Worum es in den Synodalforen geht – Forum "Priesterliche Existenz"

Jesuit Kessler: Müssen kreative Formen des Priestertums ausprobieren

Veröffentlicht am 29.09.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ Das Priesterbild sei bis heute stark vom vormodernen Standesdenken geprägt, sagt der Jesuit Stephan Kessler im Interview. Um Gott in der Welt sichtbar zu machen, müsse die Kirche ihre Gegenkultur verlassen und kreative Formen des Priestertums wagen. Das Synodalforum sieht er da erst am Anfang.

  • Teilen:

Der Jesuit Stephan Kessler ist Mitglied des Forums II beim Synodalen Weg zum Thema "Priesterliche Existenz heute". An der Notwendigkeit eines sakramentalen Priestertums hält er grundsätzlich fest. Um seine Aufgabe in der heutigen Zeit erfüllen zu können, brauche es aber innovative Lebensformen und den Mut, Gott außerhalb der eigenen Kultur zu suchen, erklärt der Leiter der Kunst-Station Sankt Peter in Köln im Interview. Den Grundtext des Priesterforums hält er deshalb für zu dogmatisch.

Frage: Pater Kessler, Initialzündung für den Synodalen Weg war die MHG-Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche. Darauf nimmt auch der Grundtext, den das Priester-Forum für die kommende Synodalversammlung vorlegt, Bezug und spricht von einer "Kollektivscham" unter den Priestern. Erleben Sie diese auch und wie wirkt sich das auf die Beratungen aus?

Kessler: Der Ausgangspunkt dieses gemeinsamen Weges ist die Einsicht, dass sich die Kirche mit ihrem hierarchischen System nicht selbständig aus ihrem missbräuchlichen Handeln befreien kann. Wir sind als Kirche schuldig geworden. Vor dem Gefühl der Scham steht die Kollektivschuld einer Organisation von Tätern. Priester haben in ihrer Funktion Menschen verwundet und verletzt. Dass das nicht gesehen und verhindert wurde und wird – da durchlebe ich Ohnmacht, Schmerz und manchmal Wut. Als Priester frage ich mich natürlich auch persönlich, inwieweit ich selber womöglich ebenfalls überklerikale Bilder betont habe, die ein Missverständnis zwischen Christus und der priesterlichen Repräsentationsfigur ermöglicht haben? Heute kann ich die Kirche nicht mehr so verteidigen wie früher. Aber das ist gut so.

Frage: Wenn die Kirche aus ihren missbräuchlichen Strukturen nicht aus eigener Kraft herauskommt, kann ein interner Beratungsprozess wie der Synodale Weg dann überhaupt eine Lösung sein?

Kessler: Der Synodale Weg ist keine Patentlösung, aber hoffentlich ein Teil einer Lösung. Als erster Schritt ist er unerlässlich. Es gibt ja viel Kritik an diesem Weg, auch innerkirchlich. Das eigentliche Novum ist, dass die hierarchisch verfasste Kirche nicht mit sich selbst, sondern zum ersten Mal auf Augenhöhe mit nichtgeweihten Vertretern der Gläubigen, also den sogenannten Laien, mit Überlebenden des Missbrauchs und mit Ausgegrenzten berät, arbeitet und spricht. Hier wird eine Form eines ständischen Klerikalismus übersprungen, der Machtmissbrauch begünstigt. Der Synodale Weg soll zeigen und er zeigt, wo die Kirche Neues wagen muss. Dazu könnte der Grundtext, den wir im Forum "Priesterliche Existenz heute" verfasst haben, noch sehr viel mutiger sein. Aber es ist ein bescheidener erster Schritt, der sehr divergierende Positionen zusammenbringt.

„Wir leben kirchlich vielfach in einem selbstgewählten Ghetto aus Ideen des 19. Jahrhunderts, die zur Aufrechterhaltung des Dienstes verteidigt werden, die aber undemokratisch, ausgrenzend und nicht freiheitlich sind.“

—  Zitat: Stephan Kessler

Frage: Braucht die Kirche neben dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen überhaupt noch ein besonderes, sakramentales Priestertum?

Kessler: Sie braucht es nicht neben dem Priestertum aller Getauften, sondern sie braucht es mittendrin im priesterlichen Volk Gottes. Der Priester hat den Auftrag, mich als Gläubigen zu meiner priesterlichen, prophetischen und königlichen Sendung zu befähigen – das sind natürlich sehr hymnische Begriffe der Tradition. Aber es geht um die ganz persönliche Würde und Mündigkeit des Christenmenschen, die uns zugesagt werden muss, weil wir es nicht aus uns selber haben. Christen brauchen dieses Empowerment, dass Gott in der Mitte ist und uns zu Neuem ermutigt. Das ist die eigentliche, biblisch fundierte Aufgabe des Priesters, den Dank, den Mut vervielfachen.

Theologisch spricht man hier verharmlosend vom Priestertum des Dienstes. Ich verwende den Ausdruck eigentlich nicht so gerne. Denn zu oft verbirgt sich hinter dem Wort Dienst in der Kirche ein Machtanspruch. Und das Problem ist ja, dass diese sogenannten Dienste in unserer Gesellschaft nicht mehr als hilfreicher Dienst wahrgenommen werden. Wir leben kirchlich vielfach in einem selbstgewählten Ghetto aus Ideen des 19. Jahrhunderts, die zur Aufrechterhaltung des Dienstes verteidigt werden, die aber undemokratisch, ausgrenzend und nicht freiheitlich sind. Ein wirklicher sakramentaler Dienst muss das Gegenteil bewirken: Freiheit der Entscheidung und inkludierende Weite – das ist genuine Katholizität.

Frage: Ist der Priester dann so etwas wie ein spiritueller Animateur?

Kessler: Das ist zumindest etwas, was dem Priestertum heute vielfach fehlt: Spiritualität und etwas Animierendes. Priester sind in unseren Breiten mehr zu amtlichen Trägern einer Verwaltungsstruktur geworden. Weil sie von diesem System leben, verteidigen sie es letzten Endes, obwohl sie daran leiden. Dabei müsste vor dem Tun das Hören stehen – nämlich: Wo sagt Gott heute sein Wort, wo spricht er es in unserer säkularen Welt aus? Das kann in den Künsten sein, in den Wissenschaften, in gesellschaftlicher Solidarität. Aber das alles sehen wir als Kirche kaum. Das ist neben Liturgie und den anderen wichtigen Dingen ein zentraler Aspekt des Priestertums: Aus einer personalen geistlichen Erfahrung in der Gegenwart präsent zu sein – bei den Menschen, besonders den marginaliserten. In diesem Zusammenhang hat sich auch das Ausbildungssystem der Priester für heutige Ansprüche als zunehmend dysfunktional erweisen.

Frage: In Frankreich gibt es Versuche, die Priesterausbildung stärker in die Pfarreien zu verlagern. Halten Sie das für ein zukunftsfähiges Modell?

Kessler: Ehrlich gesagt, nein. Ich halte das für nicht wirklich zielführend, weil mehrheitlich ein vergangenes Priesterbild angestrebt wird. Natürlich wird durch die Nähe zu den Gemeinden ein besserer Bezug zu den Menschen gewährleistet. Aber letztlich sind diese Modelle doch auf klassische Pastoral ausgerichtet. Für den deutschsprachigen Kontext kann ich da wenig Zukunftsweisendes entdecken.

Der Jesuit Stephan Kessler
Bild: ©privat

Der Jesuit Stephan Kessler ist Mitglied im Forum II des Synodalen Wegs "Priesterliche Existenz heute". Als Regens leitete er viele Jahre das überdiözesane Priesterseminar Sankt Georgen und war Dozent an der dortigen Hochschule. Seit 2017 ist er Pfarrer an der Kunst-Station Sankt Peter in Köln.

Frage: Was schlagen Sie stattdessen vor?

Kessler: Keine Ärztin und kein Lehrer oder Anwalt wird schon während des Studiums berufsverbandlich so eng begleitet wie Kandidaten für das Priesteramt. Diese sollten wie alle vergleichbaren Professionen ihre studentische Ausbildung ganz normal und vor allem gut absolvieren – ohne betreutes Wohnen. Wenn sie akademisch qualifiziert sind, können sie sich bewerben. Und in die anschließende Phase der geistlichen und praktischen Bewährung gehören dann Seminareinheiten, die einüben, was das Priesteramt unter den gegebenen Bedingungen sein kann – eben nicht als Absonderung in eine andere Kaste, sondern Verkündigung aus geistlicher Erfahrung und persönlicher Kompetenz.

Frage: Das Priestertum hat längst nicht mehr nur in der säkularen Welt, sondern auch innerhalb der Kirche ein Akzeptanzproblem. Ließe sich diese Akzeptanz steigern, wenn die herausgehobene Stellung des Priesters nicht exklusiv auf zölibatäre Männer beschränkt wäre?

Kessler: Die Analyse der MHG-Studie hat die lebensverneinenden Machtstrukturen in der Kirche schonungslos offengelegt und uns gleichzeitig die Chance zur Veränderung aufgezeigt. Ich wünsche mir, dass wir uns als katholische Kirche in Deutschland nicht mehr nur an die zölibatäre Lebensform der Priester klammern. Das ist eine Form, die definitiv ihre Berechtigung hat, aber als zwingendes Standesmerkmal ist sie zu einem Zeichen verkommen, das nicht mehr verstanden und auch immer schwerer lebbar wird. Ich wünsche mir auch, dass wir mit den vielen Priestern, die ihr Amt aufgegeben haben, in einen lebendigen Dialog treten, um zu schauen, was sie uns in ihren neuen Beziehungen und Berufen zu sagen haben. Und dass wir nach neuen Formen Ausschau halten.

Als Kirche vergeuden wir so viel Potenzial von Frauen und Männern, die uns mit so großer Kompetenz und Weitsicht bereichern könnten. Wir bleiben nur bei unserem ständischen, männerbündischen Klan. Das wird sich ändern müssen. Natürlich sind wir eine Weltkirche und sollten partout nicht am deutschen Wesen die ganze Welt genesen lassen. Aber mit unserer Kompetenz in Theologie und mit unserer guten Verwaltung – einer Stärke, an der wir jedoch manchmal fast ersticken – sollten wir Perspektiven aufzeigen und kreative Wege ausprobieren. Ich wünsche mir neue Dienstämter, die mit Sakramentalität, mit Spiritualität und mit Autorität gefüllt sind. Als Kirchenhistoriker weiß ich, die Kirche war immer lebendig genug, ihre Ämterstruktur entsprechend den Bedingungen neu zu konzipieren.

„Priesterausbildung ist im Grunde genommen bis heute eine Standesausbildung geblieben, obwohl eine Ständegesellschaft spätestens seit der Französischen Revolution nicht mehr existiert. Wegen solcher antimodernen Reflexe verliert das Priestertum in unserer Gesellschaft Relevanz und Akzeptanz.“

—  Zitat: Stephan Kessler

Frage: Der Grundtext Ihres Forums rekurriert viel auf die Volk-Gottes-Theologie des Zweiten Vatikanums. Dass dieses Miteinander von Priestern, Bischöfen und Gläubigen so stark betont wird, zeigt aber doch, dass es bis heute offensichtlich nicht ausreichend umgesetzt wurde. Woran liegt das?

Kessler: Das ist schwer zu sagen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat viele Dinge grundsätzlich und mutig neu gedacht. Es hat den Papst, der durch die Unfehlbarkeitserklärung etwas aus dem Rahmen gefallen ist, wieder in die Kirche eingebunden. Das Kollegium der Bischöfe wurde gestärkt. Es hat den Diakonat neu aktiviert und dem Volk Gottes eine eigene Würde zugesprochen. Nur für die Erneuerung des Priestertums hatte man zuletzt keinen Mut mehr übrig.

Priesterausbildung ist im Grunde genommen bis heute eine Standesausbildung geblieben, obwohl eine Ständegesellschaft spätestens seit der Französischen Revolution nicht mehr existiert. Wegen solcher antimodernen Reflexe verliert das Priestertum in unserer Gesellschaft Relevanz und Akzeptanz. Da hat es beim Konzil und der späteren Umsetzung einfach am Mut zu springen gefehlt. Und man darf sich auch nicht täuschen, dass die Sehnsucht nach der identitätsstärkenden Seite des Amtes bis heute anziehend ist. Aber ich finde, das Öffentlich-Werden der unfassbaren Missbrauchsfälle ist das Signal, endlich andere Formen dieses Dienstes zu erproben – meinetwegen nicht für die ganze Kirche, aber wenigstens für unseren Kulturkreis. Heute ist vielmehr ein bewegliches, eher kultur- als kultorientiertes Priestertum gefragt. Das Volk Gottes wartet nicht auf Statthalter bischöflicher Macht in den einzelnen Gemeinden vor Ort.

Frage: Wie muss ein Priestertum demnach aussehen, um unserer überwiegend säkularen Gesellschaft gerecht zu werden?

Kessler: In einer postindustriellen und digitalisierten Welt mit ihrer stark medialen Kultur wird das Priestertum demütig und klein sein müssen. Die Selbstverständlichkeit einer Volkskirche, zu der alle oder viele dazugehören, ist vorbei. Die Nachkriegszeit brachte noch einmal ein Aufleben kirchlicher Strukturen: Kirche wurde mächtig und diese Macht vielfach missbraucht. Auch wenn die Zeiten vorbei sind, hat es bis heute den Anschein, dass eine stetig kleiner werdende Gruppe immer noch um Anerkennung und gesellschaftlichen Einfluss buhlt.

An der Kunst-Station Sankt Peter in Köln erleben wir im Umgang mit zeitgenössischer Kunst und Neuer Musik, dass Gott in der Gegenwart präsent ist. Durch den Verzicht auf Mission ist diese Gemeinde missionarisch. Ich glaube, dass Priester neu lernen müssen, absichtslos präsent zu sein. Die Gesellschaft sucht priesterliche Menschen – Laien wie Kleriker –, die als mitfühlende Zeitgenossen da sind und nichts "verkaufen". Dann kommen automatisch existentielle Fragen, für die der Glaube Antworten anbietet. Dagegen suchen wir auch im Priesterforum noch zu sehr eine kirchliche Gegenkultur zur säkularen Welt. Es geht darum, den Sprung zu wagen, und da ist die Textvorlage unseres Forums noch viel zu dogmatisch und zu sehr an den richtigen Aussagen orientiert. Aber wir sind aufgebrochen!

Von Moritz Findeisen