Theologe: Es kann nicht sein, dass alle Kirchen gleich sein müssen
Theater, Café, Galerie, Treffpunkt – all das war die Stuttgarter Kirche St. Maria schon, seit 2017 das Projekt "St. Maria als" begonnen hat. Die Menschen der Stadt hatten viele verschiedene Ideen, wofür das sanierungsbedürftige Gotteshaus zusätzlich zu seiner religiösen Funktion genutzt werden könnte. Aus dem Projekt wurde ein Konzept und die Kirche wird inzwischen auch ganz offiziell als "St. Maria als" bezeichnet. Seit Jahresbeginn ist der Theologe und Künstler Sebastian Schmid Kurator dort. Im Interview erklärt er, was er in der Kirche nicht stattfinden lassen würde und warum "St. Maria als" wohl ein Ort des Suchens bleiben wird.
Frage: "Wir haben eine Kirche, haben Sie eine Idee?" war die Frage, mit der die Kirche St. Maria 2017 auf die Menschen in Stuttgart zugegangen ist. Inwiefern hat sich das Konzept seitdem verändert, Herr Schmid?
Schmid: Anfangs wurde diese Frage von vielen als Übergangsfrage verstanden – jetzt ist sie im Prinzip zum eigentlichen Konzept geworden. Manchmal fragen mich Menschen: "Was kam denn jetzt raus beim Projekt 'St. Maria als'?" Die Antwort darauf ist: Es ist immer noch eine Leerstelle, ein Freiraum und der Titel "St. Maria als" besagt nach wie vor, dass es nicht fertig definiert ist. Damit entsteht ein neues Kirchenbild: Kirche ist nicht das, was zuerst da ist und was dann mit Menschen gefüllt werden muss, sondern es ist Aufgabe der Menschen, mitzudefinieren, was Kirche ist.
Frage: Seit Anfang des Jahres sind Sie jetzt der Kurator der Kirche. Was ist Ihr Plan für "St. Maria als"?
Schmid: Die schwierige Aufgabe ist es, planlos zu bleiben. Also nicht mit einem fertigen Konzept zu kommen und den Leerraum nicht zu füllen, sondern offen zu halten und zu schauen, wie die Menschen das füllen und wie Gott das füllt. Deshalb war meine erste persönliche Aktion, die ich in St. Maria gemacht habe, zu warten. Ich habe mich immer wieder in die Kirche gesetzt und ein leeres Papier aufgehängt als Zeichen dafür, dass ich nicht mit einem Konzept komme, sondern versuche, die Leere aufrechtzuerhalten. Es geht mir darum, Spiel in dem Sinne zu ermöglichen, dass etwas nicht ganz festgelegt ist. Eine Schublade braucht zum Beispiel ein wenig Spiel, damit man sie öffnen kann. Und dieses Changieren zwischen Sicherheit auf der einen und Bewegung und Offenheit für Unerwartetes und Spontanes auf der anderen Seite ist am ehesten mein Konzept.
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Frage: Eine Kirche ist ja eigentlich ein liturgischer Ort und die Eucharistie ist für Katholiken Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens (Lumen gentium 11). Inwiefern erfüllt eine Kirche ihren Zweck, in der neben Messen auch beispielsweise Kulturveranstaltungen stattfinden?
Schmid: Genau das ist die Frage: Was ist das Wesen einer Kirche? Ist sie neben Ort der Liturgie nicht auch Ort der Diakonie, der Verkündigung und der geistlichen Gemeinschaft? Meine Antwort lautet: Eine Kirche ist ein Raum, um etwas vor Gott zu tun. Aber sie ist das für alle, die sich diesen Raum nehmen möchten. Das verändert natürlich die Gottesvorstellung, wenn man sich Gott als Raum vorstellt, in dem man sich bewegt, in dem Bewegung stattfindet. Dann ist die Kirche ein Raum dafür, dass ich da sein darf und dass ich die Aussage Gottes erfahren kann: "Ich bin, der ich bin." (Ex 3,14)
Frage: In "normalen" Kirchen geht es eher darum, Gottesdienste miteinander zu feiern oder einen Raum für persönliche Gebete zur Verfügung zu stellen…
Schmid: Beten heißt kommunizieren mit Gott, da sein vor Gott, eine bestimmte Haltung einnehmen. Dafür muss man nicht unbedingt nur Worte verwenden, sondern man kann auch mit den Händen, mit den Augen oder mit dem Körper beten. Die höchste Form des Betens ist das Dasein selbst. In so einer Kirche wie "St. Maria als" kann deshalb auch das Liturgieverständnis ein anderes sein. Romano Guardini hat Liturgie als "heiliges Spiel" definiert. Dieses Spielen bedeutet eben, dass wir nicht nur festgelegte Formen von Liturgie haben, sondern dass auch andere Formen von Liturgie und liturgienahen Feiern möglich sind.
Frage: Gibt es denn auch Dinge, die Sie in "St. Maria als" nicht stattfinden lassen würden?
Schmid: Ja, alles was die Kirche instrumentalisiert oder wenn die Kirche nicht als Kirche, sondern nur als Kulisse oder nette Location wahrgenommen wird. Aber ansonsten gibt es keine ausschließlich richtige Antwort dafür, was man in einer Kirche darf und was nicht. Das sind meistens ästhetische oder kulturelle Urteile und darüber muss man ins Gespräch kommen.
Frage: Ich könnte mir schon vorstellen, dass es die religiösen Gefühle einiger Menschen verletzt, wenn in einer Kirche beispielsweise ein Trampolin steht, auf dem Kinder springen…
Schmid: Das sind natürlich Aushandlungsprozesse. Das Trampolin war ein sehr gelungenes Experiment in Anlehnung an die Bibelstelle vom hüpfenden Kind im Bauch von Elisabeth (Lk 1,44). Es gibt so viele Kirchen, in denen Menschen die gewohnte Form ihrer Gottesbeziehung ausleben und feiern können. Aber für diejenigen, die auf der Suche sind und in diesen gewohnten Formen mit ihrer Spiritualität keine Heimat finden, haben wir nichts. Für sie ist "St. Maria als" da. Es kann nicht sein, dass alle Kirchen gleich sein müssen, wenn es viele Menschen gibt, die sich in den gewohnten Formen nicht wiederfinden. Diese Spannung wird die Kirche aushalten müssen. Wenn wir nicht aushalten, dass es in dieser einen Kirche eine Ästhetik gibt, die mir vielleicht nicht gefällt, dann verengt sich die Kirche und wird innerhalb einer pluralen Gesellschaft nur noch ein sehr schmales Milieu an Menschen bedienen können. Das ist nicht die Aufgabe der Kirche, sondern das macht anderen Menschen ihre Gottesbeziehung unmöglich.
Frage: Wie gehen Sie mit Vorwürfen um, dass das Gotteshaus durch dieses Konzept entweiht würde und Sie ein Sakrileg begehen?
Schmid: Wir nehmen das ernst. Nicht umsonst heißt "St. Maria als" auch "Kirche des Dialogs" und es ist unsere Aufgabe, diesen Dialog zu führen. Aber wir bleiben gleichzeitig beharrlich. Vielleicht ist dieses Konzept nicht für alle etwas, aber für manche. Das reicht uns. Jedes Kirchenkonzept, auch das gewohnte und traditionelle, ist immer nur für manche Menschen gut. Andere vertreibt es. Diese Menschen sind dann nicht böse oder unchristlich. Sie fühlen sich nur nicht daheim. Das ist legitim – in "St. Maria als" wie in jeder anderen Kirche. Aber wir haben auch Begegnungen, da ist Dialog nicht mehr möglich. Dann nehmen wir so gut es geht ernst, was uns an den Kopf geworfen wird. Aber nicht persönlich. Denn es ist ja nicht unsere Kirche allein. Auch nicht die der Kritiker. Unsere Aufgabe ist es nur, Raum und Tür offen zu halten.
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Frage: "St. Maria als" ist ein ziemlich einzigartiges Projekt. Haben sich schon andere Gemeinden bei Ihnen erkundigt, die ein ähnliches Projekt umsetzen wollen?
Schmid: Ja, wir sind immer wieder mit Gemeinden im Austausch. Manche Menschen sagen: "Wir sind auch dabei, unsere Kirche zu profanieren." Darum geht es bei uns aber gar nicht, sondern um das Gegenteil: Die Kirche soll ein heiliger Raum bleiben.
Frage: Kann das denn auch ein Konzept für andere Gemeinden sein, damit Kirchen nicht profaniert werden müssen und so einem neuen Zweck zugeführt werden?
Schmid: Ja! Deshalb reflektieren wir unsere Schritte und Erfahrungen. Wir tauschen uns auch mit den pastoraltheologischen Lehrstühlen in Tübingen oder Innsbruck aus, mit Menschen aus der Sozialarbeit oder der Städteplanung. Wir sehen unsere Aufgabe nicht bloß darin, dieses Konzept für Stuttgart umzusetzen, sondern einen Windschatten zu produzieren, in dem Projekte auch anderswo entstehen und von den Erfahrungen von "St. Maria als" profitieren können.
Frage: Mit "St. Maria als" soll erprobt werden, wie eine Kirche als Gottesdienstraum auch anders verstanden werden kann. Ist diese Probe denn irgendwann beendet?
Schmid: Hoffentlich erlebe ich das nicht (lacht). Ich bin davon überzeugt, dass es eine Grundaufgabe der Kirche als Gemeinschaft ist, zu schauen, in welchen Formen wir uns zusammenfinden, um unseren Glauben, unsere Zweifel und unsere Anfragen zu leben und zu feiern. Der erste Gedanke ist dabei nicht, schon Antworten zu haben, sondern zuerst unsere Fragen zu finden und zusammenzutragen. Dabei stellen wir fest, dass Menschen aus Theologie, Kunst, Theaterpädagogik oder Sozialarbeit ähnliche Fragen stellen. Dafür sollte Raum sein und diesen Raum nennen wir Kirche.