Pastorale Evaluation: Wann ist Seelsorge erfolgreich?
Steigende Austrittszahlen, sinkende Steuereinnahmen und immer weniger Gläubige in den Gottesdiensten: Die Kirche befindet sich mitten in einer Krise, die durch grundlegende gesellschaftliche Veränderungen und den Vertrauensverlust infolge des Missbrauchsskandals ausgelöst wurde. Die Bischöfe und die Verantwortlichen in den Diözesen, Pfarreien und kirchlichen Einrichtungen müssen schon jetzt – und zukünftig in noch größerem Maße – richtungsweisende Entscheidungen treffen, wie mit den immer knapper werdenden Ressourcen an Personal und Finanzen umgegangen werden soll. Dafür benötigen sie Kriterien, die ihnen bei diesen Entschlüssen helfen. Für den Bereich der Seelsorge hat es sich das Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) der Universität Bochum zur Aufgabe gemacht, den kirchlichen Entscheidern bei dieser Herausforderung zur Seite zu stehen – indem es pastorales Handeln evaluiert.
Miriam Zimmer leitet das Kompetenzzentrum Pastorale Evaluation am zap. Die Soziologin und Religionswissenschaftlerin erzählt, dass mehrere Bistümer auf das Bochumer Forschungszentrum zugekommen sind: "Sie wollten wissen, wie Erfolg in der pastoralen Arbeit gemessen und bewertet werden kann", so Zimmer. Schließlich war das Interesse der Diözesen und weiterer kirchliche Akteure an dem Thema so groß, dass 2019 ein eigenes Kompetenzzentrum gegründet wurde. Dessen Leiterin macht als Grund der wachsenden Begeisterung für das Thema "Pastorale Evaluation" nicht nur die aktuelle Kirchenkrise aus: "Die Erwartung von hoher Qualität bei Dienstleistungen ist in der Gesellschaft angestiegen, das macht auch vor der Kirche nicht halt." Im kirchlichen Denken herrsche bis heute jedoch eher eine Verwaltungskultur vor – das sei noch nie erfolgversprechend gewesen, so Zimmer. Früher hätten Mitgliedschaft und Engagement in der Kirche eine größere Selbstverständlichkeit gehabt, während sie heute eine bewusste Entscheidung darstellten, die auch mit der Qualität der Pastoral zusammenhänge. Der Dienstleistungsgedanke sei längst besser von der säkularreligiösen Konkurrenz, wie den Veranstaltern freier Hochzeiten oder Trauerfeiern, übernommen worden. Letztlich wolle sich das Kompetenzzentrum durch seinen Beitrag zur Anhebung der pastoralen Qualität in den Dienst einer "progressiven Kirchenentwicklung" stellen: "Wir helfen der Kirche dabei, einen ihrer grundlegenden Dienste zu erfüllen: für die Menschen da zu sein."
Matthias Sellmann, Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie in Bochum sowie Gründer und Leiter des zap, sieht den Umbruch in der Pastoral als einen weiteren Faktor, der zum großen Interesse an der Evaluation der Seelsorge beiträgt. "Die Berufsbilder des Priesters und der hauptamtlichen Laien-Seelsorger verändern sich derzeit radikal", so Sellmann. Diese Berufsgruppen müssten in neue Rollen hineinfinden, wie etwa Pastoralreferentinnen als Leiterinnen von Kirchengemeinden. "Hier gibt es eine große Unsicherheit, die die Bistumsleitungen durch einen Gesamtüberblick zu diesem Thema abbauen wollen", sagt Sellmann. Die am Kompetenzzentrum betreuten Projekte seien daher äußert vielfältig: Sie reichten von der Evaluierung der Ausbildung von Ehrenamtskoordinatoren über ein Umfrage-Tool zu Wünschen der Gläubigen angesichts des Synodalen Wegs bis hin zu einem internationalen Projekt des Bonifatiuswerks, bei dem dessen Partner ihre geförderten Initiativen online bewerten lassen können, um aus gemachten Fehlern und erzielten Erfolgen zu lernen.
Pilotprojekt zur Evaluation der Pastoral im Bistum Speyer
Thomas Kiefer leitet die Abteilung Seelsorge in Pfarrei und Lebensräumen im Bischöflichen Ordinariat Speyer und ist für den Kontakt des Bistums zum zap zuständig, denn die Diözese lässt seit April vom Kompetenzzentrum ihre Pastoral evaluieren. "Die Idee dazu kam aus der Bistumsleitung", verrät der promovierte Theologe. "Das Projekt ist in einer Spannung zwischen der Sorge um die Qualität der Pastoral und dem Wunsch nach einem sinnvollen Einsatz der personellen sowie finanziellen Ressourcen in der Zukunft entstanden." In drei Pfarreien sowie je einem pastoralen Ort in der Krankenhausseelsorge und der Jugendarbeit reflektieren die Seelsorger mit Unterstützung des zap die Qualität ihrer Arbeit. Die Leitfrage ist dabei, ob die aktuelle Pastoral überhaupt die Menschen anspricht, an die sie sich richtet. "Man muss sich dabei auch bewusst machen, dass das eventuelle Weglassen von nicht erfolgreichen Angeboten eine Entlastung sein kann, die Kraft und Zeit für andere Aktivitäten bietet", gibt Kiefer zu bedenken.
An den fünf Pilotorten können die Seelsorger einen selbstgewählten Aspekt ihrer Arbeit evaluieren lassen, etwa die Arbeit im Pfarrbüro, die Wahrnehmung der Seelsorge im Krankenhaus oder die Predigt. Dabei sind auch die Methoden der Rückmeldung unterschiedlich: "In einer Gemeinde können die Gläubigen durch einen Klick auf ein Tablet angeben, wie sie die heutige Predigt empfunden haben", sagt Kiefer. Es sei ein Wunsch der Bistumsleitung, dass die Seelsorger die Evaluation nicht als bloßes "Top-Down-Instrument" der Kontrolle begreifen würden, sondern als Unterstützung für ihre Arbeit. "Denn letztlich steht hinter der Frage nach der Qualität der Anspruch der Kirche, etwas vom Reich Gottes erfahrbar machen zu können", so Kiefer. Im kommenden Jahr werde es eine erste Auswertung des bisherigen Projekts geben und danach vielleicht eine Ausweitung auf weitere Kirchengemeinden und andere pastorale Orte. Das setze jedoch voraus, dass sich die Evaluierungsinstrumente an den Pilotorten bewährten. "Hier sind wir noch auf einem gemeinsamen Lernweg."
Bei aller Begeisterung für die pastorale Evaluation, die auch Kiefer teilt, gibt es ebenso kritische Stimmen aus den Reihen der Seelsorger. Pastoral lasse sich nicht in Zahlen messen und die Wirkung von Seelsorge sei vielleicht erst in mehreren Jahren zu sehen, beschreibt Kiefer Einwände, die er in Speyer zu hören bekommt. "Doch der Blick auf die nackten Zahlen hat eine große Bedeutung, denn nur so können wir die Dinge ehrlich ansehen." Auch Sellmann kennt Vorbehalte wie diese: "Evaluation sei eine Entwertung von pastoraler Arbeit oder markiere die Auslieferung der Kirche an einen marktförmigen Zeitgeist", nennt der Pastoraltheologe einige Beispiele, die er oft höre. Dabei zeigt er sogar Verständnis für die Skeptiker: "Subjektiv haben sie Recht, aber nicht objektiv." Zimmer erklärt, dass hinter dieser Ansicht unterschiedliche Kirchenbilder stehen: "Einige sehen in Kirche eine zeitlose Größe, die sich unabhängig von Trends und äußeren Umständen machen muss. Doch wir glauben, dass sie sich in den Dienst aller stellen sollte und ihr Wirken daher immer wieder neu ausrichten muss." Seelsorger hätten den Wunsch, durch ihre Arbeit etwas bewirken zu können. "Darin wollen wir sie unterstützen."
In den USA ist pastorale Evaluation selbstverständlich
Auch wenn ihr klar sei, dass man nicht alles "zwischen Himmel und Erde" messen könne, habe die pastorale Evaluation doch eine wichtige Bedeutung, so Zimmer weiter. Die Kirche müsse in Zukunft handfeste Entscheidungen treffen und vor Ort gute pastorale Arbeit wahrnehmbar machen. Hierzu sind die zu erhebenden Daten ein wichtiger Baustein von mehreren. "Es heißt schon in der Bibel: 'An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.'" Bereits im Wort Evaluierung stecke die positive Feststellung, dass man den Dingen einen "Wert" beimesse, erklärt Sellmann die Arbeit des zap. "Wir nehmen ernst, dass seelsorgliche Arbeit wichtig ist und sich bewähren will." Studien hätten gezeigt, dass etwa 85 Prozent der Qualität kirchlicher Angebote an der Seelsorge in den Pfarreien vor Ort festgemacht werde. "Der Pfarrer, die Hauptamtlichen, die Kirchenmusik – all das ist den Menschen wichtig und schafft Bindung." Es sei nur folgerichtig, dass die Kirche darin investiere. In Deutschland habe es bislang nicht die Notwendigkeit dazu gegeben, da das pastorale Wirken durch die Kirchensteuereinnahmen über Jahrzehnte ungefragt finanziert wurde, selbst wenn die Menschen nicht mit der Situation zufrieden waren. In der katholischen Kirche in anderen Ländern, wie etwa den USA, oder in Freikirchen sei die finanzielle Situation von Spenden der Gläubigen abhängig: "Deshalb ist pastorale Evaluation dort eine Selbstverständlichkeit." In Deutschland sei dieses Feld bis vor kurzem jedoch kaum mit genügender Aufmerksamkeit beachtet worden.
Dabei hat die Wirkungsmessung als eine Form der Evaluation eine lange Geschichte in der Kirche. Bereits in den Büchern des Alten Testaments werden entsprechende Vorschriften genannt und auch bischöfliche Visitationen, wie sie aus der Kirchengeschichte bekannt und heute noch üblich sind, stellen eine Form der Evaluation dar. "Jedes Jahr werden zudem die Zahlen der Messbesucher in Deutschland erhoben", sagt Sellmann. Doch diese Werte müssten durch weitere empirische Erkenntnisse ergänzt werden.
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Als Ziel für die Seelsorge haben Sellmann, Zimmer und ihre Kollegen am zap Vitalitätskriterien ausgemacht. "Es gibt in der Kirche oftmals ein intuitives Verständnis dafür, was Pastoral erfolgreich macht", sagt die Soziologin. Doch auch dort könne man nicht auf objektive Kriterien verzichten. Auf welche Kennzeichen sich die Bischöfe stattdessen konzentrieren sollten, erläutert Sellmann anhand der vier sogenannten "Notae ecclesiae" des Glaubensbekenntnisses, der Beschreibung der Kirche als "eine, heilige, katholische und apostolische": "Das Adjektiv 'heilig' steht etwa für die Frage, ob Menschen dazu motiviert werden, ihre religiösen Werte als wertvolle Ressource zu erkennen und zu praktizieren." Die Fähigkeit, mit der Umwelt auf eine gute Weise in Kontakt zu sein, etwa durch das Auftreten in den Medien, gehöre zum Stichwort Katholizität. Diese Punkte seien nur einige Beispiele für die Evaluationsfragen innerhalb eines Projekts, die individuell angepasst werden könnten, so Zimmer. "Alle Inhalte der Erhebung sind soziologisch fundiert und theologisch qualifiziert."
Mit Hilfe ihres Vitalitätsansatzes untersucht Zimmer mit ihrem Team, wie gut die Kirche ihre Ziele erreicht und ihrem pastoralen Auftrag gerecht wird. "Dabei richtet sich unser Blick in einer großen Vielfalt auf Institutionen, Prozesse oder Kulturen innerhalb der Seelsorge." Das Interesse an pastoraler Evaluation in der Kirche steigt, was sich bei einem Kongress des zap zu diesem Thema im Oktober gezeigt hat, an dem etwa 100 Interessierte aus den Diözesen und Theologen teilnahmen. Daher plant die Bochumer Forschungseinrichtung nun ihre Arbeit in diesem Bereich zu verstärken: Der Aufbau eines entwickelten Evaluationsbetriebs ist im Gespräch.