Kritischer Theologe, visionärer Philologe, geschickter Schriftsteller

Erasmus von Rotterdam: Der Fürst der Humanisten zwischen allen Stühlen

Veröffentlicht am 12.07.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Was haben eine Brücke in Rotterdam, ein Austauschprogramm der EU und eine AfD-nahe politische Stiftung gemeinsam? Sie alle sind nach Erasmus von Rotterdam benannt. Kann das zusammenpassen? An seinem 485. Todestag schaut katholisch.de genauer hin.

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"Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig", giftet Martin Luther. Der Reformator fühlt sich verraten und kocht vor Wut – aus einer intellektuellen Brieffreundschaft ist persönliche Verachtung geworden. Der berühmte Gelehrte sei ein "fleischgewordener Teufel", schimpft Luther. Ausgerechnet das gegenreformatorische Konzil von Trient (1545-1563) sieht das ähnlich und setzt Erasmus' Werke auf den Index. Mit seinen zugleich idealistischen und gemäßigten Positionen können beide wenig anfangen.

Alles beginnt Ende der 1460er Jahre in Rotterdam: Hier wird Gerrit Gerritszoon, so sein niederländischer Name, als unehelicher Sohn des katholischen Priesters Rotger Gerard und dessen Haushälterin Margaretha Rutgers geboren. Über seine frühe Kindheit ist kaum etwas bekannt. Fest steht, dass er von 1473-1478 Schüler seines Onkels, des Schulmeisters Pieter Winckel, ist und zusätzlich Musikunterricht erhält. Anschließend besucht er zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder Pieter die zum Stift St. Lebuinus gehörende Lateinschule. Dort lernt der junge Erasmus den frühhumanistischen Gelehrten Rudolf Agricola kennen – und ist begeistert. Sein Leben lang wird er ihn als Vorbild rühmen, das ihn zur Literatur der klassischen Antike inspiriert habe.

Das Fresko "die Schule von Athen" von Raffael zeigt die Philosophen der griechischen Antike.
Bild: ©picture-alliance / akg-images

Der frühhumanistische Gelehrte Rudolf Agricola begeistert den jungen Erasmus für die klassische Antike.

Der wissbegierige Erasmus träumt von einem Studium an der Universität in Hertogenbosch, doch beide Elternteile fallen kurz nacheinander einer Epidemie zum Opfer. Sein Onkel Pieter Winckel übernimmt die Vormundschaft und entscheidet kurzerhand: Erasmus soll Ordensmann werden. Daraufhin verlässt Erasmus die Lateinschule zwar ohne Abschluss, aber mit exzellenten Sprachkenntnissen, um 1487 Regularkanoniker im Kloster der Augustinerchorherren bei Gouda zu werden. Fünf Jahre später empfängt er die Priesterweihe. Mit dem Ordensleben aber kann Erasmus nicht viel anfangen. Bereits 1493 zieht er als Sekretär des Bischofs von Cambrai fort – und wird das Kloster nie wieder betreten.

Sein neuer Dienstherr ermöglicht Erasmus ab 1495 ein Theologiestudium in Paris. Hier fällt Erasmus aufgrund seiner intellektuellen Begabung und seines scharfen Humors auf, eckt aber immer wieder mit der dort herrschenden strengen Dogmatik an. Die etablierte Scholastik ist ihm zuwider und der selbstbewusste Student treibt seine Professoren nur zu gern argumentativ in die Enge. Währenddessen knüpft Erasmus erste Kontakte zu französischen Humanisten: Der Mensch als Maß aller Dinge, Wertschätzung des Diesseits und Erneuerung der Gegenwart durch eine Wiederentdeckung der Antike, für diese Ideen brennt Erasmus.

Aus dem Studenten in Finanznot wird ein Gelehrter am Königshof

Sein eigentliches Studium aber läuft stockend, denn zeitweise muss Erasmus krankheitsbedingt pausieren. Vor allem aber plagen ihn aufgrund der mangelnden Unterstützung des Bischofs von Cambrai Geldsorgen. Um sich das Studium selbst zu finanzieren, arbeitet er schließlich nebenbei als Privatlehrer und wird im November 1498 Erzieher eines jungen Lords. Bald folgt Erasmus seinem Schüler nach England, wo er Thomas Morus kennenlernt. Mit ihm verbindet Erasmus schnell eine enge Freundschaft. Über den englischen Theologen lernt Erasmus auch den späteren König Heinrich VIII. kennen, mit dem er in regelmäßigem Briefkontakt bleiben wird. Aus dem einfachen Theologiestudenten entwickelt sich am englischen Hof ein weltgewandter Gelehrter.

Im Jahr 1500 veröffentlicht Erasmus seine erste Fassung der "Adagia". Seine kommentierte Sammlung antiker Sprüche und Weisheiten, die er laufend ergänzt, wird zum Bestseller. Nur drei Jahre später legt er mit dem "Handbuch des christlichen Streiters" nach. Darin kritisiert er starre Zeremonien, Riten und Vorschriften. Stattdessen rät Erasmus zu einer verinnerlichten Religiosität. Auch dieses Werk wird zum Bestseller unter gebildeten Klerikern und Laien. Erasmus steigt als "Fürst der Humanisten" zum intellektuellen Star seiner Zeit auf.

Bild: © gemeinfrei

Mit dem späteren König Heinrich VIII. steht Erasmus in Briefkontakt

Es folgen wechselnde Aufenthalte in den Niederlanden, Frankreich und England. Einen Ruf an die Universität Leuven lehnt Erasmus ab, er will sich lieber ganz der Übersetzung altgriechischer Schriften widmen und geht von 1506 bis 1509 für Textstudien nach Italien. Die Promotion zum Doktor der Theologie in Turin ist für den berühmten Gelehrten nur noch reine Formsache. Immer wieder wird Erasmus nun von verschiedenen Seiten das Bürgerrecht angeboten, doch der Kosmopolit fühlt sich überall und nirgendwo zuhause: "Ich wünsche, Weltbürger zu sein, allen zu gehören, oder besser noch Nichtbürger bei allen zu sein." In dieser Zeit ändert er seinen Namen zu "Desiderius Erasmus", weil er irrtümlich davon ausgeht, dass sich sein niederländischer Name "Gerrit" von dem Verb "begehren" ableite.

Auf dem Rückweg aus Italien, wo er die ganze Prunksucht und weltliche Machtgier des Kirchenstaats erlebte, verfasst Erasmus 1509 sein heute bekanntestes Werk "Das Lob der Torheit". Die spöttische Sozial- und Religionskritik ist Thomas Morus gewidmet und rechnet gnadenlos mit allen Autoritäten ihrer Zeit ab: Weder weltliche Adlige noch mächtige Kirchenfürsten sind vor ihr sicher; selbst theologische Koryphäen wie Thomas von Aquin werden vom Sockel geworfen. Deren Torheit sei noch größer als die allgemeine Torheit des Volkes, weil sie sich in ihrem eingebildeten Wissen für besonders weise hielten. Um mit solch scharfer Kritik ungeschoren davon zu kommen, bedient sich Erasmus eines literarischen Kniffs und lässt die personifizierte "Frau Torheit" als weibliche Kunstfigur selbst zu Wort kommen.

Ein arbeitswütiger Bestsellerautor

Nach einem weiteren Englandaufenthalt geht er 1514 nach Basel, wo Johannes Froben die wohl beste Druckwerkstatt nördlich der Alpen betreibt. Erasmus ist als Autor darauf angewiesen, denn er arbeitet wie ein Besessener: Täglich schreibt er etwa 1000 Wörter, bis heute sind etwa 150 Bücher und 2.000 Briefe von ihm erhalten. Nach zehn Jahren intensiver Quellenkritik veröffentlicht Erasmus bei seinem Basler Verleger 1516 seine erste Ausgabe des revidierten Textes des Neuen Testaments in Altgriechisch und Latein. Dafür übernimmt Erasmus Methoden der Text-Analyse antiker Schriften und wendet sie auf die Bibel an – ein unerhörter Vorgang, gilt doch die lateinische Übersetzung "Vulgata" als göttlich inspiriert und legitimiert. In der ersten Ausgabe wählt Erasmus den programmatischen Titel "Novum Instrumentum Omne", weil es der gesamten Gelehrtenwelt als wissenschaftliches Werkzeug dienen soll.

Die kritische Bibelübersetzung sorgt in ganz Europa für Aufsehen – und heftigen Widerstand in konservativen Klerikerkreisen. Stellt eine Kritik an der "Vulgata" nicht zugleich die darauf aufbauende kirchliche Autorität in Frage? Erasmus aber kann sich sicher fühlen, denn Papst Leo X., dem er das Werk geschickter Weise gewidmet hat, begrüßt die Veröffentlichung. Ähnlich verfährt Erasmus auch mit seinem im selben Jahr erschienen Werk "Die Erziehung des christlichen Fürsten", welches er dem späteren Kaiser Karl V. widmet. So sichert sich Erasmus mächtige Schutzherren, auf deren Geheiß hin sogar verspottete Fürsten und Theologieprofessoren beleidigt schweigen müssen.

Bild: ©picture-alliance / akg-images / Erich Lessing

Zwischenzeitig ist Erasmus als Ratgeber für den künftigen Kaiser Karl V. tätig

Im Jahr 1517 geht Erasmus einige Monate nach Leuven, um das Drei-Sprachen-Kolleg für lateinische, griechische und hebräisch Philologie zu gründen. Es ist die einzige Institution dieser Art. "Ad fontes" (Zu den Quellen) – hinter diesem Wahlspruch der Humanisten steht auch Erasmus. Er sieht sich als Vermittler antiker Bildung für eine neue Zeit. Es gehört zur großen Tragik seines Lebens, dass Erasmus, wie andere Humanisten auch, die Bedeutung des Judentums dabei völlig verkennt. Das Alte Testament ist für ihn nur ein schwacher Vorläufer des Neuen Testaments und das Judentum sei als vermeintlich zurückgebliebene Religion keine intellektuelle Beschäftigung wert. In seinen Werken spielt es darum keine Rolle, doch in seinen Briefen äußert er sich entschieden judenfeindlich. Vor allem getaufte Juden sieht Erasmus als potenzielle Gefahr, denn er spricht ihnen echten Glaubenswechsel ab. Dass hinter den Konversionen Zwang und Todesdrohungen standen, kommt bei Erasmus nicht in den Blick.

Noch im selben Jahr verfasst Erasmus unter dem Eindruck des in Italien tobenden Machtkampfs mit "Klage des Friedens" die erste große pazifistische Schrift der Neuzeit. Darin enthalten ist auch der berühmte Ausspruch: "Den Krieg kann nur loben, wer ihn nicht erfahren hat." Legitim seien Kriege nur, wenn sich das gesamte Volk dafür ausspreche. Hellsichtig sieht er die heraufziehende Gefahr erbarmungsloser Glaubenskriege voraus und spricht sich für relative Religionsfreiheit aus. Ein Liberaler im modernen Sinn ist er damit aber nicht: Ernsthafte Irrlehren müssten, so Erasmus, unterdrückt werden – wenn nötig auch durch Anwendung der Todesstrafe.

Der Reformer und der Reformator: Ziemlich beste Feinde

Am 28. März 1519 adressiert Martin Luther erstmals einen persönlichen Brief an Erasmus. Der angehende Reformator hat guten Grund, auf Unterstützung des berühmten Gelehrten zu hoffen: Beide stehen der Scholastik skeptisch gegenüber, kritisieren Reliquienkulte und lehnen den Ablasshandel ab. Anfangs unterstützt Erasmus Luthers Reformwunsch, doch bleibt er stets auf Ausgleich bedacht und mahnt den aufbrausenden deutschen Mönch in seinem Antwortbrief zur Mäßigung: "Meines Erachtens kommt man mit bescheidenem Anstand weiter als mit Sturm und Drang."

Später kommt es zum endgültigen Bruch zwischen beiden, als Luther sich auf dem Reichstag in Worms 1521 weigert, seine Thesen zu widerrufen. Die Kirchenspaltung scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein, doch Erasmus will keine neue, sondern eine erneuerte Kirche: Er stellt sich auf die Seite des Papstes, distanziert sich von Gewalt und entzieht den Reformatoren seine Unterstützung. Enttäuscht und besorgt schreibt Erasmus ausgerechnet an Luthers Landesherrn Herzog Georg von Sachsen: "Luther, das lässt sich nicht leugnen, hatte die allerbeste Sache angefangen. Hätte er nur eine so wichtige Sache mit gemäßigter Stimme und Sprache geführt und sein Gutes nicht durch unerträglich Schlechtes verpfuscht!" Schnell manifestiert sich die gegenseitige Entfremdung auch theologisch: Erasmus hält an seinen humanistischen Idealen fest und verfasst sein Werk "Vom freien Willen" – woraufhin Luther prompt mit seiner Gegenschrift "Vom unfreien Willen" antwortet.

Bild: ©KNA

"Da wir sehen, dass Dir der Herr weder den Mut noch die Gesinnung verliehen hat, jene Ungeheuer [die Päpste] offen und zuversichtlich gemeinsam mit uns anzugreifen, wagen wir von Dir nicht zu fordern, was über Dein Maß und Deine Kräfte geht", schreibt Martin Luther an Erasmus.

Trotz allem will sich Erasmus nicht anti-protestantisch vereinnahmen lassen: Katholischen Appellen, er solle sich deutlicher von Luther distanzieren, verweigert er sich. Vor allem aber reift in Erasmus die dunkle Einsicht, zum unfreiwilligen Vorbereiter der Kirchenspaltung geworden zu sein: "Ich, Erasmus, habe das Ei gelegt und Luther hat es geöffnet", schreibt er desillusioniert an einen Freund. Seine 1516 veröffentlichte erste Ausgabe des Neuen Testaments war in angehenden reformatorischen Kreisen aufmerksam rezipiert worden. Luther und den Zürcher Reformatoren hatte Erasmus' Werk gar als Ausgangstext für ihre deutschen Bibelübersetzungen gedient. Selbst Täufer berufen sich nun auf seine Kirchenkritik. Vielfach werden Zitate aus Erasmus' Schriften kontextlos für eigene Positionen verfremdet: Alle wollen ein Stück des berühmten Gelehrten für ihre Zwecke ergattern.

Erasmus aber bleibt dem Katholizismus treu – wenn auch mit Distanz zur römischen Institution. Als die Reformation 1529 Basel erreicht, weicht Erasmus nach Freiburg aus. Dort unternimmt er mit seiner Schrift "Von der Kirchen lieblichen Vereinigung" einen letzten erfolglosen Versuch, die Kirchenspaltung zu überwinden. Zum Ende seines Lebens hin zieht es Erasmus im Jahr 1535 aber doch zurück nach Basel. Hier stirbt Erasmus am 12. Juli 1536 und findet – Dank der Fürsprache protestantischer Freunde – seine letzte Ruhestätte im mittlerweile reformierten Basler Münster.

Von Valerie Mitwali