Religionssoziologe: Kirche muss ihre flächendeckende Präsenz aufgeben
Die kürzlich veröffentlichten Kirchenaustrittszahlen 2020 sind zwar nicht ganz so hoch wie 2019. Aber immer noch haben in einem Jahr noch weit mehr als 200.000 Menschen die Kirche verlassen. Der Religionssoziologe Michael Ebertz appelliert daher an die Kirchen, ihr Angebot an die Menschen radikal zu ändern und viel stärker auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die Milieus einzugehen. Das Konzept der Pfarreien sieht er jedenfalls überholt.
Frage: Herr Professor Ebertz, Sie kennen sich aus mit sozialen Milieus. Seit einer Studie der Universität Freiburg 2019 wissen wir, dass die Zahl der Kirchenmitglieder bis 2060 sogar um die Hälfte schrumpfen wird. Wie hängt beides – die Beschaffenheit der Milieus und die Schrumpfung der Kirche – zusammen?
Ebertz: Die Freiburger Prognose von 2019 hat nicht mit der Milieu-Differenzierung gearbeitet. Sie basiert auf rein demografischen Entwicklungsdaten und fragt vor allem, was der prognostizierte Mitgliederrückgang für die Finanzkraft der Kirche bedeutet. Die Studie im Auftrag der Bischofskonferenz hat ein Lehrstuhl für Finanzwissenschaft erstellt. Da spielen Milieus überhaupt keine Rolle – und allein das lässt schon aufhorchen. Weshalb um alles in der Welt wird keine Rücksicht genommen auf die Milieu-Differenzierung, die ja gut erforscht ist? Das macht mich wütend. Die Kirche oder zumindest einige ihrer Repräsentanten scheinen ignorant zu sein gegenüber sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, besonders der Milieu-Forschung. Es scheinen Aspekte der Quantität statt der Qualität vorzuherrschen.
Frage: Ist die Schrumpfung bis 2060 eine Reaktion auf Skandale wie den Missbrauch oder sieht sich die Kirche einer sich verändernden Gesellschaft gegenüber – genauso wie etwa Parteien?
Ebertz: Die Austritte haben natürlich schon viel mit den Skandalen zu tun. Zwar gibt es immer noch erstaunlich viele, die gar keine Austrittsneigung haben, einfach weil sie denken: Das macht man doch nicht. Gleichzeitig gehen vor allem junge Milieus auf Distanz: Sie engagieren sich nicht mehr, gehen nicht in Gottesdienste. Sie lassen vielleicht noch ihre Kinder taufen, aber dann ist Schluss. Da ist kein Herzblut mehr für die Kirche. Die ist abgeschrieben bei der jungen Generation, insbesondere bei den jungen Erwachsenen.
Frage: Was kann die Kirche aus dem Wissen um die Milieus lernen?
Ebertz: Sie müsste ihre flächendeckende Präsenz aufgeben. Sie müsste sich verabschieden von der Vorstellung, quasi staatsanalog zu sein und mit ihren Pfarreien das ganze Land abzudecken. Das ist in der Gegenwart der falsche Ansatz. Außerdem müsste die Kirche ihre Attraktivität steigern. Sie müsste Menschen unterschiedlicher Milieus "spirituelle Tankstellen" bieten. Orte, an denen sie "geistliche Lebensmittel" bekommen, etwas für ihr Leben. Um solche lebensdienlichen Orte aufzusuchen, nehmen Menschen durchaus entsprechende Entfernungen in Kauf.
Frage: Was könnte die Kirche noch aus den Milieus lernen?
Ebertz: Sie müsste sich weniger auf das Kollektiv und stärker auf das Individuum beziehen mit seinen Beziehungen, Sorgen und Nöten. Wir wissen, dass im Alltag vieler Menschen Religion keine Rolle spielt. Sie bewegen sich in religionsfreien Zonen. Bei Lebensbrüchen aber wie einer Trennung, da wollen sie Trost und Orientierung, da brauchen sie Erlösung. An wichtigen Lebensübergängen wie Hochzeiten wünschen sie sich eine Symbolisierung dieses für sie so wichtigen Ereignisses – also zum Beispiel eine kirchliche Trauung. In solchen außer-alltäglichen Situationen müsste die Kirche viel stärker präsent sein. Sie wäre dann eine mobile Einsatztruppe statt eine statische Kirche, die darauf wartet, dass Leute in die Pfarreien kommen. Übrigens: Entgegen der landläufigen Vorstellung sind viele Pfarreien gar nicht für alle da. Da dominieren bestimmte Milieus – die haben den Laden im Griff! Vor allem die Traditionellen, die Bürgerliche Mitte und die Konservativ-Etablierten. Diese Milieu-Aneignungen passieren überall, zum Beispiel auch bei kommunalen Jugendzentren: Die sind auch gedacht für alle Jugendlichen, aber werden oft beherrscht von einem ganz bestimmten Milieu. Andere Jugendliche kommen da gar nicht erst hin.
Frage: Was heißt das jetzt: Tabula rasa, alle Pfarreien weg und dafür hier mal ein Jugend- und da ein Familienzentrum?
Ebertz: Tun wir mal nicht so, als würde das nicht schon längst geschehen. 'Alle Pfarreien weg' – das passiert doch in einigen Diözesen. Im Erzbistum Freiburg gibt es in Zukunft nur noch 36 Großpfarreien, heute sind es noch über 1.000. Aber mit einem klugen Konzept von Kirchenentwicklung könnten unterhalb dieser Großpfarreien "geistliche Milieu-Hotspots " entstehen, die nicht mehr nach dem Territorialprinzip ausgerichtet sind. Gern ein Hotspot für die Traditionellen mit Heiligen-Verehrung, Prozessionen und Rosenkranz, bitte aber auch ein Hotspot für die Sozialökologischen, die noch an eine bessere Gesellschaft der Zukunft glauben und sonst zu einer neuartigen ‚Naturreligion‘ abwandern; bitte auch für das junge Milieu der Expeditiven, die auf Sinnsuche sind und dazu neigen, christliche und außerchristliche Vorstellungen und Praktiken zu einer spirituellen Collage zu verbinden. Wenn die Kirche die unterschiedlichen Milieus ihren Bedürfnissen angemessen anspricht, statt sie in einer lokalen Ortsgemeinde unter der Vorherrschaft der dort präsenten Milieus irgendwie vergemeinschaften zu wollen, dann könnte sie vielleicht sogar wieder wachsen. Immer alle erreichen zu wollen, ist eine der tödlichsten Leitorientierungen unserer Kirche – so ähnlich wie das Wort "Gemeinschaft". Es vernebelt mehr, als dass es klärt, es schließt mehr Menschen aus, als zu gewinnen. Kirche braucht ein gesundes Nebeneinander, statt Mit- oder Durcheinander von Milieus.
Frage: Haben Sie denn Hoffnung, dass sich die Kirche sich tatsächlich umorientiert und die Milieus stärker in den Mittelpunkt stellt?
Ebertz: Da bin ich eher skeptisch. Es bräuchte mutige Bischöfe, die die kirchlichen Entwicklungsprozesse – oder man könnte auch sagen: Um- und Abbauprozesse – entsprechend nutzen. Im momentanen Umbau der pastoralen Betriebssysteme stecken durchaus Chancen. Es könnte Experimente geben, also dass man einfach mal so ein paar geistliche Milieu-Hotspots ausprobiert. Die Wissenschaft könnte das beobachten und auswerten, damit die Erfahrungen auch anderswo nutzbar gemacht werden können. Es ginge darum, über Erfahrungen gute Beispiele zu schaffen.
Frage: Wie wirkt sich Corona auf die Milieus aus und welche Konsequenzen hat das für die Kirche?
Ebertz: Corona war für die Kirche eine enorme Irritation, allein die Erfahrung, dass die Gottesdienstgemeinden sich nicht mehr vor Ort versammeln konnten. Aber die digitalen Gottesdienste sind wenigstens zum Teil durchaus gelungen. Die Reichweite der Gottesdienstgemeinde hat sich manchenorts vergrößert, wenn auch nicht alle Kirchenmitglieder ans Internet angeschlossen sind. Ich habe selbst an solchen Gottesdiensten teilgenommen, da konnten die Leute auch chatten und sich so aktiv beteiligen. Leute aus ganz verschiedenen Regionen haben sich eingeklinkt. Eine Chance des Digitalen ist also die Reichweite – und Menschen anzusprechen, die vorher vielleicht noch gar nicht so gottesdienstaffin waren. Aber Vorsicht: Auch da dominiert oft noch der Gemeinschaftsgedanke, letztlich die Kirche vor Ort, statt die digitalisierten Gottesdienstformate überlokal auf bestimmte Milieus zuzuschneiden. Aber es gibt noch eine andere Erkenntnis …
Frage: Welche?
Ebertz: Mich wundert, dass Präsenz-Gottesdienste nach Corona als das Allerheilmittel gelten. Als gäbe es nichts anderes. Hier werden schon wieder die Milieus nicht beachtet. Bestimmte Milieus gehen nicht in einen Präsenzgottesdienst. Sie wissen gar nicht, wie sie sich da benehmen sollen. Das heißt, präsentische Gottesdienste grenzen auch aus. Also das Learning aus Corona könnte darin bestehen, die Gottesdienstformate zu vervielfältigen. Über digitale Formate könnte man die Milieus ansprechen, die ohnehin nur noch digital unterwegs sind. Und Gottesdienste sind da nur ein Beispiel. Der Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz macht zum Beispiel jeden Morgen online eine geistliche Inspiration in den Tag – einmal sogar aus seinem Schlafzimmer heraus. Durch Digitalisierung und Soziale Medien ergeben sich enorme Möglichkeiten, kommunikative Präsenz nicht nur einfach quantitativ zu vervielfältigen, sondern milieuspezifisch anzubieten. Da gibt es Wachstumspotential für die Kirche, um Leute mit dem Evangelium in Berührung zu bringen, was auch immer sie damit dann machen. Diese Kontrolle hat die Kirche nicht mehr.
Soziale Milieus
Auf der Grundlage von sozialen Milieus kann die Beschaffenheit einer Gesellschaft analysiert werden. Milieus teilen eine Gesellschaft also sozusagen in verschiedene Gruppen ein, deren Mitglieder sich in bestimmten Merkmalen ähneln. Solche Merkmale können Einkommen oder Bildungsgrad sein, aber auch grundlegende Einstellungen und Werte. Ein klassisches Milieu, das Gesellschaften lange prägte, ist zum Beispiel das "Arbeitermilieu".
Mit dem gesellschaftlichen Wandel verwischen inzwischen aber auch die Grenzen von Milieus, neue Gruppen bilden sich heraus. Moderne Gesellschaften kann man zum Beispiel anhand der sogenannten Sinus-Milieus charakterisieren – benannt nach dem Forschungsinstitut, das sie entwickelt hat. Hier spielen vor allem zwei Dimensionen eine Rolle: Einmal die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht: Unter- Mittel- oder Oberschicht. Die zweite Dimension ist die Grundorientierung im Leben: Ist Menschen eher die Tradition wichtig oder wollen sie Modernisierung, Individualisierung oder gar eine grundlegende Neuorientierung? Insgesamt beschreibt die Typologie für Deutschland aktuell zehn Milieus, von der Bürgerlichen Mitte, über die Traditionellen bis hin zu Liberal-Intellektuellen. (gho)