Ein Freispruch Woelkis – aber mit Auflagen
Von einer "episkopalen Amtsgarantie" sprach der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff in einem Kommentar zum Umgang von Papst Franziskus mit Rücktritten. Mit Blick auf die Weltkirche stimmt das nur zum Teil: Einige Bischöfe mussten im Zuge der Missbrauchsaufarbeitung ihren Bischofsstuhl räumen. Mit Blick auf die Situation in Deutschland sieht das anders aus: Der Rücktritt von Kardinal Reinhard Marx – ohne konkret nachgewiesene Verfehlungen, die Aufarbeitung im Erzbistum München und Freising und seiner vorigen Diözese Trier stehen noch aus – wurde abgelehnt, mit einem lobenden Papstbrief. Das Gesuch des Hamburger Erzbischofs Stefan Heße, das dieser nach Vorstellung des Kölner Missbrauchsgutachtens sofort eingereicht hatte: abgelehnt, mit einem mahnenden, aber wertschätzenden Brief. Beide Schreiben danken für die Demut der Bischöfe. Wer sich erniedrigt, wird von Papst Franziskus erhöht.
Und nun also auch Kardinal Rainer Maria Woelki, der zwar jüngst zu Protokoll gab, über Rücktritt nachgedacht zu haben, diesen aber stets mit Verweis auf seine Bitte an den Papst um Klärung der Situation zurückgewiesen hatte. Auch die beiden Weihbischöfe Dominikus Schwaderlapp und Ansgar Puff bleiben im Amt, der erste mit abgelehntem Rücktrittsgesuch, der zweite nach einer zeitweisen Entpflichtung ohne Rücktritt. Bis zuletzt war es offen, welche Schlüsse der Papst aus den Ergebnissen der von ihm angeordneten Visitation ziehen würde. Die beiden päpstlichen Kontrolleure aus Rotterdam und Stockholm waren zwar nur kurz im Erzbistum: Angesichts der bekannt gewordenen Gesprächspartner dürften sie aber einen guten Einblick über die offenkundige Zerrissenheit der Erzdiözese erhalten haben. Die Mitteilung des Heiligen Stuhls zur Entscheidung des Papstes spricht von einer "Vertrauenskrise", die "viele Gläubige verstört" habe.
Kein Fehlverhalten bei Kardinal Woelki
Das von Woelki beauftragte Gutachten der Kanzlei Gercke und Wollschläger hatte ihm zwar kein nachweisbares Fehlverhalten attestiert. Mit Amtsantritt Woelkis hatte sich ausweislich des Gutachtens zwar einiges zum Besseren gewendet, anscheinend gab es tatsächlich mit ihm als Erzbischof einen größeren Stellenwert für Opfer- statt Täterschutz. Das würdigt auch der Papst ausdrücklich: "Die Entschlossenheit des Erzbischofs, die Verbrechen des Missbrauchs in der Kirche aufzuarbeiten, sich den Betroffenen zuzuwenden und Prävention zu fördern, zeigt sich nicht zuletzt in der Umsetzung der Empfehlungen der zweiten Studie, mit der er bereits begonnen hat", heißt es in der Mitteilung des Heiligen Stuhls.
Die Unzufriedenheit mit der Amtsführung des Kardinals konnte das jedoch nicht beruhigen, wenn es überhaupt bemerkt wurde: Von den Gläubigen in den Gemeinden über die Verbände der Laien und Vertretungen des pastoralen Personals bis hin zu einem Großteil der Stadt- und Kreisdechanten reichten die öffentlichen Missfallensäußerungen an der Lage; der Diözesanrat der Katholiken kündigte die Mitarbeit am "Pastoralen Zukunftsweg" auf, im Diözesanpastoralrat wurde kontrovers gestritten. Immerhin die verbliebenen Mitglieder des diözesanen Betroffenenbeirats stehen treu zu Woelki – freilich nach einigen Rücktritten aus Protest am Umgang mit dem Beirat und dem ersten Gutachten.
Die Frage nach der organisatorischen Gesamtverantwortung blieb. Mit Veröffentlichung des zweiten Gutachtens schnell kassierte Akteure wie der langjährige Offizial Günter Assenmacher waren schließlich auch unter Woelki weiterhin tätig. Kontrovers wurde in der Öffentlichkeit und unter Juristen die Frage nach der Anwendung der rechtlichen Figur der "Geschäftsherrenhaftung" diskutiert, also ob und wie Fehlverhalten der Untergebenen der obersten Leitung zuzurechnen seien. Mit Blick auf die vatikanischen Richtlinien wurde insbesondere die Frage gestellt, ob Woelkis unterlassene Meldung im Fall von "Pfarrer O." vom Kirchenrecht gedeckt war. Während die Richtlinien der Bischofskonferenz das Vorgehen Woelkis wohl deckten, aufgrund der fortgeschrittenen Demenz des mutmaßlichen Täters auf eine Meldung nach Rom zu verzichten, sieht das universale Kirchenrecht eine bedingungslose Meldepflicht vor, wie der Bonner Kanonist Norbert Lüdecke im Februar gegenüber katholisch.de betonte: "Der Wortlaut sagt, es ist ausnahmslos zu melden – auch bei Verjährung, auch bei Demenz des Täters." Der Heilige Stuhl kam offensichtlich zu einer anderen Bewertung, ohne sich je explizit zu diesem Sachverhalt zu äußern.
Zu großer Fokus auf rechtliche Pflichtverletzungen?
Kritisch diskutiert wurde auch die Frage, ob das Gercke-Gutachten die Frage nach der Verantwortlichkeit nicht zu sehr auf eine juristische Bewertung unter Ausklammerung einer moralischen Verantwortung reduziert habe. Der federführende Rechtsanwalt Björn Gercke wies derartige Kritik stets zurück. Eine moralische Bewertung stehe den juristischen Gutachtern nicht an. Die Frage nach der Mitwisserschaft verschiedener Akteure, darunter Woelki selbst, die in ihrer Zeit als Geheimsekretär des Erzbischofs oder Weihbischof keine Entscheidungsbefugnis hatten, blieb so jedoch offen. Die Rolle der Weihbischöfe – zu denen Woelki vor seiner Berufung als Erzbischof von Berlin von 2003 bis 2011 gehörte – bewerteten die Gutachter als marginal. Immer wieder wird in Aussagen von Befragten im Gutachten betont, dass sie trotz ihrer Beteiligung in der Personalkonferenz des Erzbistums keine Entscheidungsbefugnis haben: "Die Gutachter haben auch darauf verzichtet, Weihbischöfe namentlich zu benennen, da ihnen nach Maßgabe des kanonischen und weltlichen Rechts keine Pflichten oblagen und sie auch in tatsächlicher Hinsicht – wie auch in den Anhörungen bestätigt – über keine Entscheidungskompetenzen verfügten." Das ist in einer klerikalen Ständekirche nur schwer zu vermitteln, die ansonsten Wert darauf legt, dass Priester sich aufgrund ihres besonderen Priestertums "dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach" von Laien unterscheiden (Dogmatische Konstitution Lumen Gentium 10) und allein wirklich leiten können. Diese Diskrepanz zwischen juristischer Verantwortung und dogmatischer Verfassung des Bischofsamts dürfte zum Unverständnis über die Bewertungen der Lage beigetragen haben.
Für den Papst spielten solche Einwände aber keine Rolle. Auf der rechtlichen Ebene sieht Rom Kardinal Woelki als vollumfänglich rehabilitiert an, und in einem ersten Schritt genügt das. Es habe sich "kein Hinweis darauf ergeben, dass er im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs rechtswidrig gehandelt" habe. Das Zurückhalten der ersten Studie der Münchner Kanzlei WSW sei keine Vertuschung gewesen. Auf die Frage nach der Meldepflicht im Fall des Pfarrers O. geht das kurze Schreiben nicht ein, aus der umfassenden Rehabilitierung darf aber wohl geschlossen werden, dass der Vatikan das Handeln des Kardinals auch hier als rechtmäßig erachtet. Die Linie des Gercke-Gutachtens, Versäumnisse strikt nach juristischen Maßstäben zu bewerten und anders als die neben Köln in weiteren Bistümern mit der Aufarbeitung von Missbrauch beauftragte Kanzlei WSW eine Bewertung von juristisch nicht fassbarer Führungsverantwortung außen vor zu lassen, dürfte damit von höchster Ebene bestätigt worden sein. Die Methode Gercke bleibt weiterhin der Goldstandard unter den Aufklärungsstrategien, misst man von der Wirkung her.
Politische Rücktritts-Logik zählt für den Papst nicht
Die aus der Politik bekannte Logik, dass die politische Führung durch Rücktritt für Versäumnisse im Haus Verantwortung übernehmen muss, ist Papst Franziskus offensichtlich fremd. Die bisher angenommenen Rücktritte und angeordneten Amtsenthebungen, etwa in Polen, Chile oder im Fall des mittlerweile aus dem Klerikerstand entfernten Ex-Kardinals Theodore McCarrick, sind Fälle, in denen Bischöfe als direkte Täter oder aktive Vertuscher agiert haben. Bloße Versäumnisse genügen nicht, wie die Fälle Schwaderlapp, Puff und Heße zeigen: In allen Fällen betont die Mitteilung aus Rom den fehlenden Vorsatz. Organisatorische Mängel und Verfahrensfehler genügen nicht als Rücktrittsgrund; selbst die im Gercke-Gutachten geschilderte Einrichtung eines informellen Beratergremiums an den kirchenrechtlich oder von der Aufbauorganisation der Bistumsverwaltung vorgesehenen Strukturen vorbei durch Generalvikar Schwaderlapp wurde offensichtlich nicht als aktiver, rücktrittswürdiger Verstoß gesehen.
Verantwortung zeigt sich für den Papst in Demut und Umkehrbereitschaft, wie im Schreiben an Heße zu lesen ist. Zwar hatte sich Heße laut Gutachten unbestritten mehrere Pflichtverletzungen zuschulden kommen lassen. Das Fehlen von Vertuschungsvorsatz und vor allem der Umgang Heßes mit seinen Fehlern – wenngleich erst nach Veröffentlichung des Gercke-Gutachtens, und nicht bereits in den Wochen zuvor, als Medien detailliert Versäumnisse aufgedeckt hatten – gaben für den Papst den Ausschlag. "In Anbetracht der Tatsache, dass der Erzbischof seine in der Vergangenheit begangenen Fehler in Demut anerkannt und sein Amt zur Verfügung gestellt hat, hat der Heilige Vater, nach Abwägung der über die Visitatoren und durch die einbezogenen Dikasterien der Römischen Kurie zu ihm gelangten Bewertungen, entschieden, den Amtsverzicht S.E. Mons. Heßes nicht anzunehmen, sondern ihn zu bitten, seine Sendung als Erzbischof von Hamburg im Geist der Versöhnung und des Dienstes an Gott und den seiner Hirtensorge anvertrauten Gläubigen fortzuführen", hieß es in der Mitteilung der Apostolischen Nuntiatur in Berlin, mit der Mitte September die Entscheidung mitgeteilt wurde.
Zu diesem Zeitpunkt standen die Entscheidungen über die amtierenden Kölner Bischöfe noch aus. Unweigerlich wurde die Entscheidung Heße auf ihre Bedeutung für die weiteren Bischöfe hin gelesen, denen sich die Visitatoren gewidmet hatten: War die Betonung von Demut und Rücktrittsbereitschaft ein Verweis darauf, dass genau das bei Woelki fehle? Schließlich hatte er einen Rücktritt immer kategorisch ausgeschlossen. Wenn bei Heße dessen Versäumnisse in einen "größeren Kontext der Verwaltung der Erzdiözese" eingebettet waren, wie das Schreiben feststellt: Ist der größere Kontext die Verantwortung des Diözesanbischofs?
Das beklagte Organisationsversagen, die Mängel in der Arbeitsweise des Generalvikariats werden nun jedenfalls nicht den drei amtierenden Bischöfen angelastet, eine Verantwortung ihrer teilweise schon verstorbenen Vorgänger steht im Kontext der aktuellen Entscheidung nicht zur Debatte. Auch wenn es keine pauschale "episkopale Amtsgarantie" gibt, der Job bleibt einigermaßen sicher. Das hat man sicherlich auch erleichtert in den Bistümern zur Kenntnis genommen, deren Veröffentlichungen von Gutachten noch ausstehen. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Fall für das Erzbistum Köln und insbesondere für Kardinal Woelki schon ausgestanden ist.
Jetzt kommt es auf die Versöhnung Kölns an
Die vom Papst gewährte "Auszeit", dem Vernehmen nach auf eigenen Wunsch Woelkis, erinnert unweigerlich an einen anderen Fall aus der Kölner Kirchenprovinz: Auch der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst wurde zunächst in eine Auszeit geschickt, wenngleich unter anderen Vorzeichen: Die Untersuchung der Amtsführung des Bischofs im Kontext der Renovierung seines Bischofssitzes lag zum Zeitpunkt der Auszeit noch nicht vor, im Gegensatz jetzt zum Gercke-Gutachten. Das Limburger Gutachten zeigte Mängel bei der bischöflichen Amtsführung auf, das Kölner Gutachten entlastete den Diözesanbischof. Die ungleichen Parallelen der Fälle zeigt auch der jetzige Limburger Bischof Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sichtlich skeptisch in seiner ersten Stellungnahme auf: "Die Entscheidung zu Kardinal Woelki erinnert mich in manchem an das römische Vorgehen im Blick auf meinen Amtsvorgänger in Limburg", so Bätzing. Viel hänge davon ab, wie Woelki seine Auszeit nutze. "Es braucht – auch von ihm – Gesprächs- und Mediationsangebote, um Chancen und Perspektiven zu finden", teilte der DBK-Vorsitzende mit. Das klingt nach gutem brüderlichen Rat. Öffentliche Ratschläge unter Bischöfen sind aber selten: Es ist ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang, dass ein DBK-Vorsitzender (und Bischof eines Kölner Suffraganbistums) dem Metropolitien seiner Kirchenprovinz so die Richtung weist. Auch für die Bischofskonferenz ist der Vorgang noch nicht ausgestanden.
Dem Papst ist an Frieden und Versöhnung in Köln gelegen. Das ist der klare Auftrag, den Kardinal Woelki in seiner Auszeit und Weihbischof Steinhäuser in seiner Zeit als Interims-Bistumsleiter zu erfüllen haben. Ob das gelingt, ist angesichts der großen Gräben, die das Kölner Erzbistum durchziehen, alles andere als ausgemacht. Woelki bleibt im Amt, rechtlich rehabilitiert. Bischof Tebartz-van Elst musste aber nicht gehen aufgrund konkret nachgewiesener Vergehen und angeblicher goldener Badewannen. Tebartz musste gehen, weil es "zu einer Situation gekommen ist, die eine fruchtbare Ausübung des bischöflichen Amtes […] verhindert", teilte der Vatikan damals mit. Ob auf die Auszeit Woelkis der Rest seiner Amtszeit in Köln folgt, hängt von der päpstlichen Beurteilung seiner Versöhnungsleistung ab.