Ein Sozialpolitiker und Priester der Kaiserzeit

Der "agitierende Kaplan": Vor 100 Jahren starb Franz Hitze

Veröffentlicht am 20.07.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Der "agitierende Kaplan": Vor 100 Jahren starb Franz Hitze
Bild: © KNA

Bonn ‐ Der Priester Franz Hitze war einer der bedeutendsten Sozialpolitiker der Kaiserzeit - und das durchaus gegen Widerstände. Besonders der Arbeiterschutz lag ihm am Herzen. Noch heute sind die Spuren seines Lebens und Wirkens erkennbar.

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Der Reichskanzler war gar nicht erfreut. Vehement lehnte Otto von Bismarck im Februar 1890 weitere sozialpolitische Initiativen ab, welche die Mehrheit des Reichstags forderte. Mit seiner weltweit einmaligen Sozialversicherung glaubte er die Möglichkeiten staatlicher Sozialpolitik ausgeschöpft. Trotzdem beharrte ein Zentrumspolitiker auf umfassendem Arbeiterschutz. Franz Hitze – Priester und führender Sozialpolitiker der Kaiserzeit – erlag am 20. Juli 1921 einem chronischen Herzleiden.

Bismarck war der Sozialexperte ein Dorn im Auge. Sehr zu Bismarcks Verdruss war Hitze vom jungen Kaiser in den Staatsrat berufen worden, wo die sozialpolitischen Gesetze beraten wurden. Bismarck echauffierte sich über den "agitierenden Kaplan". Ihn mied der erboste Kanzler fortan: Das Gremium sei durch namenlose Personen unterwandert, "teils aus dem Arbeiterstand", teils aus dem katholischen Klerus. Bismarck, uneins mit Wilhelm II. über Sozialistengesetz und Sozialpolitik, trat schließlich als Reichskanzler zurück. Eine neue Ära begann.

Der Kaiser berief die erste Internationale Arbeiterschutz-Konferenz nach Berlin. Hitze konnte den päpstlichen Botschafter des Heiligen Stuhls beraten. Vor aller Welt sollte dokumentiert werden, dass der Kulturkampf des preußischen Staates der Vergangenheit angehörte und der Katholizismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen war. Im Reichstag kam eine neue Gewerbeordnung zustande.

Ein Bündel an Arbeitsschutzmaßnahmen

Die Novelle bündelte die gesamte Bandbreite von Arbeiterschutz, woran Hitze wesentlichen Anteil hatte: der Sonntag als Ruhezone in der Sieben-Tage-Woche, Verbot von Kinderarbeit, Begrenzung der Arbeitszeit vor allem für Frauen, Arbeiterausschüsse als Vorläufer der Betriebsräte und Gesundheitsschutz. Seit 1882 saß Hitze im preußischen Abgeordnetenhaus, seit 1884 im Reichstag. Der Sozialpolitiker hatte bereits gründlich Erfahrungen sammeln können.

Franz Hitze wurde am 16. März 1851 in eine wohlhabende Bauernfamilie geboren. Begeistert vom Vorbild des "Gesellenvaters" Adolph Kolping und des "Arbeiterbischofs" Wilhelm Emmanuel von Ketteler, hatte sich Hitze als Schüler eines Paderborner Gymnasiums im Selbststudium in die Soziale Frage eingearbeitet. Überzeugt, dass im Verhältnis von Kapital und Arbeit eine Schieflage entstanden war, konnte er der Kapitalismuskritik von Karl Marx weit folgen. Wie Bischof Ketteler sympathisierte Hitze mit der Produktiv-Genossenschaft, einem Mitbestimmungsmodell.

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Adolph Kolping (1813-1865) war ein Vorbild von Franz Hitze

Der Textilfabrikant Franz Brandts in Mönchengladbach entdeckte den sozialpolitisch aufgeschlossenen Kaplan. Er machte 1880 Hitze zum Generalsekretär des Verbands "Arbeiterwohl". Hitze, der Theoretiker der Sozialpolitik, ging bei dem Unternehmer in die Lehre. Gladbach wurde zum Experimentierfeld, zur Teststrecke für die sozialpolitischen Anträge des Zentrums im Parlament.

Erfahrungsaustausch im Unternehmen

Brandts konnte Hitze wohltätige Einrichtungen seines Betriebs zeigen: eine Krankenkasse, eine Darlehenskasse, bezahlbare Wohnungen für die Belegschaft und einen Arbeiterausschuss zur Selbstverwaltung und Streitschlichtung. Hitze lebte im Kreis der Familie Brandts und genoss den Erfahrungsaustausch bei den Mahlzeiten. Unter dem Dach der Fabrikantenvilla St.-Josefs-Haus waren sogar Kantine und Werkskindergarten untergebracht.

Bei seiner Verbandsarbeit für "Arbeiterwohl" besuchte Hitze die Katholikentage. Er verwies auf die Erfahrungen im Gladbacher Musterbetrieb und bemühte sich, neben Unternehmern vor allem den Pfarrklerus zu gewinnen. Arbeitervereine entstanden auf Grundlage der Pfarreien; "Arbeiterpapst" Leo XIII. unterstützte die Vereine. 1890 wurde zum Epochenjahr, als sich der Papst in seiner Sozialenzyklika "Rerum novarum" für das Streikrecht als letztes Mittel im Arbeitskampf aussprach.

Geburtshelfer des "Volksvereins"

1890, im Jahr der sozialpolitischen Wende des Kaisers und des Papstes, wurde auch der "Volksverein" ins Leben gerufen. Geburtshelfer war zuvorderst der Zentrumsführer Ludwig Windthorst, der eine Massenbasis für seine organisatorisch schwache Partei brauchte. Der Volksverein ruhte auf den Schultern von Brandts und Hitze, leistete vielseitige Bildungsarbeit. Aber er blieb Männerdomäne – zumal nach Gründung des Katholischen Frauenbunds 1903. Vor dem Weltkrieg hatte der Volksverein über 800.000 Mitglieder.

Neben Gladbach und Berlin beackerte Hitze seit 1893 ein drittes Tätigkeitsfeld: Er wurde der erste Inhaber des Lehrstuhls für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Münster. Dort ist heute die Katholisch-soziale Akademie nach ihm benannt.

Hitzes Jugendideal blieb sein Lebensziel: die gesellschaftliche Emanzipation und Integration der Arbeiterschaft. Bis zuletzt im Reichstag tätig, zimmerte der Sozialpolitiker mit an der Weimarer Koalition von Zentrum und Sozialdemokratie – über weltanschauliche Gräben hinweg.

Von Anselm Verbeek (KNA)