Corona-Hilferuf eines indischen Pfarrers: Wir stehen vor einer Panik
Voller Mitleid und Sorge blickt die Welt in diesen Tagen nach Indien, denn dort ist das Coronavirus derzeit weitgehend außer Kontrolle. Die Infektions- und Todeszahlen explodieren, die Krankenhäuser sind am Limit und die Verzweiflung in der Bevölkerung ist riesengroß. Beobachter sprechen mit Blick auf die aktuelle Pandemie-Lage auf dem Subkontinent von einem Inferno. Im Interview mit katholisch.de schildert der Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Emmaus-Gemeinde in Neu-Delhi, Jiji Vattapparambil, seinen persönlichen Eindruck der aktuellen Situation.
Frage: Pfarrer Vattapparambil, wie erleben Sie die aktuelle Pandemie-Lage in Indien?
Vattapparambil: Die Situation ist sehr kritisch. Die Infektions- und Todeszahlen steigen seit Wochen rasant an, und ein Ende dieser dramatischen Entwicklung ist bislang nicht in Sicht. Laut Prognosen werden wir erst Mitte oder Ende Mai den Höhepunkt der Pandemie erreichen. Das ist besorgniserregend! Allein in Delhi sind heute bis zum frühen Nachmittag schon mehr als 220 Menschen an Corona gestorben: Wenn man diese Zahl auf das ganze Land mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern hochrechnet, muss einem Angst und bange werden – zumal die medizinische Versorgung außerhalb der großen Städte oftmals sehr schlecht ist.
Frage: Wie sieht denn derzeit Ihr persönlicher Alltag aus?
Vattapparambil: In Delhi und vielen anderen Städten haben wir derzeit einen strikten Lockdown mit weitgehenden Ausgangssperren. Man darf praktisch nicht mehr vor die Tür – außer man hat eine behördliche Genehmigung. Dies wird auch damit begründet, dass die Luft durch die hohen Infektionszahlen in vielen Städten voll von Coronaviren sein soll – sich draußen aufzuhalten würde also ein großes gesundheitliches Risiko bedeuten.
Frage: Wie organisieren Sie unter diesen Umständen Ihren Alltag und Ihre Arbeit als Priester?
Vattapparambil: Ich habe meine Wohnung mittlerweile seit drei Wochen nicht mehr verlassen. Lebensmittel und andere Dinge, die ich benötige, bestelle ich online und lasse sie mir liefern; das klappt ganz gut. Die Tätigkeit als Seelsorger lässt sich aber natürlich nicht vollständig in den digitalen Raum verlagern. Natürlich veranstalten wir Online-Gottesdienste und bieten unseren Gemeindemitgliedern bei Bedarf seelsorgliche Gespräche per Telefon an. Mehr ist aufgrund des Lockdowns und der Ausgangssperren aber nicht möglich.
„In Delhi ist die Unsicherheit enorm groß, nach meinem Gefühl stehen wir kurz vor einer Panik.“
Frage: Haben Sie Kenntnisse darüber, wie es in den Krankenhäusern in Delhi derzeit aussieht?
Vattapparambil: Ich war vor drei Wochen zuletzt in einem Krankenhaus, weil ich mich dort eigentlich impfen lassen wollte – was dann allerdings leider nicht geklappt hat. Ich muss sagen, dass mich die Zustände in und vor dem Krankenhaus tief erschüttert haben; mich beschäftigt das, was ich dort gesehen habe, heute noch. Obwohl das Krankenhaus schon völlig überfüllt war, versuchten immer noch unzählige Menschen, von draußen in die Klinik zu gelangen. Da saßen Corona-Infizierte auf der Straße und in Autos und flehten die Ärzte und Pfleger an, sie als Patienten aufzunehmen oder sie zumindest einmal zu untersuchen; einige Infizierte sind auch auf der Straße gestorben. Das waren herzzerreißende Szenen.
Frage: Wie nehmen Sie vor diesem Hintergrund die Stimmung in der indischen Bevölkerung wahr?
Vattapparambil: Ich kann natürlich nur für Delhi sprechen. Hier ist die Unsicherheit enorm groß, nach meinem Gefühl stehen wir kurz vor einer Panik. Niemand weiß derzeit, wie sich die Pandemie weiter entwickeln und was das Virus noch anrichten wird. Vor allem der medizinische Bereich ist jetzt schon am Limit, Sauerstoff und wichtige Medikamente sind Mangelware oder unerschwinglich teuer. Um ein Beispiel zu nennen: Eine 100-Milliliter-Flasche des Medikaments Remdesivir, das ja weltweit zur Behandlung von Covid-19-Fällen eingesetzt wird, kostet in Indien normalerweise 900 Rupien. Inzwischen ist der Preis jedoch mehrfach explodiert – auf 30.000 bis 40.000 Rupien. Nach allem, was ich höre, ist die Stimmung in den Krankenhäusern inzwischen am Nullpunkt; viele Ärzte und Pfleger sind völlig verzweifelt, weil sie ihren Patienten kaum noch helfen können.
Frage: Wie ist die Situation in Ihrer Pfarrgemeinde? Hat es dort schon Corona-Erkrankungen oder gar Todesfälle gegeben?
Vattapparambil: Todesfälle hatten wir – Gott sei Dank! – bislang nicht zu beklagen. Aber einige Corona-Erkrankungen, etwa an der Deutschen Botschaft und der Deutschen Schule hier in Delhi.
Frage: Welche Hilfe wird derzeit am dringendsten benötigt? Und was können vielleicht auch die Katholiken in Deutschland für Sie tun?
Vattapparambil: Am dringendsten benötigen wir medizinische Hilfe, allerdings ist gerade die besonders schwer zu organisieren. Viele Medikamente sind zum Beispiel rezeptpflichtig, die kann man nicht einfach kaufen; auch der Transport und die Lagerung sind eine große Herausforderung. Weil ich Priester des Bistums Münster bin, habe ich mich mit einem Hilferuf an Weihbischof Stefan Zekorn gewandt, der für die Weltkirche zuständig ist. Er hat mir auch bereits Hilfe zugesagt, ebenso wie einige Freundeskreise und Hilfsorganisationen.
Frage: Was denken Sie: Welche langfristigen Folgen wird die Corona-Pandemie für Indien und die indische Gesellschaft haben?
Vattapparambil: Das ist derzeit kaum vorherzusagen, weil wir noch viel zu sehr mit dem Kampf gegen die Pandemie beschäftigt sind. Klar ist aber schon jetzt, dass die Pandemie verheerende wirtschaftliche Auswirkungen haben und die Armut weiter Teile der Bevölkerung weiter verschärfen wird. Entscheidend wird in den kommenden Wochen und Monaten sein, dass genug Impfungen verabreicht werden. Nur wenn irgendwann genug Menschen geimpft sind, werden wir zu so etwas wie Normalität zurückkehren können.
Frage: Haben Sie angesichts der dramatischen Pandemie-Lage schon einmal darüber nachgedacht, Indien zumindest zeitweise zu verlassen und zum Beispiel nach Deutschland zurückzukehren?
Vattapparambil: Nein, denn das empfände ich als extrem unsolidarisch. Viele meiner Gemeindemitglieder aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind auch in Delhi geblieben, etwa weil sie hier beruflich gebunden sind. Als ihr Pfarrer möchte ich Ihnen in dieser schlimmen Lage, so gut es geht, hier vor Ort zur Seite stehen.
Zur Person
Jiji Vattapparambil (*1977) wurde im südindischen Bundesstaat Kerala geboren. Nach dem Schulabschluss studierte er zunächst Philosophie, dann öffentliche Verwaltungslehre, parallel absolvierte er eine Ausbildung zum Informatiklehrer und arbeitete auch in diesem Beruf. Durch einen Kontakt zur Ordensgemeinschaft der Oblaten des Heiligen Franz von Sales kam er 2002 nach Deutschland, wo er in Mühlheim an der Ruhr zunächst in der Schule und im Internat der Gemeinschaft mitarbeitete. 2005 trat er in den Orden ein, 2010 verließ er die Gemeinschaft jedoch wieder. Stattdessen trat er in das Priesterseminar in Münster ein und studierte Theologie. 2014 wurde er von Bischof Felix Genn zum Priester geweiht. Nach Stationen unter anderem in Beckum und Duisburg ist er seit Ende 2019 Pfarrer der deutschsprachigen Gemeinde in Neu Delhi.