Deshalb ist Kirche für eine gelingende Demokratie unverzichtbar
Menschen treten aus der Kirche aus, sie verliert immer mehr an Rückhalt in der Bevölkerung, ist Kritik und Gegenwehrt ausgesetzt – mitunter zu Recht. Und doch: Für mich wäre unsere liberale Demokratie ohne Kirche unvollständig. Das hat auch biografische Gründe: Ich wurde im Juli 1971 in Ost-Berlin geboren und evangelisch getauft. In der DDR war die Kirche für viele Menschen das Geländer auf dem beschwerlichen Weg zur Demokratie. Die Friedlichkeit der Revolution von 1989 verdanken wir nach meinem Erleben entscheidend den Kirchen in der DDR. Ob Inhaftierte, Ausreisewillige, Bespitzelte und Entrechtete, viele strebten in den deutschen Diktaturen der Vergangenheit in Gotteshäuser. Die ehemalige DDR war selbst sehr stolz darauf, "gottlos" zu sein. Am Ende haben diese Werte gefehlt und die SED-Diktatur verlor die eigene Bevölkerung. Doch wie geht Kirche auf demokratischem Boden? Wie können die schrumpfenden Kirchen im 21. Jahrhundert zu einer gelingenden Demokratie in Deutschland beitragen?
In der Präambel zu unserem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist die Rede von "Vor Gott und den Menschen". Das heißt: Jeder ist verantwortlich für sein Handeln und muss dafür irgendwann Rechenschaft ablegen. Dieser Gedanke ist heute aktueller denn je. Denn was Unverantwortlichkeit heißt, wird bei den populistischen Stimmen in unserer Gesellschaft und unserem Parlament klar, die "Sittenverfall" rufen und ihn mit diesem Wort doch erst auslösen. Ich skizziere ein Beispiel: Es gibt Politiker in Deutschland, die sich stark für Frauen einsetzen, wenn sie Gewalt durch Menschen mit Migrationshintergrund erfahren. Es geht ihnen darum, "unsere" deutschen Frauen von "dahergelaufenen" Vergewaltigern zu schützen, die sich gefälligst an deutsche Sitten zu halten hätten. Diese Politiker fehlen aber in der Debatte, wenn es darum geht, dass deutsche Frauen überwiegend Gewalt durch ihre deutschen Ehemänner und Partner erfahren. Für die Opfer muss dieser Zustand unerträglich sein. Die Gewalt, die sie erfahren, wird ein Spielball rücksichtsloser Populisten, um Aufmerksamkeit zu generieren und Menschen abzuwerten. Das ist der Sittenverfall. Denn jede Gewalttat ist gleichermaßen inakzeptabel und unerträglich überflüssig. Wir wissen das und Gott auch. Ohne Gott fehlt diese Perspektive, diese Rückbindung zum Menschen.
Rückbindung gerade in der heutigen Gesellschaft
Religion heißt lateinisch Religio, gewissenhafte Berücksichtigung, Rückbindung, Sorgfalt. Gerade diese Sorgfalt beim Blick auf unser Zusammenleben brauchen wir heute – und das als Gemeinschaft der Kirchen, die auch was bewegen kann. Christen kommen – hört man einigen Menschen nach ihrem Kirchenaustritt zu – gut ohne Institution Kirche zurecht. Ich finde das schade, denn eine Gemeinschaft ist viel kraftvoller und sichtbarer als ein einzelner Christ ohne kirchliche Heimat. Kirche muss hinschauen, kritisieren und Angebote machen. Ein Beispiel: Die Militärseelsorge wird manchmal als Stachel im Fleisch des Militärwesens gesehen – und das ist ihr Segen! Denn sie ist eine ethisch mahnende Stimme in einer stark hierarchischen Institution. Die Seelsorge verarbeitet und benennt, was die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan erlebt haben und noch lange Jahre mit sich herumtragen werden. Sie macht die Folgen staatlichen Handelns menschlich sichtbar.
Diese Dualität von Staatlichkeit und der menschlichen Perspektive wird auch in größerem Rahmen sichtbar. Ohne größere Ordnung, ohne höhere Werte übernimmt allein der Rechtsstaat, wo früher christlich-demokratischer Ethos eine Antwort geben konnte. Ein Beispiel hierfür ist, dass in Deutschland das Containern (Lebensmittel aus den Mülleimern von Supermärkten zu "retten", damit sie nicht verschwendet werden) verboten bleibt, weil eine Verfassungsbeschwerde erfolglos geblieben ist.
Juristisch eine einwandfreie Beurteilung! Es fehlt jedoch eine Metaebene, die die Pflicht zur Nächstenliebe formuliert. Beim Containern geht es nicht allein um die beklagenswerte finanzielle Armut in einem reichen Land. Es geht auch um eine geistige Armut hinsichtlich der Wertschätzung von Nahrungsmitteln. Ohne die Religio fehlt der Gesellschaft diese Perspektive. Ein gutes Leben braucht ein gutes Menschenbild.
Willkommenskultur als Zeichen praktizierter Menschenwürde
Die viel gelobte und stark kritisierte Willkommenskultur im Jahr 2015 war praktizierte Menschwürde und ging vom christlichen Menschenbild aus, das gegenseitige Achtung und den Schutz des Lebens einschließt. Deshalb setzen sich die Kirchen vehement für Menschen in lebensbedrohlichen Situationen ein, ohne zu bewerten, wie sie in diese Situation gekommen sind. Gerade die katholische Kirche hat mir in der Zeit der großen Fluchtbewegung im Jahr 2015 bewiesen, wie sehr sie doch gebraucht wird. Ich habe in Vorpommern einen ehrenamtlichen und rein spendenbasierten Nachbarschaftstreff unterhalten, in dem viel Willkommenskultur und Integrationsarbeit geleistet wurde. Katholiken haben diese Arbeit gesehen und wertgeschätzt. Das gilt auch in einem größeren Rahmen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Kirchen soziale Arbeit leisten in Pflege, Betreuung und Bildung. Kirche ist unter anderem dadurch auch heute noch eine christliche Heimat, Schutzraum, Begegnungsstätte, Glaubenshort und Denkfabrik. Das stärkt das demokratische Miteinander und ist eine sinnvermittelnde Ergänzung zum Staat.
„Kirche ist unter anderem dadurch auch heute noch eine christliche Heimat, Schutzraum, Begegnungsstätte, Glaubenshort und Denkfabrik. Das stärkt das demokratische Miteinander und ist eine sinnvermittelnde Ergänzung zum Staat.“
In Fragen wie der Bewahrung der Schöpfung oder der Schutzwürdigkeit von Menschen handelt der Staat entsprechend rechtlicher Vorgaben. Das kann dazu führen, dass Menschen in prekären Verhältnissen verbleiben müssen, weil die Situation rechtlich nicht anders zu bewerten ist. In solchen Situationen fällt der Kirche eine wichtige Aufgabe zu. Sie kritisiert und mahnt, glättet Wogen, macht Ungerechtigkeit sichtbar. Der Staat hat also einen zusätzlichen – und nicht an weltliche Maßstäbe gebundenen – Ratgeber und Korrektor an seiner Seite. Letztendlich ist es wichtig, dass wir beide Positionen sehen und verstehen.
Kirche ist nicht unangreifbar
Natürlich ist auch die Institution Kirche nicht unangreifbar: Die kirchlichen Positionen zu queerem Leben müssen nach meinem Dafürhalten zugewandter sein. Ausgrenzung und Herabsetzung von Minderheiten kann niemals gottgewollt sein! Ebenso bittet die Kirche bis heute viel zu selten um Vergebung und erkennt eigene Fehler an. Ohne Anerkennung von Schuld kann es für die Opfer kirchlicher Übergriffe – zum Beispiel in den Kinderheimen der westdeutschen Bundesländer oder durch sexuelle Gewalt – keine Heilung geben. Zu guter Letzt macht sie sich manchmal zur unverdienten Wahlhelferin, wenn sie nur einer kleinen Auswahl an Politikern und Aktivistinnen eine Plattform bietet.
Das heißt: Die Kirche hat in unserem Land eine Aufgabe, staatliches Handeln eine andere. Kirche muss das leisten, was dem Staat nicht möglich ist. Der Staat soll nur das leisten, wofür wir ihn demokratisch bestimmt haben. Mithin ist Kirche das Korrektiv für eine gute Gesellschaft, für Sinn, den Blick auf den Menschen und einer über Recht hinausgehenden Ethik. Beide müssen ihre Aufgaben mit Maß und Ziel erfüllen, um zu einer gelingenden Gesellschaft beizutragen. Ein demokratischer Mensch ist im Idealfall gut geerdet und gehimmelt.
Zur Autorin
Karoline Preisler wurde 1971 in Ost-Berlin geboren. Sie ist Juristin und FDP-Politikerin. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Demokratie aushalten!" (Hirzel, 2021).