100 Tage Biden – zwischen Illusion, Hoffnung und Realität
Wie sehr haben sich viele Menschen weltweit nach dem 20. Januar 2021 gesehnt? Jener Tag, an dem der neue US-Präsident vereidigt wurde, stand in diesem Jahr unter besonderen Vorzeichen: Nicht die Fragen, ob und wie viele Menschen daran teilnehmen würden oder ob der neue "Man in Charge" die Worte "So wahr mir Gott helfe" an die Eidesformel anschloss, standen im Zentrum. Dieses Mal war es der Wechsel von Donald Trump auf Joe Biden, der von zahlreichen Beobachtern im In- und Ausland kommentiert, ja geradezu symbolisch verklärt wurde.
Dies hatte mehrere Gründe: Da waren zunächst die wochen- und monatelangen Auseinandersetzungen vor Gericht, die nach dem Wahltag am 3. November 2020 die Stimmung in den USA aufgeheizt haben. Ebenso befand sich die Gesellschaft weiterhin tief in der Corona-Krise, die hunderttausende Menschen das Leben gekostet hatte. Nicht zuletzt natürlich war es der sogenannte "Sturm auf das Kapitol" vom 6. Jänner 2021, an dem zahlreiche Demonstranten das symbolträchtige Gebäude der US-Politik besetzt hatten und der zumindest kurzfristig einen Hauch von Chaos in die US-Politik gebracht hatte – just an jenem Tag, an dem das Wahlergebnis zugunsten Joe Bidens ratifiziert werden sollte. Es war klar: Diese Vereidigung hatte symbolische Bedeutung, womöglich in größerem Ausmaß als das in den letzten Zeremonien der Fall war – auf jeden Fall hatte sie hohe Sicherheitsvorkehrungen wie noch nie zuvor. Und das obwohl keine Menschenmassen daran teilgenommen hatten.
Der "Tag in unsicheren Gewässern", wie das der Bürgermeister von Washington D.C., Muriel Bowser, genannt hat, wurde medial zu einem – theologisch gesprochen – "Kairos" hochstilisiert, zu einem weltgeschichtlich (ja, heilsgeschichtlich!) bedeutsamen Zeitpunkt, an dem sich das Blatt der US-Politik wenden sollte. Der neu zu vereidigende Präsident wird in solchen Zusammenhängen nicht selten in eine quasi-sakrale Aura getaucht, als "Retter einer ganzen Nation". Dass dies parteiübergreifend geschieht, sollte der Vollständigkeit halber erwähnt sein. Es ist fast eine unausgesprochene Tradition der US-Zivilreligion, dass ein Präsident (noch bevor er im Amt ist) von jenen Früchten her gemessen wird, die zu bringen er im Wahlkampf versprochen hat.
Ersehnt im internationalen Geschehen
Nun sind 100 Tage vergangen, seitdem Präsident Joe Biden auf seine traditionsumwitterte Familienbibel vereidigt wurde. Dies ist auch traditionellerweise ein Zeitpunkt, an dem eine erste Bilanz gezogen wird, ob und inwiefern man an der Amtsführung des neuen ersten Mannes im Staates bereits einen Fingerabdruck seiner Politik erkennen kann. Eines kann man nach diesem Zeitraum unter Joe Biden bereits erkennen: Seine Amtsführung, seine Kommunikation und seine Entscheidungen unterscheiden sich insbesondere der Form nach von der seines Vorgängers, natürlich aber auch nicht minder in Inhalt und Ausrichtung seiner Politik. Den von vielen erwarteten "Messias", der die USA von allen Krisen erlösen könnte, die man (oftmals auch fälschlicherweise) alleinig seinem Vorgänger im Weißen Haus zugerechnet hat, hat man in Biden nicht gefunden, wohl aber einen Politiker jenes Formates, das man sich insbesondere im internationalen Geschehen wieder ersehnt hatte.
US-Präsident Joe Biden tritt nicht minder entschlossen als der "America First"-Präsident Trump auf, beschwört wie eben jener die geschlossene Großartigkeit der Vereinigten Staaten gegenüber der Welt, wohl aber tut er dies in einer völlig anderen Form: Innenpolitisch zeigt sich das in erster Linie mit einer veränderten Corona-, Familien- und Flüchtlingspolitik, außenpolitisch insbesondere in einem harten und entschlossenen Auftreten gegenüber Russland, wohl aber im Gefüge der politischen Bündnispartner. Dies hat zur Folge, dass auch bei Joe Biden – ähnlich wie bei seinem Amtsvorgänger – die Perspektiven seiner Bürger sowie die der internationalen Politik auseinanderdriften: Während Biden international als beständiges Gegenstück zum sprunghaften, wenig kalkulierbaren Donald Trump auftritt, sind seine innenpolitischen Entscheidungen keinesfalls unumstritten. Die Förderung der Integration sowie auch die liberale Gesetzgebung in der Familienpolitik stoßen nach wie vor vielen politischen Gruppierungen sauer auf, besonders aber sein Befehl, strategische Ziele in Syrien bombardieren zu lassen, war für viele ein Zeichen, dass in diesem US-Präsidenten auch der Wille zur militärischen Machtausübung wieder in Washington Einzug gehalten hat. Die Brisanz ist nicht zu leugnen: Auch die Erfolge in der Corona-Politik können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Joe Biden gegenüber seinen eigenen Wählern eine Bringschuld hat, die er – zwar unmöglich in 100 Tagen, aber dennoch möglichst bald – unter Beweis zu stellen hat. Auch die präsidialen Vorschusslorbeeren können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Biden zunächst erstmal Erfolge liefern muss – und das nicht nur im gesundheitspolitischen Bereich, sondern auch in der Wirtschaft, am Arbeitsmarkt und der sozialen Absicherung.
Entscheidungen von Donald Trump wurden rückgängig gemacht
Noch ein Eindruck vom Wahltag: Nur Stunden, nachdem er zum neuen US-Präsidenten vereidigt wurde, saß Joe Biden bereits am legendären Schreibtisch im Oval Office des Weißen Hauses und füllte stapelweise präsidiale Dekrete aus. Dabei handelte es sich insbesondere um Entscheidungen, die Donald Trump im Alleingang gemacht hatte (Austritt aus der WHO, dem Pariser Klimaabkommen etc.), von denen Biden bereits im Wahlkampf versprochen hatte, er würde sie als US-Präsident sofort zurücknehmen. Dieses Bild war auch innerhalb der Vereinigten Staaten nicht unumstritten: Der Grund dafür lag in den symbolischen Parallelen zu Donald Trump – quasi: Was dieser in Alleingängen beschlossen hatte, wird in Alleingängen zurückgenommen. Die wohl nicht unberechtigte Angst bleibt offenbar bestehen, dass mit Trumps "Dekret-Politik" Alleingänge des Präsidenten befördert wurden und nun in den Amtsperioden nach ihm an der Tagesordnung bleiben würden. Nicht, dass es solche nicht schon zuvor gegeben hatte, aber Trump hatte diese Form der Spontan-Politik auf eine neue Ebene gehoben. Dass sich auch Biden in vielen Entscheidungen keine signalstarke Unterstützung in den Kammern des Kongresses geholt hatte, wurde demnach auch nicht einfach als eine präsidiale Durchsetzungskraft, sondern eher als machtpolitische Scheuklappenpolitik gewertet. Auch wenn er diese Zustimmung nicht gebraucht hat, wäre das Signal in Richtung "Checks and Balances" wohl politisch wohlwollend aufgenommen worden. Das positive Echo aus beiden Kammern wäre Biden sowieso sicher gewesen.
Aber zurück zum Gesamteindruck Bidens aus diesen ersten Monaten. Es kann kein Zweifel bestehen: Joe Biden ist ein Politiker "der alten Schule", eigentlich ein Ur-Bestandteil jenes politischen "Establishments", das Donald Trump 2016 dauerhaft abwählen und entmachten wollte. Man könnte fast meinen, der über drei Jahrzehnte als Senator von Delaware wirkende Biden (1973-2009) dreht mit seiner Form der Politik am Rad der Zeit: Nicht nur, dass er ein völlig anderes kommunikatives Auftreten als etwa Donald Trump oder Barack Obama hat, sondern markiert er in seiner Amtsführung auch die sichtbarste Form von praktizierter Religiosität seit Jahrzehnten: Der gläubige Katholik Biden, der zwar von vielen seiner Glaubensgeschwister aufgrund seiner politischen Haltung kritisch gesehen wird, macht über seine spirituelle Beheimatung keinen Hehl. Im Unterschied zu seinen Vorgängern im Weißen Haus scheut er sich nicht, in öffentlichen Reden die Bibel, christliche Hymnen oder Metaphern aus der kirchlichen Tradition zu verwenden. Einer der Letzten, der das in ähnlichem Ausmaß, wohl aber auch in einer eigenen Perfektion, verstanden hat, war Ronald Reagan. Abweichend von vielen seiner demokratischen Amtskollegen, die sich in ihrer Zeit in der Politik eher von der klassischen Konfessionsbeheimatung entfernt hatten, bleibt Biden seinem praktizierten Glauben treu, der Kirchgang ist im wöchentlichen Kalender fest eingeplant, auch die traditionellen Familiengebete werden weiterhin gepflegt.
Bruchstellen einer sich verändernden Nation
Wie auch immer man zu diesen Entwicklungen stehen mag: Biden steht sowohl in seiner Politik, seinem Bekenntnis als auch in der Art und Weise seiner Amtsführung an Bruchstellen einer sich verändernden Nation. Die Vereinigten Staaten, die in den letzten Jahrzehnten einen enormen Zuwachs von Konfessionslosen zu verzeichnen haben, sind auch in ihrer patriotischen Selbstwahrnehmung sowie in der Wahrnehmung ihres "ersten Mannes im Staat" in einem Wandel begriffen. Biden stellt mit zahlreichen Elementen seiner Person sowie seiner Politik diesen Wandel in einem fast konträren Bild zur Schau: Während er eine zunehmend liberale Politik nach innen vertritt, greift er außenpolitisch auf eine traditionelle Form von amerikanischem Führungsanspruch zurück. Seine im Amt sichtbare Religiosität, die – im Vergleich zu den anderen Präsidenten – nahtlos in seiner Biographie nachzuweisen ist und in ihren wesentlichen Ausprägungen höchst authentisch gelten darf, dürfte aber für nicht wenige Wählergruppen der demokratischen Partei für Stirnrunzeln sorgen. Sind das nicht jene Elemente, von denen man sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend entfernt hatte? Der Richtungsstreit innerhalb der "Blue Party" hat somit auch durch die Person Bidens wieder Fahrt aufgenommen. Auch die Wahl des diversesten Regierungsteams, das die USA jemals gesehen haben, macht diese Spannung noch einmal deutlich: Der höchst traditionsbewusste, "alte weiße Mann" setzt in der politischen Wahrnehmung auf medienwirksame Elemente, die Diversität, Vielfalt und Genderbewusstsein spiegeln. Ob dieser Anschein Programm wird oder es nur bei optischen Anzeichen bleibt, wird sich auch erst in den nächsten Jahren herausstellen müssen.
Man merkt: Joe Biden hat noch viel zu tun – und damit ist nicht nur die politische Aufgabe gemeint, vor der er steht. Vielmehr wird es für Biden (möglicherweise mehr als für den "Quereinsteiger" Trump) unerlässlich sein, seinen besonderen Platz im Selbstverständnis der sich wandelnden USA zu finden: Zwischen Tradition und Moderne, zwischen Konservativität und Liberalität, zwischen Macht und Autorität, zwischen Sieg und Niederlage. Der Beginn seiner Amtszeit fiel in eine bewegte und krisengebeutelte Zeit. Die Anzeichen sind noch nicht da, dass sich das verändern könnte. In der Vergangenheit war dies jedoch nicht immer ein schlechter Kontext für einen Präsidenten: Krisen sind in den USA politische Chancen, an denen man viel gewinnen kann, an denen man aber auch jegliche Glaubwürdigkeit einbüßen kann.