Nach dem ÖKT: Ökumenische Fortschritte und Leerstellen beim Missbrauch
Der erste digitale Kirchentag ist Geschichte. Und auch wenn ständig betont wurde, wie traurig es sei, dass man in Frankfurt nicht in Präsenz zusammenkommen konnte, anstatt sich zu freuen, dass in einer Pandemie trotzdem noch etwas möglich ist: Das Konzept "digital und dezentral" ist in weiten Teilen aufgegangen. Misst man die gesellschaftliche Wirkung am Medienecho, kann man sich zufrieden zeigen: Selbstverständlich hat die Tagesschau am Samstagabend in einem langen Beitrag den Kirchentag aufgegriffen, noch vor dem FDP-Parteitag.
Dazu trug auch bei, dass an den großen Zugpferden festgehalten wurde: Der Bundespräsident, die Kanzlerin – sie gehören selbstverständlich zu den großen Christentreffen. Anders als in den vergangenen Jahren fiel die Beteiligung des Publikums aber deutlich geringer aus. Vieles war vorproduziert, Diskussionen und Schlagabtausche auf den Bühnen fielen aus – die Millisekunden Verzögerung der Videokonferenz nehmen selbst bei Liveveranstaltungen die Dynamik. Dabei gab es durchaus gute Beispiele für Beteiligung: Die sehr zahm geführten Interviews mit den Mitgliedern des Präsidiums des Ökumenischen Kirchentags (ÖKT) wie Bischof Georg Bätzing und ZdK-Präsident Thomas Sternberg haben durch pointierte Fragen zum Synodalen Weg und der Reformfähigkeit der Kirche gewonnen, die von Anwältinnen des Publikums über ein Online-Tool gesammelt und eingebracht wurden.
Kirchentage sind auch immer Veranstaltungen für große Plädoyers und Absichtserklärungen: für Gerechtigkeit, für Solidarität. Das durfte auch in Frankfurt nicht fehlen. Auch nicht die schönen Zeichen: Beim Abschlussgottesdienst predigten nicht die Bischöfe, sondern ganz selbstverständlich zwei Frauen. Aber während die Worte für den Einsatz für Arme und Benachteiligte auf der ganzen Welt aufgrund des Engagement der Kirchen und ihrer Verbände und Hilfswerke auch durch Taten gestützt sind, wirkte der Umgang mit dem in den letzten Jahren und Monaten alles beherrschenden Thema des Missbrauchs in der Kirche oberflächlich und als bloßer Nachgedanke.
Dahin gehen, wo es wehtut
"Wir wollen hinschauen: dahin, wo es weh tut, dahin, wo wir heilen können und dahin, wo wir handeln können", hatte die evangelische ÖKT-Präsidentin Bettina Limperg zu Beginn der Tage angekündigt, und eigentlich hätte man annehmen sollen, dass dazu auch gehört, dass man Betroffenen sexualisierter Gewalt in der Kirche ernsthaft zuhört. Stattdessen tauchten diese nur in einer Stunde über Macht in der Kirche auf, nicht in einem eigenen Podium.
Auf der virtuellen Hauptbühne wurde den Samstag über durchmoderiert, es gab thematische Stunden zu Schöpfung, zum interreligiösen Dialog – und eben zu Macht: Eine bunte, aber unverbundene Mischung aus theologischen Impulsen, Clips zu Kirchenfinanzen und zwei Vertreterinnen von Betroffenen: Vier Minuten für Johanna Beck aus dem Betroffenenbeirat der DBK, und drei Minuten für Katharina Kracht aus dem EKD-Betroffenenrat – drei Minuten, die aufgrund technischer Pannen und schlechter Absprachen exemplarisch wurden. Ein ihr zugesagter Platz für ein Statement wurde zunächst vergessen. Etwas später konnte sie ihre scharfe Kritik am Vorgehen der EKD bei der Aussetzung des Betroffenenbeirats doch noch vorbringen – doch der Beitrag verhallte ohne Gegenüber. Neben betroffenen Moderatoren reagierte nur ein Tanzpädagoge mit einem Ausdruckstanz auf die beiden Betroffenenvertreterinnen, der für die kulturelle Auflockerung der einen Stunde über Macht gebucht war.
Für Bischöfe dagegen war mehr Zeit: Der katholische Missbrauchsbeauftragte, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, und sein evangelischer Kollege, der Braunschweiger Landesbischof Christoph Meyns durften eine Stunde über Macht reden. Eine Stunde, die zunächst geprägt war von lockerem Vorgeplänkel etwa darüber, wann sich Bischöfe als mächtig erleben. Meyns durfte seine Sicht, wie es zur Auflösung des Betroffenenbeirats der EKD gekommen war, ohne Gegenrede vortragen – Betroffene kamen bei dem Panel nicht vor, und Ackermann verstrickte sich in der zu seinem Glück durch die Moderation ständig unterbrochenen Ausführung dazu, ob "Aktivisten" in kirchlichen Betroffenenbeiräten an der richtigen Stelle seien.
Die Kirchentagsbewegungen, sowohl der Katholikentag wie der evangelische Kirchentag, verstehen sich als Laienbewegungen. Selbstbewusst stellen die Laien, nicht die Bischöfe, nicht die Landeskirchen, die größten und öffentlichkeitswirksamen Christentreffen auf die Beine – doch beim Umgang mit Missbrauch zeigt sich, dass auch die Laien, die ansonsten ein sorgsam geeichtes Sensorium für Ungerechtigkeit in der Welt haben, oft noch hilflos und unsensibel sind. Wie es nach der massiven Kritik an Äußerungen von ZdK-Präsident Sternberg über die Forderungen von Betroffenen nach externer Aufarbeitung und zu engen Schulterschlüssen mit den Bischöfen erneut zu einem derartigen Versäumnis kommen konnte, ist kaum zu erklären.
Keine Skandale trotz eucharistischer Gastfreundschaft
Ein anderer Konflikt blieb weitgehend aus: Die Frage nach der wechselseitigen Einladung zu Eucharistie und Abendmahl hatte durch das digitale Format an Sprengkraft verloren, nachdem zuvor – zuletzt angefacht durch das Votum "Gemeinsam am Tisch des Herrn" des ökumenischen Theologenarbeitskreises – die Spannungen zwischen römischer Disziplin und deutschen Ökumenehoffnungen offener ausgetragen wurden. Anders als beim ersten Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin, wo nach Eucharistiefeiern mit Einladungen für Nicht-Protestanten der Trierer Professor Gotthold Hasenhüttl und der Eichstätter Pfarrer Bernhard Kroll von ihren Bischöfen suspendiert wurden (Hasenhüttl ist mittlerweile aus der Kirche ausgetreten, Kroll ist wieder als Pfarrer im Bistum Eichstätt tätig), kam es beim Frankfurter ÖKT nicht zu Eklats.
Bei den ökumenisch offenen konfessionellen Feiern am Samstagabend kommunizierten die Präsidenten Sternberg und Limperg zwar in Gottesdiensten der jeweils anderen Konfession, Sternberg mit Ansage und Verweis auf den Papst ("Ich fühle mich bestärkt durch Papst Franziskus, der gesagt hat: Befragen Sie Ihr Gewissen – und gehen Sie.") – doch 18 Jahre nach dem ersten Ökumenischen Kirchentag (und, ehrlicherweise: bei Laien außerhalb der klerikalen Hierarchie) scheint das nicht mehr zum Skandal zu taugen und bildet ohnehin die Realität in vielen Gemeinden ab. Die Gastfreundschaft ist da, auch wenn sie eigentlich noch nicht möglich ist.
Die ökumenisch sensiblen Mahlfeiern dürften den wohl greifbarsten Fortschritt in der Ökumene darstellen. Nach dem theologischen Votum "Gemeinsam am Tisch des Herrn" präsentierte der ÖKT im Vorfeld eine knappe Handreichung mit "Anregungen für die Gestaltung von Abendmahl und Eucharistiefeiern", die die theoretischen Impulse des Votums in die Praxis des schon möglichen übersetzten: Darin wird beispielsweise ein sorgsamer Umgang mit den übrig gebliebenen Mahlgaben "beispielsweise durch einen Verzehr nach der Feier im kleinen Kreis" als Gebot der ökumenischen Achtsamkeit benannt.
Dezentral und überraschend, so gut es ging
Das eigentliche ÖKT-Programm fand auf einem Blatt Papier Platz – doch zum Kirchentag gehörten viele weitere Veranstaltungen, die dezentral angeboten wurden. Über 100 Orte zeigt die Karte auf der ÖKT-Webseite, in vielen Gemeinden gab es Gottesdienste aus Anlass des Christentreffens, neben den offiziellen Streams gab es eine unüberschaubare Zahl von Angeboten von Verbänden und Initiativen. Während das Programm auf der Hauptbühne sehr routiniert und weitgehend überraschungsfrei durchmoderiert wurde, zeigte sich im Nebenprogramm vieles von dem, was sonst Kirchentage ausmacht: Einen Tag lang haben beispielsweise das evangelische Content-Netzwerk "yeet" und das ökumenische Netzwerk "ruach.jetzt" unter dem Titel "fuereinander.stream" verschiedene christliche YouTuber und Podcaster zusammengebracht und so Einblicke in eine lebendige junge christliche Netzszene ermöglicht, die selten im Blick der etablierten Kirchentagsbeteiligten und -besucher ist. Kirchentage leben davon, im Schlendern durch Kirchenmeile und Veranstaltungszentren solche überraschenden Einblicke zu gewinnen – das ist den Streamern gelungen.
Ohne das Schlendern fehlte aber viel von dem Zufälligen, das sonst das Kirchentagsgefühl komplett macht: Am Stand eines Ordens Einblicke in die Weltkirche zu bekommen, die ehemalige Mitsängerin aus dem NGL-Chor aus der Jugend nach Jahrzehnten wieder zu treffen, die Gespräche in der Warteschlange überfüllter Podien – und für die Funktionäre aus Verbänden und Werken die Empfänge der Parteien und politischen Stiftungen, auf denen früher manche Entscheidung in ZdK und Synoden vorbesprochen wurde. Diesen Mangel an Orten für zufällige Begegnungen konnten auch clevere technische Möglichkeiten wie digitale Mittagspausen und die Option, sich zufällig mit anderen Teilnehmern verbinden zu lassen, nicht kompensieren.
Alles in allem haben die Organisatoren das beste aus einer widrigen Situation gemacht, auch die Technik spielte trotz kleineren Problemen größtenteils mit. Doch eine Leerstelle bleibt: das ernsthafte Hören auf Betroffene sexualisierter Gewalt, und nicht nur auf die Befindlichkeiten der mit der Missbrauchsbewältigung befassten Bischöfe. Beim Katholikentag in Stuttgart wird sich daher zeigen, ob die zusätzlichen Beteiligungsmöglichkeiten für Daheimgebliebene über Streams auch bei einer Präsenzveranstaltung weiterhin mitgedacht werden – und ob die Laien endlich einen angemessenen Umgang mit ihrer eigenen Rolle in der Bewältigung der Missbrauchskrise an der Seite der Betroffenen finden.