Einsatz gegen Armut
Bei der Messe stand Gustavo Gutierrez, der "Vater der Befreiungstheologie", gemeinsam am Altar mit dem Glaubenshüter der katholischen Kirche, Kardinal Joseph Ratzinger, dessen Behörde diese theologische Richtung lange argwöhnisch beäugt hatte. Müller hat aus seiner Freundschaft zu dem Peruaner dennoch nie einen Hehl gemacht. Anders als andere hielt er öffentlich zu dem lateinamerikanischen Theologen - auch, als dieser in Rom unter verschärfter Beobachtung stand.
In seinem neuen Buch "Armut. Die Herausforderung für den Glauben", das jetzt auf Deutsch im Münchner Kösel-Verlag erschienen ist, legt Müller, inzwischen selbst Kardinalpräfekt geworden, erneut Zeugnis seiner engen Freundschaft mit Gutierrez ab. Dieser steuerte zwei Kapitel zu dem Werk bei. Bereits 2004 schrieben die beiden "vierhändig" den Titel "An der Seite der Armen".
Zwischen konservativem Hardliner und Befreiungstheologen
Müllers Nähe zur "linken" Befreiungstheologie irritiert Katholiken, die in ihm eher einen konservativen Hardliner sehen. Auch unter seinen Professorenkollegen stand er nicht gerade im Verdacht fortschrittlicher Umtriebe. Doch wer sich 2002 unter Theologen in Lateinamerika umhörte, erhielt zur Antwort: "Wir wissen, wie Müller bei Euch in Deutschland angeschrieben ist. Aber er kann in Rom mit Leuten sprechen, mit denen wir nicht mehr sprechen können."
Das neue Buch bietet keine systematische Abhandlung zur komplexen Armutsfrage, auch nicht zur Befreiungstheologie als solcher mit ihren vielen Verästelungen. Es beschreibt, wie es 1988 zur schicksalhaften Begegnung des deutschen Dogmatikers mit Gutierrez bei einem Seminar in Peru kam - und wie dieses Ereignis für Müllers Leben und theologisches Denken zum Wendepunkt wurde. Kurz zuvor hatte sich die Glaubenskongregation in zwei Instruktionen sehr kritisch mit der Befreiungstheologie befasst. Auch ihr Namensgeber Gutierrez stand damals unter Druck, ohne dass es zu einer Verurteilung kam.
Müller beeindruckte die Begegnung derart, dass er von da an bis 2002 jeden Sommer mehrere Wochen nach Peru reiste. Dort unterrichtete er angehende Priester und teilte in den Anden als Seelsorger das karge Leben der Campesinos - tagsüber unterwegs auf Maultierpfaden, nachts gebettet auf gestampften Lehm, in Gesellschaft von Meerschweinchen und Flöhen. Der Kardinalpräfekt plädiert für einen kompromisslosen Einsatz gegen Armut und zugleich gegen eine politisch-ideologische Vereinnahmung dieses im strengen Sinne theologischen Themas.
Müller hat sich intensiv auf den Alltag der Armen eingelassen
Das Seminar von 1988 hatte Josef Sayer eingefädelt, der damals in Lima als Pfarrer arbeitete und später Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor wurde. Sayer rechnet es Müller hoch an, dass er sich nicht nur am Schreibtisch mit der Befreiungstheologie beschäftigt, sondern auf den Alltag der Armen intensiv eingelassen hat. Auch er hat für das Buch ein Kapitel geschrieben.
Als Regensburger Bischof war Müller noch dreimal in Peru. 2008 empfing er die Ehrendoktorwürde der päpstlichen Universität Lima. Deren Leitung lag bereits damals im Clinch mit dem Erzbischof von Lima, Juan Luis Cipriani. Cipriani hat einmal bemerkt, Müller sei zwar ein guter deutscher Theologe, aber "ein bisschen naiv" in Sachen Befreiungstheologie. In Rom setzte Cipriani alles daran, Müllers Beförderung an die Spitze der Glaubenskongregation zu verhindern.
In Zeiten des Kalten Krieges waren solche Interventionen ein probates Mittel. Bei Benedikt XVI., der die Theologie der Befreiung durchaus skeptisch sah, verfingen solche Stimmen indes nicht. Ratzinger holte Müller nach Rom. Schon vorher hatte er die Ermittlungen der Glaubenskongregation gegen Gutierrez eingestellt. Dabei vertraute er laut Sayers Darstellung "auf die Stimme und die Einschätzung von Gerhard Ludwig Müller". Am 5. Mai wird der Kardinal sein Buch, versehen mit einem Geleitwort von Papst Franziskus, vor der Bundespressekonferenz in Berlin vorstellen.
Von Christoph Renzikowski (KNA)