Historikerin: Pius XII. war "weder Hitler-Papst noch Juden-Papst"
Weder Anhänger noch Kritiker von Papst Pius XII. (1939-1958) finden der Historikerin Nina Valbousquet zufolge in den seit März vergangenen Jahres für die wissenschaftliche Forschung zugänglichen Archiven des Pontifikats zur NS-Zeit eindeutige Belege für ihre Position. Die von Papst Franziskus verfügte Öffnung der Bestände biete vielmehr Einblicke in eine Vielfalt von Haltungen innerhalb der vatikanischen Kurie. Pius sei "weder Hitler-Papst noch Juden-Papst" gewesen, sagte die französische Wissenschaftlerin dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Der Blick allein auf Pius XII. trage nicht ausreichend zum Verständnis der Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem Holocaust bei. "In den Archiven findet sich wenig über das, was der Papst dachte", erklärt Valbousquet mit Blick auf die anhaltende Debatte um Pius XII. Der deutsche Schriftsteller Rolf Hochhuth (1931-2020) hatte diesem in dem Theaterstück "Der Stellvertreter" von 1963 schuldhaftes Schweigen zum Holocaust vorgeworfen. Anhänger des Papstes betonen dagegen bis heute, dieser habe in römischen Klöstern zahlreiche Verfolgte, darunter auch Juden, verstecken lassen.
Vorurteile gegenüber Juden
Der spätere Pius XII. habe bereits als Nuntius in Bayern Vorurteile gegenüber Juden entwickelt, die in Teilen der Kirche als Bolschewiken und Kommunisten galten, erklärt Valbousquet. Diese in der vatikanischen Kurie verbreiteten Stereotype beeinflussten der Historikerin zufolge die Unterstützung für Flüchtlinge. Ein Teil der Kurie habe Hilfe für Juden abgelehnt.
Im Vatikan seien die Gräuel der Shoah bekannt gewesen, sagte die Forscherin. Informationen über die Judenvernichtung seien in der Kurie aber vielfach mit "Skepsis" aufgenommen worden. Sie seien entweder für falsch, für angeblich typisch jüdische Übertreibungen oder für Versuche der Alliierten gehalten worden, den Vatikan auf ihre Seite zu ziehen. Die Kirchenführung habe aber im Zweiten Weltkrieg neutral bleiben wollen und Instrumentalisierungen ihrer Äußerungen gefürchtet.
Linktipp: Kirchenhistoriker Wolf: Tausende Juden baten Papst Pius XII. um Hilfe
Rund 15.000 Bittschriften von Juden aus ganz Europa, die sich wegen der NS-Verfolgung hilfesuchend an Papst Pius XII. wandten, hat der Historiker Hubert Wolf in den Vatikanarchiven entdeckt. Wie reagierte der Vatikan?
Im Vordergrund habe für die Kirche die "apostolische Mission" gestanden, betont die Historikerin mit Blick auf deren damaliges Selbstverständnis. Gleichzeitig bescheinigt Valbousquet Teilen der Kurie ein "moralisches Scheitern" aufgrund des mangelnden Bewusstseins für die Gräuel der Judenverfolgung.
Eine Mischung aus theologisch begründeter Ablehnung der Juden und modernem Antisemitismus, der sich etwa gegen deren angeblichen wirtschaftlichen Einfluss richtet, fand die Historikerin nach eigenen Angaben in den Unterlagen über den damaligen Vatikanbotschafter in Frankreich. Valerio Valeri habe 1940 in einem Brief an den vatikanischen Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione geschrieben, die Juden-Gesetze des Vichy-Regimes im von Deutschen besetzten Frankreich entsprächen nicht in allen Aspekten christlichen Grundsätzen.
Nuntius kritisierte Einfluss der Juden
Der Nuntius habe die Vichy-Gesetze aber gleichzeitig als positiv beurteilt, denn in seinen Augen bekämpften sie den Einfluss der Juden auf die Gesellschaft, Wirtschaft und sogar auf das Kino. "Und er schreibt, sie hätten den Zweiten Weltkrieg verursacht", betont die Historikerin. Der damalige Nuntius in der neutralen Schweiz sei dagegen voller Empathie für verfolgte Juden gewesen.
Ähnlich hatte sich Valbousquet bereits vor rund einen Monat zu Pius XII. geäußert, als sie und weitere Forscher in Rom ihre Zwischenergebnisse vorstellten. Valbousquet sagte damals, weder das Klischee vom "Papst der Deutschen" noch das vom "Papst der Juden" treffe zu. Um ein Pontifikat zu beurteilen, müsse die Forschung über die jeweilige Person des Papstes hinausschauen und den Apparat des Vatikan betrachten.
Pius XII. steht seit langem in der Kritik, zum Holocaust geschwiegen und nicht entschieden genug gegen die NS-Verbrechen protestiert zu haben. Zwei Wochen vor Öffnung der Vatikanarchive im März 2020 waren Forderungen laut geworden, das Seligsprechungsverfahren für den Pontifex zu stoppen. (mal/epd)