Wie Menschen ihren Glauben ohne Kirche leben wollen
Viele Menschen treten aus den Kirchen in Deutschland aus – deswegen haben sie aber nicht unbedingt ihren Glauben verloren. Zu den häufigsten Gründen zählt (neben der Einsparung der Kirchensteuer), dass Menschen ihren Glauben auch ohne die Kirche leben zu können meinen oder dass ihnen die Kirche gleichgültig geworden ist. Doch auch die Missbrauchsfälle sowie das Machtgebaren und die (Sexualmoral-)Vorstellungen spielen mit Blick auf die katholische Kirche eine Rolle.
Doch wie geht das, ein Glaubensleben ohne Kirchenmitgliedschaft? Doris Bauer versucht genau das. Die Kölnerin war Lektorin, Kommunionhelferin und Kantorin, bis sie im vergangenen Jahr aus der katholischen Kirche austrat, weil sie nicht mehr den Eindruck hatte, dass die Kirche die Botschaft Jesu lebt und verbreitet.
In Gottesdienste geht Bauer immer noch. Ein Widerspruch zu ihrem Austritt? "Nein", sagt sie. "Christin kann und möchte ich nicht allein sein, die Gemeinschaft und der Austausch gehören dazu. Außerdem: Wer sagt, dass ein Kirchengebäude nur Eigentum der Amtskirche ist?" Sie wählt die Gottesdienste allerdings sehr genau aus, erzählt sie. So besucht sie etwa das einmal im Monat stattfindende Montagsgebet der Bewegung "Maria 2.0" oder nimmt an "Zusammenhalt-Gottesdiensten" teil, zu denen sich zwei Mal im Monat Menschen aus ganz Deutschland per Videokonferenz treffen. "Auch wenn ich aus der Amtskirche ausgetreten bin, bleibe ich doch weiter aktiver Teil der christlichen Gemeinschaft. Ich gehe dahin, wo es für mich stimmig ist." Sie habe viele Menschen und Gemeinschaften getroffen, die ihren Glauben ohne Rücksicht auf amtskirchliche Regelungen etwa in Sachen Stellung der Frau oder bezüglich des Umgangs mit sexuellen Minderheiten sowie wiederverheirateten Geschiedenen leben.
Theologie und Reflektion
Doch neben dem Gottesdienstbesuch pflegt sie auch andere Glaubensformen. So nimmt sie etwa am Kurs "Stark: Theologie für alle" der Melanchton-Akademie teil. Das Projekt des evangelischen Bildungswerks will im Laufe von zwei Jahren Theologie anhand der Bibel vermitteln und dabei gleichzeitig gemeinschaftliche Aspekte mit einbeziehen. Für Bauer ist das neben dem Wissenszuwachs und einer Art von Selbstermächtigung auch gelebte Spiritualität. Daneben besucht sie schon seit längerem einen "Wort-des-Lebens-Kreis" der Fokolar-Bewegung, einer Neuen Geistlichen Gemeinschaft der katholischen Kirche. Bei den Treffen tauschen sich die Teilnehmenden über eine Bibelstelle und deren Relevanz im Alltag und Glaubensleben aus.
Beinahe alle Angebote, die Bauer wahrnimmt, stehen zumindest in der Nähe der verfassten Kirche. Ihr Austritt war dabei kein Problem, erzählt Bauer, die mit dem Thema nicht hinter dem Berg hält, damit "alle wissen, woran sie sind". Ein Pfarrer habe ihr einmal gesagt, dass sie durch Taufe und Firmung weiterhin Teil der Kirche sei, unabhängig von der Zahlung der Kirchensteuer. Sie fühlt sich in Gottesdiensten sowie Gebetskreisen stets willkommen. Mittlerweile geht sie sogar wieder zur Kommunion. Nach ihrem Austritt hatte sie anfangs darauf verzichtet, um niemanden in Verlegenheit zu bringen oder Konsequenzen für die Austeilenden auszulösen – denn eigentlich ist ein Kommunionempfang nach einem Austritt nicht mehr möglich. "Man hat mir aber signalisiert, dass mein Austritt kein Problem ist – und deshalb empfange ich die Eucharistie wieder."
"Für Glaubenserfahrungen braucht man keinen Vermittler"
Die Geschichte von Claudia Mönius ist eine ganz andere: Als Kind wurde sie Opfer von Missbrauch in der Kirche und trat später aus. Nach einigen Jahren fand sie zur Kirche zurück, trat im vergangenen Jahr jedoch wieder aus, "weil ich diese Institution leider Gottes beim besten Willen nicht mehr mittragen kann". Sie praktiziert ihren Glauben auf ihre eigene Art, über die sie auch in ihrem Buch "Religion ohne Kirche" schreibt. "Für Glaubenserfahrungen braucht man keinen Vermittler, der da vorne vorturnt. Diese Erfahrungen kann man selbst und im Dialog erleben", sagt sie. Sie hat für ihren Glauben ganz andere Formate gefunden als Doris Bauer.
Eine für Mönius sehr wichtige Gebetsform ist das "Sonnengebet", das der indische Jesuitenpater Sebastian Painadath entwickelt hat, also ein katholischer Priester. Diese körperorientierte Andachtsform verbindet das christliche Gebet mit Anleihen aus dem Yoga: Zu jeder der 20 schlichten Körpergesten gehört ein geistlicher Impuls. So werden etwa die Arme nach oben gestreckt und die Hände zu einer Knospe geformt. Dazu werden in Gedanken die Worte gesprochen: "Wie eine Knospe warte ich auf die Entfaltung durch das göttliche Licht." Mönius organisiert einmal im Monat Gruppentreffen, bei denen sich an das Sonnengebet eine Meditationszeit anschließt, gefolgt vom gemeinsamen Frühstück. Mönius gefällt an dieser Form, dass sie allein, im Rahmen der Familie und in größerer Gemeinschaft geübt werden kann.
Weiterhin hat Mönius eine Art Lesekreis gegründet, in dem sich Mitglieder anhand von Religionsliteratur über den Glauben austauschen. Momentan werden etwa die Thesen des evangelischen Pfarrers Günther Schwarz diskutiert, der durch eine (in der Forschung nicht rezipierte) "Rück-Übersetzung" der Evangelien vom Griechischen in die Muttersprache Jesu, Aramäisch, einen neuen Zugang zum Christentum sucht. "Das sind jeweils recht kleine Gruppen, dafür allerdings sehr stabil in ihrer Mitgliederstruktur", sagt Mönius. Sie hat den Eindruck, dass Menschen hungrig auf diesen Austausch zu Religion und Spiritualität sind – viele aber die Kirchen generell ablehnen. Mönius hat in bewusster Abgrenzung dazu ihre Gruppen stets ohne Hierarchiegefälle aufgesetzt: Alle sollen sich auf Augenhöhe begegnen.
Mystische Erfahrungen
Ein weiterer Bereich, der vor allem auf die persönliche Spiritualität zielt, sind mystische Erfahrungen. "Gotteserfahrungen tragen wir alle in uns – es gibt nur verschiedene Zugangswege", sagt sie. Sie praktiziert etwa Holotropes Atmen. Dabei versuchen Menschen, durch eine Mischung aus Hyperventilation, Musik und körperliche Impulse wie eine Massage bislang verborgene Bewusstseinsschichten zu aktivieren. Mönius hat dabei laut eigener Aussage bereits Christusbegegnungen erlebt, die sie auf ihre christliche Sozialisation zurückführt.
Beim Blick auf die beiden unterschiedlichen Ansätze von Bauer und Mönius fallen zwei Dinge auf: Einerseits wurzeln zahlreiche Ansätze und Formate auf Formen, die im Christentum bereits erprobt sind oder von Autoren mitten aus der Kirche entwickelt wurden. Das ist wenig verwunderlich, weil beide Frauen ja ihren christlichen Glauben leben wollen. Dazu mischen sich Einflüsse aus anderen Kulturen sowie Formen wie etwa Meditationen und Bibelkreise, die unter anderem in geistlichen Gemeinschaften praktiziert werden. Die inhaltlichen Bezüge sind also vielfältig. Mit Blick auf die Organisationsform fällt auf, dass die neu gesuchten Formen egalitär ausgerichtet sind und wenn überhaupt nur eine flache Hierarchie kennen. Es werden also Ansätze aus der kirchlichen Sphäre für eine von der Kirche gelöste Spiritualität genutzt.
Wie gut funktioniert der Glaube ohne die Institution? Bauer und Mönius bewerten ihr Glaubensleben beide sehr positiv, es sei ohne Amtskirche freier und vielfältiger. Was beide allerdings auch verbindet: Sie haben sich um Formen ihres Glaubens aktiv bemüht und gezielt herausgesucht, was zu ihnen passt. Das erfordert Eigenengagement – mit der Gefahr, dass das Glaubensleben auch versiegen kann.