Bischof Wüstenberg: Die Retter haben mich sehr beeindruckt
Einer, der seinen Glauben in die Tat umsetzt – so wurde Michael Wüstenberg beschrieben. Der emeritierte Bischof des südafrikanischen Bistums Aliwal nahm an der Überführungsfahrt des neuen Rettungsschiffes "Sea-Eye 4" der Regensburger Organisation "Sea-Eye" von Deutschland nach Spanien teil. Im Interview berichtet er von seinen Erfahrungen an Bord und von den Menschen, die sich für die Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge im Mittelmeer engagieren.
Frage: Ein Sprichwort sagt, "vor Gericht und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand". Natürlich ist der Zusammenhang ein anderer als bei der Fahrt der "Sea-Eye 4", die sie begleitet haben. Aber dennoch die Frage: Haben Sie sich an Bord des Rettungsschiffes in Gottes Hand gefühlt?
Wüstenberg: Ja, natürlich. Ich hatte neben der Arbeit an Bord auch viel Zeit, um einfach aufs Meer hinauszuschauen. Manchmal war es dabei so ruhig, dass ich dachte, hier stimmt etwas nicht. (lacht) Aber es hat auch mal etwas geschaukelt, auch wenn wir nicht in einen richtigen Sturm gekommen sind. Ich habe mich an Bord sehr wohlgefühlt.
Frage: Warum waren Sie bei der Überfahrt des Rettungsschiffes dabei?
Wüstenberg: Ich wollte eigentlich schon letztes Jahr an Ostern auf der "Alan Kurdi" bei einer Rettungsmission mitfahren, was leider nicht geklappt hat. Schuld daran ist die Corona-Pandemie, wegen der die Einsätze gestrichen werden mussten. Das ist sehr traurig, denn die Menschen fliehen ja weiterhin. Damals hat mich auch die Stille in der öffentlichen Berichterstattung zu diesem Thema sehr beunruhigt.
Frage: Sie haben also schon länger Kontakt zu der Organisation "Sea-Eye"?
Wüstenberg: Mit der Problematik der Flüchtlingskrise befasse ich mich schon seit vielen Jahren. Als ich noch Bischof in Südafrika war, gab es die ersten Berichte von Migranten, die im Mittelmeer ertrunken sind. Mich hat es daher sehr gefreut, dass Papst Franziskus die erste Reise nach seiner Wahl nach Lampedusa gemacht hat, also auf die italienische Insel, auf der viele Geflüchtete in Europa ankommen. Damit hat er ein deutliches Zeichen gesetzt. Als ich vor drei Jahren nach Europa zurückkam, war das Thema wieder in den Medien. "Sea-Eye" habe ich kennengelernt, weil ich Kontakte ins Bistum Regensburg habe, wo die Organisation ihren Sitz hat. Dabei kam die Idee auf, dass ich einmal auf einem Rettungsschiff mitfahren könnte. Vor der Überführungsfahrt der "Sea-Eye 4" war ich anderthalb Wochen bei den Arbeiten in Rostock dabei. Ich habe keine Ausbildung in einem handwerklichen oder technischen Beruf, aber bei kleineren Arbeiten konnte ich helfen. Viele der meist jungen Leute, die dabei waren, hatten mit Kirche wenig am Hut, aber sie haben mich sehr beeindruckt, weil sie mit so großer Kraft und starkem Willen an der Fertigstellung des Schiffs gearbeitet haben.
Frage: Wie wurden Sie in dieser Umgebung wahrgenommen, in der man als Bischof doch ein wenig ein Exot ist?
Wüstenberg: Sie haben mich so angenommen, wie ich bin. Für viele war es zunächst etwas merkwürdig, dass ein Kirchenmann und dann auch noch Bischof dabei ist. Die meisten wussten sicher nicht, was ein Bischof ist, andere kannten dieses Amt zumeist aufgrund der negativen Schlagzeilen, die damit angesichts der aktuellen Krisen in der Kirche oft verbunden sind. Einige haben mich gefragt, ob sie mich, so wie alle anderen auch, duzen könnten. Da habe ich natürlich zugestimmt. (lacht) Es war insgesamt ein sehr schönes Miteinander.
Frage: Gab es auch Anknüpfungspunkte?
Wüstenberg: Ich bin als Emeritus einer afrikanischen Diözese ja nun kein "typischer" Bischof und habe den Vorteil, dass ich die Kür absolvieren kann und mich nicht der Pflicht widmen muss. Für mich ist vieles, was die Helfer dort zur Rettung von Menschenleben leisten, auch etwas sehr Wichtiges für die Kirche. Der Theologe Karl Rahner hat den Begriff des "anonymen Christen" geprägt – auch wenn das vielleicht etwas vereinnahmend ist. Aber mein Eindruck war, dass die Helfer von "Sea-Eye" ein Stück weit "anonyme Kirche" sind, auch wenn sie selbst das so nie ausdrücken würden. Mit ihrem Einsatz für die Flüchtenden leben diese Menschen das, was die Prinzipien der katholischen Soziallehre aussagen. Aus Südafrika kenne ich die Bezeichnung "lapsed Catholics" für Gläubige, die nicht zum Gottesdienst gehen. Es ärgert mich etwas, dass sich für viele nur an der Teilnahme der Liturgie festzumachen scheint, wer ein "wahrer" Katholik ist. Es gibt doch mehrere Grundvollzüge der Kirche als nur den Gottesdienst. Sind nicht eine große Anzahl der Gläubigen "lapsed Catholics", weil sie die Diakonie nicht im Blick haben und sich zu wenig für die zu kurz Gekommenen engagieren? Da können uns auch die Helfer von "Sea-Eye" mit ihrem Einsatz ein gutes Vorbild geben. Solidarität ist ihnen sehr wichtig, genauso wie in der Soziallehre. Diese Menschen leben Solidarität und verkörpern das Bewusstsein, dass die Güter der Welt für alle bestimmt sind. Mit unserer Lebensweise leben wir oft auf Kosten anderer, das ist ein Grund für die Armut in der Welt.
Frage: War die Überfahrt mit dem Rettungsschiff auch eine spirituelle Erfahrung für Sie?
Wüstenberg: Ich bin morgens früh oft auf die Brücke gegangen und habe lange auf das Meer geschaut. Das war wie eine Meditation. Dabei habe ich viel nachgedacht: Etwa darüber, dass wir in der Kirche viel von Pastoral und dem Bild des Hirten sprechen. Dabei wäre auch die Seefahrt ein gutes Feld für geistliche Bilder – wenigstens als Ergänzung. Denn der gute Hirte verführt als Einzelkämpfer zu einer Hierarchie: Der Hirte oben, die Schafe unten. Auch auf einem Schiff gibt es strikte Hierarchien, aber der Kapitän und alle anderen sind aufeinander angewiesen. Ohne die Maschinisten, Nautiker und Elektriker kann der Chef an Bord nichts machen. Und auch das Wasser: Ich habe mich an die erste Schöpfungserzählung erinnert gefühlt, in der erzählt wird, dass Gottes Geist im Chaos gegenwärtig ist und über dem Wasser schwebt. Das konnte ich auf der Fahrt fühlen. Einerseits durch die Erfahrung der Natur, des Meeres, das manchmal wild und dann wieder ganz ruhig war. Aber auch durch die Menschen an Bord, die diesen Geist Gottes, wenn auch wohl unbewusst, aufgenommen haben. Die Vision, die ertrinkenden Menschen zu retten, diese Sehnsucht danach, der Einsatz für dieses Ziel, das hat mich sehr beeindruckt und bewegt.
Frage: Während Sie unterwegs waren, gab es eine kleine Auseinandersetzung um eine Antifa-Flagge auf einem "Sea-Watch"-Rettungsschiff. Der EKD-Vorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat sich gegen dieses Zeichen aus der linken Szene ausgesprochen. Gab es ähnliche Diskussionen auch bei Ihnen an Bord?
Wüstenberg: Die Auseinandersetzung um die Flagge auf der "Sea-Watch" habe ich während der Überfahrt kaum mitbekommen. Aber bei uns an Bord konnte ich durch die Helfer ein Stück weit die linke Szene kennenlernen, denn einige von ihnen haben diesen Hintergrund. Auch die sind mir sehr sympathisch geworden. Diese Leute sind nicht darauf aus, Besitz anzuhäufen und sehen darin nicht den Sinn ihres Lebens. Sie wollen lieber das Leben ausleben und dabei etwas tun, das ihnen wirklich sinnvoll erscheint. Deshalb haben sie ihren Sinn darin gefunden, sich für Menschen einzusetzen, die unter unserem Lebensstil im Westen leiden.
Frage: Passen Kirche und linke moderne, junge Menschen denn zusammen?
Wüstenberg: Ich habe mich unter ihnen wohlgefühlt und ich glaube, sie auch mit mir. Ich konnte zwar nicht mit allen tiefgehende Gespräche führen, aber ich habe kaum Kritik an mir gehört. Kirchen sind für manche überhaupt kein Thema, andere schätzen sie sehr als Partnerinnen, was man schon in ökumenischer Sicht an ihrer Beteiligung bei "United4Rescue" sehen kann. Es waren auch Personen mit alternativem Lebensstil dabei, die eine ganz simple und einfache Lebensweise leben, in Bauwagen leben, was ich etwa auch bei den Kleinen Schwestern Jesu in Berlin kennengelernt habe – wenn auch natürlich etwas anders. Dass es unangenehme Menschen gibt, hat man bei allen politischen oder gesellschaftlichen Richtungen. Das habe ich gemerkt, als einige meiner Tweets von spanischen Rechten mit Nähe zum Faschismus retweeted und herablassend kommentiert wurden. Damit muss man aber natürlich rechnen. Vor den Menschen, die ich auf dem Schiff erlebt habe, kann ich hingegen nur den Hut ziehen. Das gilt auch für ihre kritische Sicht: Eine junge Katholikin, die viele Jahre Erfahrung in der Arbeit mit Migranten hat, erzählte mir, dass sie etlichen begegnet ist, die wegen Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung fliehen. Dabei bekam sie mit, dass auch die Kirche dies wenigstens mitbegünstigt. Die Kirche muss hier wahrnehmen, dass sie auch Vorurteile und somit Migrationsursachen verstärken kann.
Frage: Wie waren denn ansonsten die Rückmeldungen zu Ihrem Engagement für "Sea-Eye"?
Wüstenberg: Durchweg positiv. Auch von einigen Bischöfen habe ich sehr wohlwollende Rückmeldungen erhalten. Einige haben die Organisation noch zusätzlichen finanziell unterstützt, andere haben auf schon bestehende Hilfe in lokalen Migrationsprojekten verwiesen. Negative Rückmeldungen gab es nur bei Twitter, etwa, man sollte die Geflüchteten alle im Vatikan bei "Bergoglio" abladen. Ich rege mich darüber auf, wenn Menschen sich selbst als gute Katholiken bezeichnen und dann wissen möchten, ob ihre Beiträge etwa verwendet werden, um Flüchtlinge zu retten. Wer grundlegende, nicht verhandelbare Anliegen des katholischen Glaubens verletzt wie das Recht jedes Menschen auf Leben, der sollte wohl ehrlicherweise lieber überlegen, auszutreten.
Frage: In den sozialen Medien werden sehr schnell Beleidigungen ausgesprochen…
Wüstenberg: Was mich bei den Helfern an Bord beeindruckt hat, ist die Sensibilität für Sprache: Die Migranten heißen Gäste. Darin zeigt sich ein großer Respekt – ganz anders als bei den rechten Kritikern. Überhaupt habe ich viel Behutsamkeit bei den Helfern gespürt. Ihnen ist klar, dass die Leute aus vielen verschiedenen Ursachen flüchten, aber eben nicht, weil es eine Rettungsorganisation gibt, die sie aus dem Wasser fischt. Da bekommt die Bedeutung des biblischen Wortes vom "Menschenfischer" übrigens einen ganz neuen Sinn für mich. Viele der Migranten wissen gar nicht, wie groß der Leidensweg ist, den sie auf der Flucht nach Europa durchmachen müssen. Sie werden nicht von Rettungsschiffen, sondern von unserem konsumorientierten Lebensstil im Westen beziehungsweise Norden der Welt zu ihrer Reise motiviert. Den müssten wir durch Einsatz für umfassende Gerechtigkeit ändern, damit sie nicht mehr zu uns kommen müssen. Behutsamkeit zeigt sich aber auch darin, dass den geflohenen Frauen eine weibliche Person bei der Rettung gegenübersteht und versucht, sie in ihrer Panik zu beruhigen. Denn gerade in Libyen haben die Migrantinnen viele Gewalterfahrungen mit Männern gemacht. Ich habe mich lange gefragt, wie es sein kann, dass Frauen auf den Rettungsschiffen Kinder gebären, bis mir klargeworden ist, dass diese auch die Ergebnisse von Vergewaltigungen während der Flucht sind. Unter anderem deshalb gibt es jetzt auf der "Sea-Eye 4" eine kleine Klinik. Vor diesen Lebensschicksalen kann man eigentlich nur achtsam schweigen und den Betroffenen zur Seite stehen!