Olympiaseelsorgerin Keilmann: Wir sind Trainer der Seele
Die Olympischen Spiele in Tokio sind geprägt von der Corona-Pandemie. Die Sportlerinnen und Sportler leben und trainieren in einer Blase. Die Olympiaseelsorge macht daher vor allem digitale Angebote. Mit welchen Sorgen und Themen die Sportlerinnen und Sportler zu ihr kommen, berichtet Elisabeth Keilmann im Interview.
Frage: Frau Keilmann, die Hälfte der Olympischen Spiele in Tokio ist rum. Als Olympiaseelsorgerin können Sie aufgrund der Corona-Pandemie nicht selbst vor Ort dabei sein. Wie traurig sind Sie darüber?
Keilmann: Traurig bin ich nicht. Ich hätte natürlich gerne die deutsche Mannschaft mit meinem Kollegen vor Ort in Tokio begleitet. Aber wir müssen alle die besondere Situation sehen: In Tokio hätten wir überhaupt keine Kommunikationsplattform gehabt. Es gibt kein Deutsches Haus, es sind keine Zuschauer da und auch die Familien und Freunde der Athletinnen und Athleten konnten nicht mitreisen. Wir hätten auch kein Training besuchen können. Auch im olympischen Dorf gibt es Gemeinsamkeit nur auf Abstand und die Sportlerinnen und Sportler leben wie in einer Blase. Die Prämisse lautet ja: Auf das Nötigste reduzieren, da die Gesundheit aller im Vordergrund steht.
Frage: Wie funktioniert unter solchen Voraussetzungen virtuelle Seelsorge?
Keilmann: Wir haben überlegt, wie wir den Umständen entsprechend eine angepasste Betreuung der deutschen Mannschaft ohne Präsenz vor Ort gewährleisten können. Uns ist es wichtig, ansprechbar zu sein und wir haben darüber nachgedacht, was wir digital anbieten können. Das gesamte deutsche Team hat von uns einen Türanhänger bekommen. Dieser Türanhänger dient als unsere Visitenkarte mit unseren Kontaktdaten. Wenn jemand aus der deutschen Mannschaft uns ansprechen möchte, per Telefon, WhatsApp, Mail oder Videochat, sind wir da und das Motto dieses Türanhängers ist "Anklopfen erwünscht". Wir haben vor dem Start der Olympischen Spiele auch am Olympiastützpunkt in Wattenscheid eine Videogrußbotschaft für das Team aufgenommen und auf unseren Türanhänger hingewiesen, damit das Team D weiß, wer da überhaupt zur Verfügung steht.
Frage: Gibt es auch Gottesdienste?
Keilmann: Immer sonntags. Am vergangenen Sonntag haben wir beispielsweise einen Online-Gottesdienst zum Thema "Sein Bestes geben" angeboten. Wir sind ja durch die Corona-Pandemie in Online-Gottesdiensten geübt. Das Angebot gilt nicht nur für die Athletinnen und Athleten, sondern auf für die Trainer, Betreuer und Organisatoren.
Frage: Werden Sie auch von der deutschsprachigen Gemeinde in Tokio unterstützt?
Keilmann: Wir sind mit der deutschen katholischen und evangelischen Gemeinde in Tokio im Austausch. Die Seelsorger vor Ort sind für Extremfälle da. Solche Situationen, wie etwa der tödliche Unfall des Kanu-Trainers bei den Sommerspielen 2016 in Rio, sind zum Glück selten. Der katholische Pfarrer hat eine Kerze für die Sportlerinnen und Sportler angezündet. Er darf aber auch nicht in das olympische Dorf und die Sportlerinnen und Sportler dürfen nicht in die Kirchen.
Frage: Wie sieht aktuell Ihr Arbeitstag aus?
Keilmann: Neben dem normalen Arbeitstag stehen wir stehen auf Abruf für Gespräche bereit und bereiten Angebote wie Online-Gottesdienste vor. Das ist schon nochmal anders als sonst, die persönlichen Begegnungen und die Kontaktmöglichkeiten vor Ort fehlen. Uns ist es deshalb ganz wichtig, da zu sein – in diesem Jahr eben über digitale Angebote.
Frage: Nehmen die Sportlerinnen und Sportler diese Angebote denn überhaupt wahr?
Keilmann: Ja, aber es ist anders. Aus der Ferne und digital ist das natürlich eine Herausforderung und nicht damit zu vergleichen, als wenn wir vor Ort wären. Auch die Zeit spielt da eine große Rolle: Die Verweildauer der Sportlerinnen und Sportler in Tokio ist relativ kurz. Sie müssen 48 Stunden nach ihrem Wettkampf wieder nach Hause fliegen. Die persönlichen Begegnungen und die zufälligen Gespräche fehlen allen. Aber die Erfahrung zeigt: Für viele ist es gut zu wissen, dass wir da sind. Auch unser österreichischer Kollege in der Olympiaseelsorge, mit dem wir im engen Kontakt sind, macht ähnliche Erfahrungen.
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Frage: Mit welchen Sorgen und Themen kommen die Sportlerinnen und Sportler zu Ihnen?
Keilmann: Wir stehen als Seelsorger nicht nur für Glaubensfragen zur Verfügung, sondern auch für Lebensfragen. Sportseelsorge umfasst das ganzheitliche Menschenbild mit all den Erfahrungen, die wir auch im Leben machen: die Freude, die Gemeinschaft, Sieg und Niederlage. Bei der Olympiaseelsorge geht es genau darum, Fragen aufzugreifen, die die Menschen in ihren vielfältigen Lebenskontexten betreffen. Und da ist die Bandbreite sehr groß: Es geht um den persönlichen Lebensweg, gerade bei jüngeren Menschen beispielsweise darum, was nach dem Sport kommt. Es geht um die familiäre Situation, um Belastung, aber auch um Freude. Ich erlebe, dass viele Sportlerinnen und Sportler dieses Interesse an ihrem Sport und ihrer Person sehr schätzen. Wir schauen ja nicht nur auf die Leistung, sondern auf den Menschen.
Frage: Im Sport spricht man immer wieder von mentaler Stärke. Wie wichtig ist Seelsorge, damit Sportlerinnen und Sportler ihre Leistungen bringen können?
Keilmann: Mir ist es wichtig, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen. Das gilt natürlich auch für die Sportlerinnen und Sportler im Leistungssport. Es gibt viele Fachleute, die die Athletinnen und Athleten betreuen, etwa Trainer, Physiotherapeuten oder Ärzte. Eine Sportlerin hat die Sportseelsorge – meiner Meinung nach sehr treffend – einmal so beschrieben: "Ihr seid die Trainer der Seele." Wir sind also da und bieten die Möglichkeit zu einem vertrauensvollen Gespräch. Wir haben Zeit, um zuzuhören, sprechen Mut zu und zeigen dem Menschen: Du bist wertvoll, auch wenn du keine Goldmedaille gewonnen hast.
Frage: Verfolgen Sie selbst auch die Wettkämpfe der deutschen Athletinnen und Athleten?
Keilmann: Soweit es meine Zeit zulässt, verfolge ich sehr gerne die Wettkämpfe. Am Ende des Tages schaue ich mir auf jeden Fall alle Zusammenfassungen an. Das ist mir wichtig, um auch ein bisschen Atmosphäre mitzubekommen und um zu sehen, wie die Wettkämpfe verlaufen. Ich bin ja auch sportinteressiert. Und es sind oft auch die menschlichen Momente, die mich bewegen, wenn ich beispielsweise einen "Verlierer" sehe, der fair dem Gewinner gratuliert oder wenn eine Athletin vor Freude weint, dabei zu sein, ohne eine Medaille zu gewinnen. Beeindruckt hat mich auch das Doppelgold der Sieger beim Hochsprung. Die beiden Hochspringer aus Italien und Katar einigten sich darauf, nicht ins Stechen zu gehen und teilen sich den Sieg.
Frage: Gratulieren Sie den erfolgreichen deutschen Sportlerinnen und Sportlern – oder trösten Sie die, die nicht so erfolgreich waren?
Keilmann: Es gibt ja das Signal, dass wir für Gespräch da sind. Wir wollen uns auch nicht aufdrängen, sondern wir machen das Angebot. Wir haben der gesamten deutschen Mannschaft unsere guten Wünsche geschickt und zum Ende der Olympischen Spiele versenden wir noch ein Grußwort mit einem Reisesegen.