Freiburger Dogmatiker Ruhstorfer ruft zu Erneuerung der Katholizität auf

Eine auseinanderdriftende Welt braucht eine "katholische" Kirche

Veröffentlicht am 24.01.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Freiburg ‐ Wir leben in einer Zeitenwende. Der Streit um nationale, kulturelle, religiöse und politische Identität zerreißt unsere Gesellschaften. Für einen neuen globalen Konsens könnte die Kirche einen heilsamen Impuls leisten, schreibt der Freiburger Dogmatiker Karlheinz Ruhstorfer in seinem Gastbeitrag.

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Ist die Kirche noch katholisch? Diese Frage hört man oft aus bestimmten Kreisen. Darin liegt der implizite Vorwurf: Sie hat sich zu sehr an den Geist der Zeit angepasst. Man könnte die Frage aber auch ganz anders verstehen: Ist die Kirche zu wenig mit der Zeit gegangen? Ist sie heute noch vermittelbar mit dem Geist einer vernünftigen Allgemeinheit? Denn ursprünglich bedeutet das Wort "katholisch": auf das Ganze (hólon), auf die universale Einheit, das Allgemeine bezogen sein. In diesem Sinn wurde das Wort in Spätantike und Mittelalter auf die junge Kirche übertragen. "Katholisch" war noch keine Konfessionsbezeichnung. Also noch einmal: Ist die Kirche noch katholisch? Vermag sie noch, der Welt die Wahrheit vorzutragen?

Für ihre Zeit haben Kirchenväter und die mittelalterlichen Theologen die christliche Wahrheit vor dem Forum der allgemeinen Vernunft plausibel gemacht. Katholisch sein meinte also gerade nicht, die Vergangenheit nostalgisch zu verklären und sich sektiererisch in eine Nische zurückzuziehen.  Sowohl die Reformatoren als auch die Anhänger der alten Kirche hielten am Begriff des "Katholischen" im Sinn der umfassenden Allgemeinheit fest. Doch wurde das Wort im Verlauf der Neuzeit mehr und mehr zur Bezeichnung einer bestimmten Konfession und damit einer besonderen Auffassung von göttlicher Wahrheit – nämlich derjenigen, die sich in Kontinuität zum Mittelalter sah und die protestantische Erneuerung ablehnte. Diese katholische Konfessionskirche konnte in der Folge noch einmal eine eigene Welt ausbilden, deren intellektuelle Speerspitze die Jesuiten waren.

Doch sie verlor zusehends den Anschluss an die neuzeitliche Dynamik. Die maßgeblichen religiösen, philosophischen, (natur-)wissenschaftlichen und politischen Einsichten der neuen Zeit wurden außerhalb der Kirche und oft gegen ihren Widerstand errungen. Das Konzil von Trient (1545-1563) hatte der neuen, konfessionell-katholischen Kirche ihre dogmatische Gestalt gegeben, an deren Spitze ein quasiabsolutistischer Fürst, der Papst, stand. Die Situation verschärfte sich im 19. Jahrhundert. In der Restaurationszeit, nach der Französischen Revolution und deren Folgen, reformierte sich die alte Kirche erneut, indem sie sich innerhalb der Moderne als antimoderne Gegenwelt entwickelte. Ihre spätantike und mittelalterliche Hochzeit wurde ideologisiert. Wiederum dogmatisierte ein Konzil – das Erste Vatikanum (1869/70) – diesen modern-ideologischen Ansatz. Katholisch sein hieß fortan: gegen Demokratie, gegen Sozialismus, gegen Aufklärung, gegen Evolutionstheorie, gegen Pressefreiheit und Religionsfreiheit, kurz, gegen Neuzeit und Moderne zu sein.

Nicht genug für die eigenen Ansprüche

Mitte des 20. Jahrhunderts machte sich die Einsicht breit, dass diese Kirche ihrem eigenen Anspruch auf Katholizität nicht mehr genügte. Sie hatte den Anschluss an Welt und Zeit verloren. Die wichtigen Erneuerungsbemühungen des Zweiten Vatikanums (1962-1965) konnten allerdings den prinzipiellen Anachronismus der Kirche nicht überwinden. Zahlreiche Reformen wurden zwar durchgesetzt, ein epochaler Paradigmenwechsel blieb jedoch aus. Die Bemühungen nach dem Konzil, Welt und Kirche radikal, das heißt von der Wurzel her zu versöhnen, schlugen nicht an beziehungsweise wurden in den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. weitgehend abgewürgt. Die dringend gebotene Wurzelbehandlung blieb aus.

Bild: ©Privat

Der Freiburger Dogmatiker Karlheinz Ruhstorfer.

Im 21. Jahrhundert droht die katholische Kirche "nur noch als unter die Völker verstreutes Freilichtmuseum" (Michael Seewald) wahrgenommen zu werden. Die aktuellen Missbrauchsskandale wirken auf eine Kirche, die ihrem Anspruch auf Allgemeinheit nicht mehr gerecht wird, wie Brandbeschleuniger. Paradoxerweise entsteht heute in dem Maße, in dem die Kirche ihre eigentliche "Katholizität" verliert, in der Welt das dringende Bedürfnis nach Einheit und Allgemeinheit. Mehr denn je braucht unsere Zeit universale Institutionen und globale Vermittlungsinstanzen. Die katholische Kirche könnte durchaus ein Global Player im Wahrheitsdiskurs unserer Tage werden, bezeichnete sich doch die Kirche im Zweiten Vatikanum gleichsam als "das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (Lumen Gentium 1). Doch um dieser Bestimmung gerecht zu werden, bedarf es der Befreiung des "Katholischen".

An der Schwelle zu globaler Identität

Wir leben in einer Zeitenwende. In dieser Phase des Übergangs sind wir zerrissen zwischen den Extremen der individuellen Besonderung und der allgemeinen Normierung. Einerseits leben wir gerade in der westlichen Welt in einer "Gesellschaft der Singularität" (Andreas Reckwitz). Alles Allgemeine, Universale, mit sich Identische ist in Verruf geraten. Das Spezielle, Singuläre, das "etwas Andere" hat massiv an Bedeutung gewonnen. In der postindustriellen Ökonomie der Singularitäten finden die Ideen der postmodernen Vordenker ihren realgeschichtlichen Niederschlag. Postmoderne meint: Das Andere wird zum Erscheinungsort des Heiligen (Levinas). Dem Identischen wird der Krieg erklärt (Lyotard). Die Verschiedenheit (Différance) wird zur Manifestation der Gerechtigkeit (Derrida). Doch die Postmoderne hat sich erschöpft.

So befinden wir uns andererseits in einer radikalen Gegenbewegung. Die Informationstechnologien, Globalisierung und (post-)industrielle sowie (natur-)wissenschaftliche Normierungen haben eine Kultur der Einheitlichkeit und Eindeutigkeit entstehen lassen, die jede Ambiguität und Vielfalt in Bedrängnis gebracht hat (Thomas Bauer). In der vereindeutigten Welt verschwinden die Besonderheiten der Individuen, Nationen und Kontinente. Menschliche Sprachen und Gewohnheiten, aber auch Tier- und Pflanzenarten werden in bisher nie dagewesenem Ausmaß vernichtet. Überall ernähren, kleiden und zerstreuen sich die Menschen auf dieselbe normierte Weise. Alle Differenzen werden in eine normierte Identität aufgelöst.

Heute bedroht eine neue Sehnsucht nach Geschlossenheit die offene Gesellschaft. Eine neue Suche nach fester Identität stellt den Pluralismus in Frage. Ein neuer Wille zur Autorität bekämpft die liberalen Demokratien. Dabei betreten auch harte, identitäre und traditionalistische Formen des Religiösen die Bühne und werden zur Gefahr: Fundamentalistische Formen des Islam, die staatstragende Orthodoxie im Russland Putins, evangelikale Christen in den USA Donald Trumps. Dazu kommen verschiedenen Formen des katholischen Fundamentalismus und Traditionalismus, etwa in Form der polnischen PiS.

US-Präsident Donald Trump
Bild: ©picture alliance/NurPhoto/Jaap Arriens

"Heute bedroht eine neue Sehnsucht nach Geschlossenheit die offene Gesellschaft", stellt Ruhstorfer fest – und spielt damit auf Populisten wie US-Präsident Donald Trump an.

Deshalb sieht der US-Politologe Francis Fukuyama die demokratische Freiheit und Gleichheit in Gefahr. Gerade die Verabsolutierung der je eigenen Identität zerstöre die Grundlage der Demokratie. Wenn die Identität als Deutscher, Brite, Katholik, Jude, Muslim, aber auch als Mann und Schwarzer oder als Frau und Lesbe höher eingestuft werde als die Identität als Mensch, komme es zum Konflikt der Identitäten. Er sowie andere Autoren wenden sich gegen eine essentialistische Verhärtung der partikularen Identität und fordern die regulative Idee einer Allgemeinheit, die aber Besonderheiten und Singularitäten ihren Raum lässt. Doch behauptet Fukuyama interessanterweise, dass das Christentum keinen unerheblichen Anteil an der Ausbildung des Gedankens einer allgemeinen Würde des Menschen hatte. Freilich müssen wir hier ehrlichkeitshalber anfügen, dass dieser Gedanke gerade seitens der meisten christlichen Kirchen über Jahrhunderte explizit bekämpft wurde. Könnten erneuerte Kirchen nicht dennoch und deshalb einen Beitrag zur Stabilisierung der menschlichen Würde und zur Klärung unserer globalen Identität leisten?

Doing catholicity

Die christliche Basisinspiration besteht in zwei Grundgedanken: die Verbindung von Gott und Mensch in einem Individuum Jesus und die Differenz zwischen Vater und Sohn in der Einheit des göttlichen Geistes. Dieser dogmatische Kern wurde von der mittelalterlichen Wissenschaft als Christologie und Trinitätslehre entfaltet. Im Verlauf der Neuzeit jedoch wurde die göttliche Würde des menschlichen Individuums schließlich auf die gesamte Menschheit ausgedehnt. Gott vermittelte sich nicht mehr primär über Hierarchie und kirchliche Amtsträger, sondern über menschliche Freiheit und Vernunft. Auf verschlungenen Wegen führte die Überzeugung von der grundsätzlichen Gleichheit aller Gläubigen vor Gott über die prinzipielle Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zur Autonomie aller Menschen. So realisierte sich die christliche Basisinspiration schließlich außerhalb der Kirchen in der neuzeitlichen Philosophie und Politik. Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit sind mündig gewordene Kinder des Christentums. Auch für Kant und Hegel beginnt die Geschichte der Freiheit mit Jesus Christus. Der christliche Geist der menschgewordenen Gottheit manifestiert sich darüber hinaus in Karl Marxens Streben nach ökonomischer Gerechtigkeit, in Nietzsches Liebe zum Leib, in Heideggers Wahrheit des Seins, in Foucaults Ethik des Selbst, in Derridas dekonstruktiver Offenheit.

Bild: ©KNA

"Die konkrete Religion gibt es nur in den besonderen Formen des Glaubens." Jugendliche bei der Nacht der Lichter in Taize.

Doch ist die allgemeine Streuung des christlichen Geistes in die verschiedensten Manifestationen von Gerechtigkeit und Wahrheit nur die eine Seite. Daneben bleibt auch die gesammelte religiöse Andacht von Belang, denn die konkrete Religion gibt es nur in den besonderen Formen des Glaubens: In den evangelischen, katholischen und orthodoxen Konfessionskirchen. Im sonntäglichen Kirchgang. Im stillen Gebet. In der Lektüre der Bibel. Beim Besuch der Armen. Bei der Heilung der Kranken und der Befreiung der Gefangenen usw. Die Praxis der christlichen Religion ist konkret. Doch auch dieses konkrete Christentum kann zu einer inspirierenden Kraft für den demokratischen Staat und für die freiheitliche Gesellschaft werden. Schon Jürgen Habermas hat die stärkende Rolle der Religion für säkulare Strukturen betont.

Den Mitgliedern jeder besonderen Religion und Konfession kommt es zu, sich um die Rolle der eigenen Gemeinschaft im Horizont globaler Identität und Katholizität zu sorgen. Gerade der katholischen Tradition sollte die Katholizität, also die Sorge um das Allgemeine, in ihr Wesen eingeschrieben sein. Die katholische Weltkirche hat noch heute – trotz aller Engführungen und Schwächen – eine besondere Expertise in der Vermittlung von Geschichte und Gegenwart sowie verschiedener Kulturen und Räume. Als Zeichen der Einheit von Gott und Mensch sowie der Einheit der Menschen untereinander könnte sie in der aktuellen Krise von Identität und Differenz eine besondere Rolle spielen. Dafür müsste sie sich aber von ihrer Fixierung auf überkommene, verhärtete und verkrustete Formen ihrer selbst lösen. Um die Verwirklichung dieser Revolution – und nichts Geringeres ist notwendig – wird in unseren Tagen in der deutschen Kirche auf dem "synodalen Weg" gerungen. Andreas Reckwitz beendet sein Buch über die Gesellschaft der Singularität mit der Forderung nach einer "zumindest provisorischen 'Rekonstruktion des Allgemeinen'" (440). Es sei an der Zeit, dem "allgegenwärtigen doing singularity" ein "politisches doing universality" entgegenzuhalten. Wir sollten dieses um ein religiöses doing catholicity ergänzen. Die Welt braucht Zeichen und Werkzeuge der Einheit und Allgemeinheit. Die katholische Kirche könnte ein solches Werkzeug sein – wenn sie sich aufrafft, wieder "katholisch" zu werden.

Von Karlheinz Ruhstorfer

Zum Autor

Karlheinz Ruhstorfer ist Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, seit 2015 Vorsitzender der Deutschen Sektion der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie. Zuletzt erschien von ihm: "Befreiung des 'Katholischen'. An der Schwelle zu globaler Identität", Herder, 256 Seiten.