Rabbiner Soussan: Habe kein Verständnis für Impfverweigerer
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Vom 28. November bis 6. Dezember feiern Juden dieses Jahr das Lichterfest "Chanukka". Für Julian-Chaim Soussan, den orthodoxen Rabbiner der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, zeigt das Fest, dass es im Judentum am Ende keine Tragödie ohne Lösung gebe, sondern immer einen Neuanfang. Chanukka zu feiern, bringe Licht und Wärme in die Welt, gerade in Pandemie-Zeiten, betont er. Und er erklärt, warum er nicht versteht, dass viele Menschen die Corona-Impfung ablehnen.
Frage: Sie stecken genauso wie wir alle in der Pandemie und wir stehen gerade vor wieder ansteigenden Inzidenzzahlen. Das ist ein bisschen beklemmend, wenn wir in Richtung Winter gucken. Wie kommt das bei Ihnen in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt an?
Soussan: Ich denke, das kommt so an, wie es überall ankommt: Man ist natürlich enttäuscht, vor allem diejenigen, die sich haben impfen lassen und das auch zweimal gemacht haben, dass man eben doch feststellt, dass der Schutz nicht so groß ist, wie man am Anfang gehofft hat. Aber nichtsdestotrotz ist, glaube ich, der Anteil derer, die bereit sind, sich dann aber auch boostern zu lassen und weiter auf die Impfung zu vertrauen, doch relativ hoch, vielleicht höher als insgesamt in der Bevölkerung.
Wir haben auch den einen oder anderen Arzt in der Gemeinde, der auch immer wieder in privaten Gesprächen nach den Gottesdiensten noch mal erklärt und aufklärt, ein bisschen Werbung dafür macht. Ich glaube, das hilft schon sehr. Ich selber bin schon zum dritten Mal geimpft als einer der frühen, weil ich auch mit vielen Menschen Kontakt habe. Ich kann es nur empfehlen. Ich würde mir wünschen, dass noch viel mehr Menschen es tun. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass der Virus irgendwann eben doch klein gehalten wird, vielleicht sogar ausstirbt, ist eben nur gegeben, wenn es eben möglichst viele Menschen tun. In der Vergangenheit hat es funktioniert mit anderen Krankheiten, also hoffentlich auch hier.
Frage: Sie sprechen von "Aufklärung". Das heißt, da geht auch das Medizinische mit dem Religiösen zusammen?
Soussan: Unbedingt. Das Judentum ist ja sehr affin, was Wissenschaft insgesamt, aber vor allen Dingen auch Medizin und Medizinethik angeht. Wir haben ja schon in der Tora ausdrücklich den Hinweis, dass wir bei Verletzungen Menschen heilen sollen. Also, Gott hat uns die Fähigkeit gegeben, Dingen auch wissenschaftlich – etwa bei Krankheiten – zu begegnen oder auch Verletzungen behandeln zu können. Also ist es geboten, das zu tun. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" beinhaltet eben auch, einander die beste medizinische Behandlung zukommen zu lassen. Warum sollten wir uns also verweigern? Gott hat uns die Fähigkeit gegeben und dann sollen wir diese gefälligst auch nutzen.
Frage: Wie reagieren Ihre Gemeindemitglieder auf solche Unsicherheiten? Können Sie da ein bisschen Sicherheit geben, auch beispielsweise durch Gottesdienste? Und werden die Gottesdienste gerade bei Ihnen auch wieder eingeschränkt?
Soussan: Die Gottesdienste im Judentum – das hat so eine mehrfache Problematik. Das eine ist: Aus orthodoxer Sicht dürfen wir am Schabbat keinen Strom aktiv nutzen. Also, wenn ein Licht schon seit Freitagabend an geblieben ist, dann ist das in Ordnung. Dann darf ich natürlich im Licht sitzen, aber ich darf es nicht an- oder ausmachen. Das heißt, ich kann auch nicht zoomen oder eben andere Mittel nutzen, um mich zu streamen beim Gottesdienst. Das heißt, es geht nur in der Anwesenheit. Bis auf den ersten Lockdown haben wir versucht, trotzdem Gottesdienste aufrechtzuerhalten und das dann eben mit Abständen, mit Maskenpflicht, zwischendurch haben wir nicht gesungen – also mit sehr starken Einschränkungen, um wirklich das Hygienekonzept beizubehalten.
Aber das wirkt sich natürlich trotzdem auch auf die Zahlen aus: Wir sind quantitativ sehr viel weniger als vor der Pandemie, aber nichtsdestotrotz haben wir Gottesdienste, die funktionieren. Seit kurzem haben wir die kleineren Synagogen wieder eröffnet, wo auch natürlich strenge Hygienemaßnahmen beibehalten werden. Aber man merkt, so ein bisschen ist es doch so: Die Leute sind immer vorsichtiger und die Zahlen gehen rapide bergab. Jetzt wird es wahrscheinlich noch mal ein bisschen verschärft, weil wir auch da sehen, jetzt wird es noch mal schlimmer. Da erwarte ich eigentlich auch, dass noch einmal weniger Menschen kommen werden. Und ich kann nur hoffen, dass es, wenn es dann hoffentlich bald vorbei ist, dass wir die Menschen auch daran gewöhnen, dass es wieder mit Gottesdienst gehen soll.
„Ich würde mir wünschen, dass noch viel mehr Menschen es tun. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass der Virus irgendwann eben doch klein gehalten wird, vielleicht sogar ausstirbt, ist eben nur gegeben, wenn es eben möglichst viele Menschen tun.“
Frage: Ich höre dabei heraus, dass es natürlich bei den Schabbat-Regeln auch keine Ausnahmen gibt in einer so katastrophalen Situation wie einem Lockdown oder der Corona-Pandemiesituation. Wäre es möglich, wenn man den Stream schon mal am Freitag anschalten würde, damit es Samstag gestreamt werden könnte und auch die Menschen, die nicht in die Synagoge kommen können, am Gottesdienst teilnehmen könnten?
Soussan: Es wird immer wieder über alle möglichen Alternativen gesprochen. Ich habe Kollegen, die machen tatsächlich Freitagabend einen Gottesdienst, bevor der Schabbat beginnt und streamen den dann auch, damit man so ein bisschen das Gefühl hat, dabei zu sein. Das ist natürlich dann schon technisch machbar. Was aber eben nicht geht, zumindest im orthodoxen Judentum, ist tatsächlich am Schabbat selber den Stream laufen zu lassen, um dann live parallel sozusagen zu Hause mitzuschauen. Da gibt es dann Prioritäten: Was ist wichtiger?
Es ist möglich, auch zu Hause zu beten – eingeschränkt, nicht mit all den Möglichkeiten, mit all den Gebeten, die man im Gottesdienst hat, wenn man ein Quorum von zehn Männern hat. Aber es ist eben möglich. Das heißt, lieber halte ich den Schabbat ein und habe ein eingeschränktes Gebet, als dass ich den Schabbat breche, um dann letztendlich durch diesen Bruch etwas zu erreichen, was dann gar nicht den Zweck erfüllt, nämlich das Gebot zu erfüllen, korrekt zu beten.
Frage: In ein paar Tagen steht ein jährlich wiederkehrendes nächstes jüdisches Fest an – Sie feiern acht Tage lang das Lichterfest Chanukka. Klappt das jetzt auch in Pandemie-Zeiten?
Soussan: Das ist natürlich auch ein bisschen anders als sonst. Gerade in der Schule, wo wir natürlich viele, viele Schulklassen haben und normalerweise in der Aula alle Schüler zusammenfassen. Auch da muss man schauen, dass wir dann in den Klassen feiern und dass wir auf dem Schulhof feiern. Hier in der Gemeinde werden wir das so handhaben, dass wir eine große Feier draußen machen werden, damit wir die Abstände einhalten können und auch da möglichst viele Hygieneregeln haben.
Aber gerade Chanukka ist natürlich ein schönes Fest, weil das Lichterfest in der Dunkelheit, in der dunkelsten Zeit im Winter auch immer darauf ausgerichtet ist, dass wir das Prinzip Hoffnung hochhalten und dass wir uns von der Dunkelheit auch nicht Angst machen lassen, sondern darauf hoffen, dass nicht nur am Ende des Tunnels Licht ist, sondern wir selber auch schon ein bisschen Licht in die Welt tragen.
Frage: Stärkt das, Licht in die Welt zu tragen, auch jetzt die Menschen in ihrer Zuversicht bezüglich der Pandemie?
Soussan: Ich hoffe schon. Das ist ja wirklich das Prinzip, dass wir nicht nur an Chanukka, aber besonders an Chanukka, sehen: Es ist wirklich das Fest der Hoffnung. Chanukka ist die Erinnerung daran, dass vor über 2200 Jahren assyrische Hellenisten – kurz sagt man einfach "die Griechen" – nach Israel kamen und den Juden verboten haben, ihre Religion auszuüben. Unter anderem wurde im Tempel eine Zeus-Statue aufgestellt. Die typisch jüdischen Gebete und Gebote wurden nicht mehr gehalten, sondern eben andere. Und nach einer Rebellion wurde das nach mehreren Jahren zurückerobert.
Schließlich wollte man auch den siebenarmigen Leuchter, die Menora, im Tempel wieder anzünden. Dafür braucht man aber ganz spezielles Öl, sozusagen mit dem "Koscher"-Stempel drauf. Man hat nur noch ein kleines Fässchen gefunden, ein Krüglein, wie man immer sagt. Das hätte eigentlich nur für einen Tag gereicht, es dauert aber acht Tage, neues Öl herzustellen. Und so ist ein Wunder geschehen. Man hat das am ersten Tag angezündet und es hat acht Tage gereicht – und dann hatte man neues Öl.
Und aufgrund dieser Erinnerung, dass man dieses Öl angezündet hat und dass das Öl für acht Tage gereicht hat, feiern wir heute Chanukka. Acht Tage lang wird also ein Kerzenständer auch normalerweise im Fenster, sodass man es von draußen sehen kann, angezündet. Jeden Tag ein Lichtlein mehr, sodass wir von eins bis acht gehen. Diese Kerzenständer haben aber neun Arme, weil eine Kerze dafür da ist, die anderen anzuzünden. Also ein neunarmiger Kerzenständer, weil acht Tage lang der siebenarmige Leuchter im Tempel gebrannt hat. Das ist die Grundidee.
Da steckt aber natürlich ganz viel drin: Zum einen, dass wir Licht in die Welt bringen, dass das Licht das Prinzip Hoffnung enthält. Aber da steckt noch was anderes drin, denn wir feiern ja an Chanukka, dass der Tempel wieder eingeweiht worden ist. Wir feiern sozusagen das jüdische Comeback, nachdem das Judentum komplett unterdrückt werden sollte. Und wir sagen: Nein, wir überleben das aber doch. Wir feiern, dass ein Ölkrüglein gefunden wurde. Warum ist dann noch eines übrig? Weil nach der Zerstörung doch immer etwas übrig ist, mit dem wir wieder neu aufbauen können.
Und schließlich gibt es eine großartige Diskussion im Talmud: Als dann nämlich knapp 200 Jahre später der Tempel wieder zerstört wurde, nämlich diesmal von den Römern, da gab es Rabbiner, die gesagt haben: Na gut, jetzt gibt es ja gar keinen Grund mehr, Chanukka zu feiern. Jetzt haben wir auch keinen Tempel mehr. Warum soll ich also die Wiedereinweihung des Tempels feiern, wenn der Tempel mittlerweile komplett zerstört worden ist? Und andere haben gesagt: Nein, wir feiern trotzdem noch Chanukka, weil Chanukka ja das Prinzip Hoffnung beinhaltet. Wir hoffen darauf, dass genau wie an Chanukka auch wir es wieder erleben werden, dass der Tempel wieder aufgebaut werden wird. Und wir haben die Hoffnung in die Zukunft.
Insofern wird Chanukka bis heute überall in der Welt gefeiert. Und das eigentliche Wunder von Chanukka, so sagen es einige meiner Kollegen und auch ich, besteht darin, dass wir überhaupt heute noch überall auf der Welt Chanukka feiern. Das ist das Symbol des jüdischen Überlebens, dass wir trotz der Katastrophen und der Tragödien, die uns in der Welt umgeben, nicht aufgeben.
Es gibt noch etwas ganz Nettes an Chanukka: Die assyrischen Hellenisten – oder kurz "die Griechen" – haben ja viel erfunden, die sind großartig. Die haben die Philosophie und die Mathematik revolutioniert. Und sie haben natürlich auch in der Literatur etwas geschaffen, eine neue Gattung sogar, die Tragödie beispielsweise. Das Interessante ist, dass genau dieser Aspekt es deutlich macht, gegen was das Judentum stand. Die Tragödie ist ja die Idee, dass der tragische Held gar keine Lösung hat, keine positive Lösung. Es gibt kein Happy End. Es ist nicht möglich, egal wie ich mich entscheide. Am Ende ist die Tragödie – und das Konzept gibt es eigentlich im Judentum nicht. Sogar auf Hebräisch, wenn wir übersetzen, heißt die Tragödie "Tragedia". Es ist also ein Import, sogar der Begriff wurde importiert.
Im Judentum gibt es natürlich tragische Momente, es gibt schreckliche Situationen, Katastrophen, die das Judentum begleitet haben. Aber es gibt nie ein Ende, das das Judentum beendet. Es gibt immer eine Hoffnung danach, es gibt immer ein "wieder neu". Das heißt, die Tragödie endet mit dem traurigen Ende. Das Judentum hört nie mit traurig auf. Sogar die Wochenabschnitte werden so eingeteilt. Selbst wenn es erst um die Sintflut geht, kommt dann noch was Gutes. Man hört immer mit was Positivem auf. Das ist für uns ganz wichtig, dass wir diese Idee von Hoffnung haben. Und das ist auch etwas, was wir im Laufe der Jahrhunderte immer wieder feststellen. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels zum Beispiel durch die Römer, da wurde der Talmud geschrieben. Nach den Pogromen im Mittelalter, da gab es jüdisch philosophisch-gesetzliche Werke, da gab es unglaublich schöne Gedichte, die wir bis heute im Gottesdienst nutzen. Also die Kreativität hat natürlich gelitten, aber sich auch wieder neu erfunden. Trotz all der Verfolgung, trotz der Katastrophen bis hin zu der Schoah. Drei Jahre später wurde der Staat Israel gegründet. Es ist also kein Ende. Das Traurige, das Bittere, die Katastrophe ist nicht das Ende, sondern es ist die Grundlage für den nächsten Neuanfang. Das ist für mich das Prinzip Hoffnung.
Frage: In diesem Jahr wird also vom 28. November bis 6. Dezember Chanukka gefeiert. Inwiefern ist es Ihnen wichtig, diese Symbolik – nach der Zerstörung ist immer noch etwas übrig – auch an andere Menschen, vielleicht nicht jüdisch-gläubige Menschen weiterzugeben? Sie sitzen als Mitglied im Beirat der Rabbinerkonferenz und sind auch da natürlich tätig in der Ökumene zu beispielsweise Katholiken und Protestanten in Deutschland. Wie viel Ökumene wünschen Sie sich da?
Soussan: Gerade Chanukka ist für mich sehr bedeutsam, wenn es darum geht, wie wir miteinander umgehen. Was nämlich die ersten sogenannten Griechen unter Alexander dem Großen noch verstanden haben, ist, dass wir leben und leben lassen. Also dass verschiedene Kulturen und auch verschiedene Arten, Religion zu praktizieren, zugelassen werden können, toleriert werden. In der Nachfolge, in der nächsten Generation, hat der Vertreter in Israel das verboten. Er hat gesagt: Ihr müsst alle so sein wie wir – und hat seine persönliche Sicht des Universalismus den Juden übergestülpt. Universalismus im Sinne von "Wir sind alle gleich, wir sind alle frei", und wenn wir alle gleich sind, dann dürft ihr nicht anders sein. Dann ist euer Individualismus nicht gern gesehen. Ihr dürft nicht extra sein, ihr habt nicht was anderes. Ihr müsst so sein wie alle.
Ich glaube, das ist etwas, was wir lernen müssen, weil das etwas ist, was wir immer wieder erlebt haben und was letztlich in allen Kulturen oder Ländern zur Ausgrenzung führt: Wir sind die Leitkultur; wir sind die, die es richtig machen; die anderen, die Fremden, die kommen rein, die wollen irgendwie was von uns wegnehmen und wir lassen das nicht zu. Gerade in den letzten Jahrzehnten haben wir gelernt, wie wichtig es ist, Multikulturelles, Multireligiöses nicht nur einfach zu erdulden. "Das mag ich eigentlich nicht, was der da macht oder sie da macht, aber naja, ich bin halt tolerant und dann ertrage ich das." – Die Welt besteht aus Unterschieden. Das ist ja das Schöne daran. Wer möchte schon in einem Orchester sitzen oder im Publikum vor einem Orchester, das nur aus Triangeln besteht? Oder wer macht eine Fußballmannschaft nur aus Torhütern? Der Unterschied, das ist ja das Großartige an uns: Weil wir anders sind, haben wir eine besondere Würde und die trägt dazu bei und das ist ja das Schöne an der Welt. Das ist das, was wir sicherlich auch miteinander verbinden können.
Auch die Chanukkia oder die Menora, also der Kerzenleuchter, ist ein Symbol dafür, dass eben die Kerzen jeweils einzeln brennen, aber insgesamt doch für mehr Licht und mehr Wärme sorgen. Also genauso wie wir jeder einzeln sind, anders und unterschiedlich, sind wir doch vielleicht gemeinsam in dem, was wir beabsichtigen, nämlich eben Licht und Wärme in die Welt zu bringen. Und das können wir natürlich weit über die Grenze der eigenen Religion und der eigenen Familie hinaus tun.
„Das Traurige, das Bittere, die Katastrophe ist nicht das Ende, sondern es ist die Grundlage für den nächsten Neuanfang. Das ist für mich das Prinzip Hoffnung.“
Frage: Nehmen Sie persönlich wahr, dass diese Anfeindungen zunehmen in Deutschland, vor allem bei Ihnen in Frankfurt?
Soussan: Es gab immer eine Dunkelziffer von Antisemitismus, die uns bekannt war. Sie ist immer wieder erhoben worden über verschiedene Statistiken. Was wir im letzten Jahrzehnt erleben, ist, dass der Antisemitismus wieder deutlicher in die Öffentlichkeit tritt. Das geschieht verbal, im Internet ist es natürlich ganz einfach, nicht nur anonym. Mittlerweile haben die Leute auch gar kein Problem damit, das auch mit eigenem Namen zu benennen und ihre verqueren Meinungen deutlich und öffentlich zu machen. Und diese geistigen Brandstifter, die das ja dann teilweise auch schon parteipolitisch tun, die tragen dazu bei, dass die Grenzen dessen, was ich tue als Antisemit, wieder verschwimmen. Und deshalb ist die Gewaltbereitschaft, glaube ich, am rechten Rand insbesondere noch einmal zusätzlich gestiegen.
Wir haben leider auch – und das muss man benennen, so sehr ich selbstverständlich auch dafür bin, dass wir Flüchtlinge ins Land holen oder lassen und ihnen helfen und Menschen in Not natürlich auch ein Heim geben müssen. Aber wir müssen auch mitdenken, dass Menschen aus Ländern kommen, wo Antisemitismus eine Selbstverständlichkeit ist, auch schon in der jugendlichen und kindlichen Erziehung. Dem müssen wir begegnen. Und wir haben einfach diese Realität, die dann auch wieder in der linken Szene oder auch in der Mitte-Links-Fraktion vorhanden ist, dass wir über die Israelkritik eigentlich einen versteckten Antisemitismus haben. Es wird immer deutlicher und spürbarer, dass dieser Antisemitismus von außen herangetragen immer mehr in die Mitte der Gesellschaft reicht. Und es gibt Dinge, die früher einfach tabu waren. Die darf man nicht sagen. In dem Moment, wo du das sagst, outest du dich als Antisemit. Wenn du dich als Antisemit outest, dann gehörst du auch nicht mehr in die Mitte der Gesellschaft. Da werden die Grenzen immer enger – und das macht uns schon auch Sorgen.
Es wird vielleicht nie möglich sein bis zum Ende der Zeit, wenn der Messias kommt, Antisemitismus ganz aus den Köpfen und Herzen aller Menschen zu bekommen. Aber ich würde mir wünschen, eine Zeit wie wir sie hatten bisher, dass nämlich die Menschen, die es wagen, das öffentlich zu machen, dass sie dann auch von der gesamten Gesellschaft deutlich geoutet und geächtet werden, damit man klar macht: Wir als Mehrheitsgesellschaft stehen genauso gegen den Antisemitismus, wie wir gegen sonstigen Fremdenhass und Rassismus und ähnliches stehen.
Frage: Wie kann ich das als Einzelperson, als Christin in diesem Fall tun? Wo sehen Sie da meine Aufgabe?
Soussan: Ich glaube, dass wir eine gesellschaftliche Aufgabe haben, die jeden einzelnen von uns betrifft und die immer und überall anwendbar ist. Das ist nicht nur auf den Antisemitismus beschränkt, sondern wir kennen alle die Stammtischgespräche, wir kennen alle die Aussagen: "Das wird man doch mal sagen dürfen ...". – Worauf ich übrigens sehr deutlich sage: Nein, das wird man nicht "mal sagen dürfen". Es gibt bestimmte Grenzen des Unsagbaren – und die sollte man nicht überschreiten, weil sie einfach nicht in Ordnung sind.
Es gibt Arten, wie man einen Staat kritisieren kann für bestimmte Dinge und die muss ich in ein Verhältnis setzen zu dem, wie ich das eigentlich mit anderen Staaten dann auch tue. Ist das nicht irgendwie überhandnehmend? Ich meine jetzt natürlich die etwas seltsame Israelkritik. Allein schon die Tatsache, dass es nur dieses Wort auf Israel bezogen gibt. "Israelkritik" als solches ist ein Wort, das ich auch googeln kann oder in sonstigen Suchmaschinen finde. Frankreichkritik oder so – das ist kein bestehender Begriff. Allein schon solche Dinge, einfach, dass sie mir auffallen, dass ich sie benenne und dass ich sage: Warum machst du das denn jetzt anders? Weil das ein jüdischer Staat ist? Oder warum machst du das anders? Weil es jüdische Menschen sind? Warum machst du es anders, wenn das Menschen aus Ländern sind, die eben nicht "zu uns gehören".
Ich glaube, dass wir da einfach deutlich machen müssen: Das möchte ich nicht hören. Ich brauche auch nicht irgendwelche lustigen Comic-Witze oder so, wenn sie Grenzen überschreiten und wenn sie menschenverachtend sind. Und da kann jeder, glaube ich, mit teilhaben. Ich muss nicht bei jedem lachen, wenn ich dann letztendlich auf Kosten von Menschen lache, die ausgegrenzt werden in dem Witz oder ähnliches. Ich glaube, da kann wirklich jeder dazu beitragen, dass wir das sind, worauf Deutschland stolz sein darf: Dass wir gelernt haben aus der Schoah, dass wir ein Selbstverständnis haben, dass wir unsere Kultur anderen nicht überstülpen wollen, dass wir offen sind, dass wir unsere Demokratie aber dann auch genauso wehrhaft verteidigen.
„Es gibt bestimmte Grenzen des Unsagbaren – und die sollte man nicht überschreiten, weil sie einfach nicht in Ordnung sind.“
Frage: In der Jüdischen Allgemeinen haben Sie ziemlich genau vor einem Jahr gesagt, dass Sie sehr zuversichtlich sind. Trotz Corona-Pandemie, trotz Masken, die wir tragen müssen und Impfungen, die auch uns weiterhin noch beschäftigen werden. Sind Sie weiterhin so zuversichtlich am aktuellen Zeitpunkt?
Soussan: Ich glaube, es geht uns allen so. Wir sind müde, wir sind genervt. Wir sind ein bisschen enttäuscht. Letztes Jahr um die gleiche Zeit hatten wir gehofft, dass sobald die Impfung kommt und sich dann auch alle oder ein sehr großer Teil impfen lässt, dass wir dann das Schlimmste überstanden haben. Das ist natürlich enttäuschend, dass es jetzt nicht so ist. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin am meisten enttäuscht tatsächlich von der großen Anzahl von Menschen, die sich nicht impfen lassen. Ich habe dafür ganz wenig Verständnis. Wir haben im letzten Jahrhundert so viele Krankheiten besiegt, die für millionenfachen Tod weltweit gesorgt haben: Ob das die Pocken waren oder Malaria oder etwas anderes.
Ehrlich gesagt glaube ich, dass das Internet eine große Rolle spielt: Menschen stecken in ihren Informationsblasen oder Desinformationsblasen, müsste man wohl besser sagen, die sich nicht impfen lassen wollen, die quer denken oder sonst irgendwelche Dinge vorhalten. Dass es so einen großen Anteil gibt von Menschen, die ungeimpft sind, die dazu beitragen, dass sich jetzt mittlerweile eben auch die Geimpften immer wieder neu anstecken können, das ist schon ein bisschen frustrierend.
Meine Zuversicht geht dahin, dass ich sage: Durchhalten! Wir müssen noch mehr Überzeugungsarbeit leisten. Wir müssen die Menschen mitnehmen, wir müssen vielleicht noch mehr Werbung machen. Ich hoffe, dass vielleicht auch in der Politik ein bisschen früher reagiert wird, geachtet wird. Das müsste eigentlich allen klar gewesen sein, dass sechs Monate nach sechs Monaten um sind. Das heißt, dass mit dem Boostern könnte noch schneller funktionieren und so weiter. Aber anstatt andere zu kritisieren, glaube ich auch, da sind wir immer alle mit gefordert, dass wir versuchen, noch mehr Überzeugungsarbeit zu leisten und zu sagen: Wir nehmen alle mit. Und dann hoffe ich doch, dass wir es schaffen und dass diejenigen, die sich nun wirklich nicht impfen lassen wollen, ach, die mögen doch einfach zu Hause bleiben, dann ist alles gut!
Frage: Wenn man Sie über das anstehende Chanukka-Fest sprechen hört oder auch jetzt über die Pandemie-Situation, steckt doch sehr viel Hoffnung darin. Was gibt Ihnen diese Hoffnung?
Soussan: Auf jeden Fall das Gottvertrauen. Religion ist dafür da. Insbesondere die jüdische Religion zumindest gibt uns ja vor, dass wir die Gebote mit Freude erfüllen sollen. Bestraft werden wir nur dann, wenn wir Dinge tun, wenn wir unglücklich sind oder wenn wir sagen: Na gut, dann mache ich das halt. Das ist die falsche Lebenseinstellung. Ich glaube, dass all das immer dazu beitragen muss, dass wir versuchen, uns zu verbessern. Wir müssen auch gar nicht in die Diskussionen gehen, ob wir was falsch gemacht haben oder "Ist das eine Strafe Gottes – oder nicht?", sondern jetzt in dieser Situation müssen wir uns fragen: Was kann ich tun? Was kann ich herausnehmen, was kann ich mitnehmen?
Wir hatten einen sehr schönen Austausch auf dem Kirchentag, wo wir eine Podiumsdiskussion hatten, auch mit Reaktionen der Religionen auf die Pandemie – und wir haben es genannt "Üb'-Er*Leben". Also dass wir das Leben üben in dieser Zeit und eben nicht nur überleben. Es geht nicht nur darum, es irgendwie herum zu bringen, sondern: Was können wir denn in dieser Zeit machen? Wir können noch mehr mit Familien vielleicht dann eben nicht in echt, sondern über Zoom und über Telefon und über andere Mittel Kontakt aufnehmen. Wir haben gesehen, dass es Menschen gibt, die alleine leben, um die wir uns noch mehr kümmern müssen. Wir haben erlebt, wie großartig andere sich einsetzen. Ich glaube, dass auch da wieder die Politik gefragt ist, dass wir gerade die Pflegekräfte, die jetzt so gefordert und mittlerweile überfordert sind, wo viele auch schon einfach aufgegeben haben, dass wir die viel mehr fördern und auch finanziell belohnen für das, was sie tun und dass sie für andere so viel Kraft einsetzen.
Das Schöne ist, dass wir als Menschen doch immer wieder aufeinander zurückgreifen können, auf unsere Kraft in uns, aber auch in den anderen, in der Begegnung mit den anderen. Das erlebe ich. Das erlebe ich leider auch in Distanz – leider im Sinne von "weil es eine Distanz sein muss". Aber ich erlebe es sogar, wenn ich am Bildschirm sitze und anderen Menschen in die Augen gucken kann. Dann ist das auch schon ein Trost. Und besser, man ist dabei gut gelaunt als schlecht gelaunt, denn das macht es auch nicht besser.