister ist Inhaber der Lehrstuhls für Moraltheologie und Direktor des Moraltheologischen Seminars an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Die biografische Wende zum Moraltheologen geschah 1952. Aufgrund des Todes des amtierenden Professors für Moraltheologie in Chur wurde Franz Böckle von seinem Diözesanbischof überraschend zu dessen Nachfolger ernannt. Bevor Böckle jedoch den Lehrstuhl übernehmen wollte, verbrachte er ein einjähriges Vorbereitungsstudium beim Münchener Moraltheologen Richard Egenter. Bei ihm lernte er moraltheologische Erneuerungsbestrebungen kennen. Die Beschäftigung etwa mit der Wertphänomenologie und Psychologie waren das theoretische Grundgerüst für eine Revision der neuscholastisch-kasuistischen Handbuchmoral hin zu einer theologischen Ethik und hoben die sittliche Erfahrung als wichtige ethische Erkenntnisquelle hervor. Von 1953 an lehrte und forschte Böckle als Professor für Moraltheologie in Chur, bis er dann 1963 auf den Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Bonn als Nachfolger des renommierten Moraltheologen Werner Schöllgen berufen wurde.

Als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland war Bonn damals das Zentrum des politischen Lebens und von internationaler Relevanz. Treffend beschreibt Hans Halter die Konstellation: "Dieser Lehrstuhl war Böckle mit seiner Offenheit für interdisziplinären Austausch, mit seiner Spürnase für aktuelle Probleme und Problemlösungen, mit seiner Begabung für eine schnelle Lagebeurteilung und für nicht selten brisante erste Stellungnahmen in den Medien auf den Leib geschnitten. Die moraltheologische Tagesordnung wurde fortan noch stärker als bisher nicht bloß von aktuellen akademischen Fragestellungen, sondern auch gesellschafts- und kirchenpolitischen Ereignissen und Entwicklungen bestimmt."

Intensive Beschäftigung mit Themen rund um Ehe und Familie

Insbesondere der Aufbruch durch das Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) und der Einschnitt durch die Enzyklika "Humanae vitae" (1968) von Papst Paul VI. führte zu einer intensiven Beschäftigung Böckles mit den Fragen von Ehe, Familie, Fortpflanzung und Sexualität. Als Präsident der "Sachkommission IV: Ehe und Familie" der Würzburger Synode, auf der die Bistümer der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam das Zweite Vatikanum für die deutsche Kirche rezipieren wollten, war er federführend für den Synodenbeschluss "Ehe und Familie" verantwortlich. Das ebenfalls in dieser Kommission erarbeitete Dokument "Sinn und Gestaltung menschlicher Sexualität", das vor dem Hintergrund des damaligen humanwissenschaftlichen Erkenntnisstandes und theologischer Reflexionen umsichtige Perspektiven für eine erneuerte Sexualmoral entwickelte, bekam lediglich den Rang eines Arbeitspapiers.

Theologisch-ethisch beschäftigte Böckle die zentrale Frage, wie sich Freiheit und Verantwortung des Menschen theologisch begründen lassen. Seine Überlegungen zu einer "theonomen Autonomie" mündeten in dem Buch "Fundamentalmoral", das großen Einfluss auf die Weiterentwicklung der Theologischen Ethik hatte.

Bild: ©Fotolia.com/pure-life-pictures

Das Bonner Schloss ist der Hauptsitz der Universität der Bundesstadt.

Im Rahmen gesellschaftlicher, politischer und sozialethischer Fragestellungen war Böckle in seiner Bonner Zeit eine der gefragtesten Stimmen. Er äußerte sich praktisch zu allen großen gesellschaftspolitischen (Sexualstrafrecht, Schwangerschaftskonflikte, Ehescheidung), medizinethischen (Abtreibung, Sterbehilfe, Organspende, Reproduktionsmedizin, AIDS), friedensethischen (NATO-Doppelbeschluss, atomare Abschreckung) oder entwicklungspolitischen Themen (Bevölkerungspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, Umwelt) und zu forschungsethischen Fragestellungen (Gentechnologie, Risikoabschätzungen) seiner Zeit. In Kirche, Gesellschaft und Politik war er in zahlreichen Gremien und Kommissionen als theologisch-ethisches Mitglied und Berater tätig. Die Bundesärztekammer nahm Böckle als Mitglied auf. Zudem war er etwa lange Jahre Leiter der wissenschaftlichen Kommission "Entwicklung und Frieden" sowie Mitglied der deutschen Sektion "Iustitia et Pax" und hat maßgeblich am Hirtenschreiben "Gerechtigkeit schafft Frieden" der deutschen Bischöfe mitgewirkt.

Von 1983 bis 1985 war Franz Böckle auch Rektor der Universität Bonn; von 1985 bis 1987 übernahm er über seine Emeritierung im Jahr 1986 hinaus die Aufgabe eines Prorektors. Schon zu dieser Zeit hatte ihn eine Krebserkrankung ereilt, die nach zwei Operationen unerwartet rasch am 8. Juli 1991 zum Tode führte. 1991 hatte ihm die Medizinische Fakultät der Universität Bonn die Ehrendoktorwürde verliehen. 1986 war er mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und 1989 mit dem Ehrenzeichen der deutschen Ärzteschaft ausgezeichnet worden.

Keine Scheu vor Herausforderungen

Das breite und beeindruckende gesellschaftliche, politische und kirchliche Engagement von Franz Böckle blieb nicht ohne Spannungen und Konflikte. Der damalige Dekan der Bonner Fakultät, Heinz-Josef Fabry, sagte in der Würdigung der Fakultät zum Tode Böckles: "Franz Böckle hatte rechtzeitig gewarnt, mußte aber mit tiefer persönlicher Enttäuschung mit ansehen, wie sich die Kirche, wie sich seine Kirche in weiten Bereichen selbst aus der gesellschaftlichen Akzeptanz herauskatapultierte."

Franz Böckle, der während seiner ganzen Bonner Zeit auch als Seelsorger in der Pfarrei "Christi Auferstehung" in Bonn-Röttgen wirkte, zeichnete sich durch eine hohe Dialogbereitschaft und ein aus dem christlichen Glauben heraus motiviertes politisches und gesellschaftliches Engagement und Verantwortungsbewusstsein aus, das in tiefer kirchlicher Verbundenheit auch an der Weiterentwicklung von Theologie und Kirche interessiert war. Böckle scheute sich daher nicht, auch gerade die brisanten Herausforderungen anzugehen. In einem Interview hatte Böckle einmal gesagt: "Das Wichtigste einer theologischen Ethik ist die Befreiung des Menschen zur Freiheit einer verantworteten Gewissensentscheidung. Frei handeln kann der Mensch nur, wenn er aus Gründen, und zwar aus objektiven Gründen, handelt. […] Die Erkenntnis des richtigen und falschen Weges eigener Verantwortung muß der Mensch doch mit seinen eigenen Kräften suchen und zu gehen wagen!"

Von Jochen Sautermeister