Politiker und Theologen kritisieren antisemitische Stereotype

Baerbock als Moses: Kampagne weiter in der Kritik

Veröffentlicht am 14.06.2021 um 12:46 Uhr – Lesedauer: 

Berlin/Düsseldorf ‐ Die Kampagne der Lobby-Organisation INSM gegen Annalena Baerbock sorgt weiter für Diskussionen. Kritiker erkennen in der Anzeige, die die Grünen-Kanzlerkandidatin als Moses zeigt, antisemitische Klischees.

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Die Kritik an der Kampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gegen die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock reißt nicht ab. Am Wochenende verurteilten der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn und der Arbeitskreis Christinnen und Christen in der SPD die Anzeige, die Baerbock als Moses mit zwei Gebots-Tafeln darstellt. Sie warfen den Machern vor, antisemitische Stereotype zu bedienen. Der Vorsitzende des Vereins "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", Matthias Schreiber, forderte den Stopp der Kampagne.

"Wahlkampf ist Wahlkampf, keine Frage - aber auch und besonders in Zeiten, in denen politisch hart gestritten wird, sind Assoziationsketten, die antisemitische Anspielungen in Kauf nehmen, fatal", sagte Salzborn am Samstag in Berlin: "Die Moses-Analogie, die Referenz auf die strenge Gesetzesreligion, der Terminus 'Staatsreligion' - all das weckt antijüdische Stereotype in der Metaphorik, die in der politischen Debatte - bei jeder inhaltliche Differenz - fatal sind."

Überschrieben ist die Anzeige, die am Freitag in mehreren Tageszeitungen erschien, mit dem Slogan "Wir brauchen keine Staatsreligion". Die Lobbyorganisation INSM wird nach eigenen Angaben von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie finanziert. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat sich inzwischen von der Kampagne distanziert.

Antisemitismus von der Wurzel her bekämpfen

Schreiber forderte den Stopp der Kampagne, die noch auf der Webseite der INSM steht. Weder der Initiative, noch einzelnen Beteiligten unterstelle er eine antisemitische Motivation, sagte der evangelische Pfarrer, der als Religionsreferent beim NRW-Landtag arbeitet, dem epd. "Aber, indem sie hier die Ressentiments bedienen, erweisen sie sich - ungewollt und in naivster Manier - als die Wasserträger des Antisemitismus." An diesem Beispiel werde einmal mehr deutlich, wie groß die Aufgabe sei, Antisemitismus von der Wurzel her zu bekämpfen, erklärte der Theologe. Er sei gespannt, ob die Initiative sich jetzt konstruktiv an dieser wichtigen Aufgabe beteilige.

Der Arbeitskreis Christinnen und Christen in der SPD kritisierte, mit der Kampagne werde nicht nur Religion zu Wahlkampfzwecken missbraucht. Es komme darin auch eine antisemitische Haltung zum Ausdruck, die das jahrhundertealte Vorurteil pflege, das Judentum sei eine gesetzliche Verbotsreligion. "Indem die INSM antisemitische Stereotype nutzt und diese religionsfeindliche Anzeige in großen Tageszeitungen geschaltet hat, hat sie eine bisher gültige Grenze des politisch-moralischen Anstands überschritten", heißt es in einer von Wolfgang Thierse und Kerstin Griese als Sprechern des Arbeitskreises verbreiteten Resolution, die das Gremium am Samstag bei seiner Klausurtagung verabschiedete.

Der evangelische Theologe Traugott Jähnichen sieht die Kampagne als Zeichen dafür, dass zum Thema Antisemitismus weiterhin viel Bildungsarbeit nötig ist. Dass alle beteiligten Verantwortungsträger nicht gemerkt hätten, wie die Kampagne sich alter antijüdischer Stereotype bediene, sei erschreckend, sagte der Professor für Christliche Gesellschaftslehre von der Ruhr-Universität Bochum dem epd. "An einem solchen Beispiel wird offenbar, wieviel falsch gelaufen sein muss in der Bildung, auch in der Gewissensbildung und Ethik, in der Ausprägung einer politischen Haltung, die der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2021 entspricht."

BKU: Kampagne bei zwei Punkten problematisch

Auch der Bund Katholischer Unternehmer (BKU) kritisiert die INSM-Anzeige. Die Kampagne sei an zwei Punkten problematisch, sagte BKU-Vorsitzender Ulrich Hemel dem Kölner Online-Portal domradio.de am Montag. "Das eine ist die Verwendung religiöser Symbole im politischen Wahlkampf zur Bundestagswahl und das andere ist die Frage der sozialen Marktwirtschaft." Er vermisse an der Kampagne ein umfassendes Verständnis von sozialer Marktwirtschaft. Diese sei "ein gesellschaftliches Friedensprojekt, dass Arbeitnehmer, Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen genauso zugutekommt", so Hemel. "Denn soziale Marktwirtschaft heißt ja: Wir suchen die beste Lösung im Wettbewerb. Aber wir haben eben auch soziale Mindeststandards."

Der evangelische rheinische Präses Thorsten Latzel bemängelt die Anzeigenkampagne ebenso. "Das geht überhaupt nicht: Zerrbilder von Religion zu verwenden, um damit einzelne Personen zu diskreditieren", erklärte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) in Düsseldorf. "Von der Freiheit, um die es in den zehn Geboten geht, haben die Verantwortlichen offensichtlich nichts verstanden - oder wollen es nicht verstehen", sagte Latzel. Die Gebote seien Ausdruck der Befreiung des Volkes Israel durch Gott. Ihr Sinn bestehe darin, dass die Gemeinschaft ein Leben in Freiheit führen könne. "Nach der Bibel gehört zu meiner Freiheit immer auch die Freiheit des anderen dazu", so Latzel. "Die eine ist ohne die andere nicht zu haben."

"Geht es eigentlich noch populistischer?"

Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, zeigte sich am Dienstag "entsetzt" über die Kampagne, die "kurzsichtig, einfallslos und regelrecht peinlich" sei. Die Inserate zögen "den biblischen Auftrag zur Bewahrung der Schöpfung ins Lächerliche", kritisierte Neher. "Für Klimaschutz einzutreten, ist und muss unser Geschäft als Caritas sein", unterstrich der Prälat. "Denn die Klimakrise trifft in erster Linie die, deren Stimme wir nicht hören." Auch stelle die Kampagne "Verbote" und "Verzicht" als größtes Übel überhaupt dar. "Geht es eigentlich noch populistischer?", so Neher. Bilder etwa aus dem Dürre-geplagten Westen der USA führten die Folge der Übernutzung von Ressourcen vor Augen. "Da wird notgedrungen gerade auch auf vieles verzichtet - die Wasserreservoirs sind beinahe leer", gab Neher zu bedenken.

Die INSM selbst wies den Vorwurf des Antisemitismus zurück und versprach zugleich für die Zukunft mehr Sensibilität. "Sollten wir mit der Anzeige persönliche oder religiöse Gefühle verletzt haben, so bedauern wir dies und versichern, dass dies in keiner Weise beabsichtigt war", erklärte die Initiative am Dienstag in Berlin. Sie trete ein für eine offene demokratische Gesellschaft, in der kein Platz für Antisemitismus sei. "Wir werden aber noch deutlicher als bisher darauf achten, dass kein Zweifel an unserer Abscheu gegenüber jeder Form des Antisemitismus oder Antijudaismus aufkommen kann", hieß es in der Mitteilung.

Moses ist eine der wichtigsten Figuren der jüdischen Religion. Die fünf Bücher Mose erzählen die Geschichte des jüdischen Volkes und bilden die Tora. Sie sind der zentrale Bestandteil der jüdischen Bibel. Die Zehn Gebote sind das erste umfassend formulierte Sittengesetz in der Geschichte der Menschheit, das sich auf eine als ewig gesetzte Norm gründet. Nach biblischer Überlieferung nimmt Mose sie am Berg Sinai direkt von Gott entgegen. (mpl/epd/KNA)

14.6., 17:30: Ergänzt um BKU. 18:45: Ergänzt um Latzel. 15.6., 11:10: Ergänzt um Neher. 15:55: Ergänzt um Stellungnahme INSM.